Sozialgericht Magdeburg – Beschluss vom 29.06.2022 – Az.: S 16 AY 19/22 ER

BESCHLUSS

In dem Rechtsstreit

xxx,

Prozessbevollm.:
Rechtsanwalt Sven Adam, Lange Geismarstraße 55, 37073 Göttingen

— Antragsteller —

gegen

Altmarkkreis Salzwedel, vertreten durch den Landrat,
Karl-Marx-Straße 32, 29410 Salzwedel

— Antragsgegner —

hat die 16. Kammer des Sozialgerichts Magdeburg am 29. Juni 2022 durch den Vorsitzenden, den Richter am Sozialgericht xxx, beschlossen:

1. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 16.05.2022 gegen den Bescheid vom 14.04.2022 (5053.003967) wird ab 16.05.2022 angeordnet.

2. Der Antragsgegner hat die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers zu erstatten.

GRÜNDE
I.

Die Parteien streiten im Wege des einstweiligen Anordnungsverfahrens über einen Bescheid des Antragsgegners vom 14.04.2022 (BI. 157 der Verwaltungsakte), durch welchen die dem Antragsteller durch Bescheid vom 04.01.2022 (BI. 139 der Verwaltungsakte) nach § 3 Asylbewerberleistungsgesetz bewilligten Leistungen auf solche nach § 1a Abs. 5 Asylbewerberleistungsgesetz beschränkt worden sind.

Grund für die Leistungskürzung war nach den Angaben im Bescheid vom 14.04.2022, dass der Antragsteller entgegen Aufforderungen der Ausländerbehörde des Antragsgegners seinen Mitwirkungspflichten hinsichtlich der Beschaffung von Reisedokumenten bislang nicht bzw. nicht in dem erforderlichen Umfang nachgekommen sein soll.

Der Antragsgegner hat den Antragsteller hierauf mit Schreiben vom 21.03.2022 (BI. 156 der Verwaltungsakte) sowie zu der beabsichtigten Leistungskürzung angehört.

Der Bescheid vom 14.04.2022 lautet wie folgt:

„Sehr geehrter Herr xxx,
unter Berücksichtigung Ihrer geänderten wirtschaftlichen bzw. persönlichen Verhältnisse habe ich die Leistungen für die nachfolgend aufgeführten Personen:
xxx
neu berechnet.
Nach dieser Berechnung haben Sie ab dem 01.04.2022 bis zum 30.09.2022 Anspruch auf eingeschränkte Leistungen nach § 1 a Abs. 5 AsylbLG:
ab dem Monat 4/2022: 163,00 €

Es folgt die Begründung.

Gegen diesen Bescheid hat der Antragsteller durch Schreiben seines jetzigen Prozessbevollmächtigten vom 16.05.2022 (BI. 161 der Verwaltungsakte) Widerspruch eingelegt und am selben Tag den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt mit dem Ziel, den Antragsgegner vorläufig und unter dem Vorbehalt der Rückforderung zu verpflichten, die beantragten Leistungen in gesetzlicher Höhe ab Eingang dieses Antrags bei Gericht zu gewähren.

Der Antragsteller hält die Regelung des § 1a Asylbewerberleistungsgesetz für verfassungswidrig und im Hinblick auf die Leistungskürzung von über 50 % mit Art. 1 GG nicht für vereinbar.

Darüber hinaus sei der ursprüngliche Bewilligungsbescheid vom 04.01.2022 durch den hier streitigen Bescheid vom 14.04.2022 nicht aufgehoben worden, was notwendig sei (vgl. Bayerisches LSG, Beschluss vom 19.03.2019, Az.: L 18 AY 12/19 B ER; Sozialgericht Kassel, Beschluss vom 08.07.2019, Az.: S 11 AY 9/19 ER).

Der Antragsteller beantragt,
den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, dem Antragsteller vorläufig und unter dem Vorbehalt der Rückforderung bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung über den Widerspruch des Antragstellers vom 16.05.2022 gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 14.04.2022 (Az.:5053.003967) unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts die beantragten Leistungen in gesetzlicher Höhe ab Eingang dieses Antrages bei Gericht zu gewähren.

Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag zurückzuweisen.

Mit Statusmitteilung vom 15. März 2022 habe die zuständige Ausländerbehörde mitgeteilt, dass der Tatbestand des § 1 a Absatz 3 AsylbLG vorliegen könnte, weil ein Verstoß gegen die Mitwirkungspflicht nach § 15 Absatz 2 AsylG vorliegen würde (Mitwirkung an der Passbeschaffung). Gleichzeitig ist der Antragssteller durch den Antragsgegner aufgefordert worden, sich zu der beabsichtigten Leistungskürzung aufgrund der fehlenden Mitwirkung an der Passbeschaffung bis zum 31. März 2022 zu äußern. Dieser Aufforderung sei der Antragssteiler nicht nachgekommen, woraufhin er mit Bescheid vom 14.04.2022 eingeschränkte Leistungen gemäß § 1 a AsylbLG für den Zeitraum ab dem 01.04.2022 erhalten habe. Gemäß § 14 Absatz 1 AsylbLG sei die Leistungseinschränkung auf die Dauer von sechs Monaten befristet. Eine Änderung in den die Leistungseinschränkung begründenden Tatsachen habe es während dieses Zeitraumes nicht gegeben.

Der Antragsteiler habe keinen Anspruch auf uneingeschränkte Leistungen nach dem AsylbLG, weil er gemäß § 1 a Absatz 5 Nummer 2 AsylbLG die entsprechenden Mitwirkungspflichten nicht erfüllt habe.

Soweit sich der Antragsteller auf die Entscheidung des Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen vom 04.12.2019 zu den verfassungswidrigen Regelungen in § 1 a AsylbLG beruft, schließe sich der Antragsgegner dieser Rechtsauffassung nicht an und halte an der Anwendbarkeit und der Verfassungsmäßigkeit der Rechtsauffassung der Regelungen des § 1 a AsylbLG fest.

Die Verwaltungsakte des Antragsgegners hat dem Gericht vorgelegen. Ihr Inhalt ist Gegenstand dieser Entscheidung. Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird im Übrigen auf den Inhalt der Gerichtsakte, insbesondere auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen.

II.

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig und jedenfalls ab Eingang des Antrags beim Sozialgericht Magdeburg am 16.05.2022 insoweit begründet, als dass die vom Antragsteller gewünschte Bewilligung von Leistungen gemäß § 3 Asylbewerberleistungsgesetz bereits durch die Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs vom 16.05.2022 erzielt wird.

Denn dann liegt der ursprüngliche Bewilligungsbescheid vom 04.01.2022 uneingeschränkt wieder auf.

Dem Interesse des Antragstellers auf Bewilligung von Leistungen gemäß § 3 Asylbewerberleistungsgesetz ist nämlich durch die vorläufige „Beseitigung” des die Leistungen einschränkenden Bescheides vom 14.04.2022 Rechnung getragen, weil dann der ursprüngliche Bewilligungsbescheid vom 04.01.2022, welche durch den Kürzungsbescheid nicht aufgehoben worden ist, zu beachten.

Das kann nur durch die Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs vom 16.05.2022 erreicht werden.

Das Gericht ist an den schriftsätzlich gestellten Antrag des Antragstellers nicht gebunden (§ 123 Sozialgerichtsgesetz — SGG). Sein Begehren kommt jedoch auch darin hinreichend deutlich zum Ausdruck.

Im Hinblick auf den begehrten Zweck ist die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs anzuordnen.

Gemäß § 86b Abs. 1 Nr. 2 SGG kann das Gericht auf Antrag in Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Das Begehren auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ist statthaft.

Nach § 39 Sozialgesetzbuch — Zweites Buch — Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) in Verbindung mit § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG haben Widerspruch und Anfechtungsklage gegen einen Verwaltungsakt, der über Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende entscheidet, keine aufschiebende Wirkung. Die Entscheidung der Antragsgegnerin sanktioniert den Antragsteller mit Kürzung des Anspruchs auf Arbeitslosengeld II nach § 31 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 b SGB II. Hierbei handelt es sich um eine Leistung der Grundsicherung für Arbeitsuchende gemäß § 1 Abs. 2 Nr. 2, § 19 S. 1 Nr. 1 SGB II.

Der Antrag ist begründet, weil das private Aufschubinteresse das öffentliche Interesse am sofortigen Vollzug überwiegt. Das private Aufschubinteresse überwiegt, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen oder wenn die Vollziehung für den Adressaten eine unbillige nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte. Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsaktes bestehen, wenn der Erfolg des Rechtsbehelfs wahrscheinlicher ist als der Misserfolg (Meyer-Ladewig, SGG, 8. Aufl., § 86a Rn. 27). Die Anforderungen an die Erfolgsaussichten sind umso geringer, je schwerer die Verwaltungsmaßnahme wirkt oder rückgängig gemacht werden kann (vgl. Binder in Hk-SGG, § 86b Rn. 13 ff.). Abzuwägen sind bei offenem Ausgang die Folgen, die eintreten würden, wenn die Eilentscheidung zugunsten des Antragstellers nicht erginge, die Klage aber später Erfolg hätte, mit denen die entstünden, wenn die begehrte Eilentscheidung erginge, die Klage aber erfolglos bliebe.

Es kann vorliegend dahinstehen, ob der Antragsteller tatsächlich einen Tatbestand, welche im Grunde eine Leistungskürzung gemäß § 1 Asylbewerberleistungsgesetz rechtfertigen würde, erfüllt hat. Hiervon ist nach dem gesamten Inhalt der Verwaltungsakte auszugehen; dies ist insbesondere auch deshalb, weil der Antragsteller weder in Verwaltungs- noch im gerichtlichen Verfahren irgendwelche Tatsachen vorgetragen hat, aus denen sich ergeben könnte, dass dieses nicht der Fall ist.

Ebenso kann dahinstehen, welche der widerstreitenden Meinungen zur Frage der Verfassungsgemäßheit der Regelung des § 1 Asylbewerberleistungsgesetz zutreffend ist. Das erkennende Gericht geht mit der Rechtsprechung des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt jedenfalls bisher davon aus, dass die Regelung bis zu einer anderweitigen Entscheidung durch das Bundesverfassungsgericht anwendbar ist.

Notwendige Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit des Bescheides vom 14.04.2022 wäre aber gewesen, dass der zuvor erlassene Bescheid vom 04.01.2022 jedenfalls mit Wirkung zum 31.03.2022 aufgehoben worden wäre.

Im Erlass des Kürzungsbescheides vom 14.04.2022 ist auch keine konkludente Aufhebung des ursprünglichen Bewilligungsbescheides zu sehen (vergleiche LSG Bayern, Beschluss vom 19.03.2019, L18 AY 12/19 B ER, Rn. 19). Denn in den Gründen des Bescheids vom 14.04.2022 wird die vorangegangene Bewilligungsentscheidung noch nicht einmal erwähnt. Vielmehr geht aus dem Gesamtzusammenhang und dem Inhalt der übersandten Verwaltungsakte hervor, dass der Antragsgegner beim Erlass dieses Bescheides den vorangegangenen Bescheid vom 04.01.2022 nicht im Blick hatte (vergleiche LSG Bayern, aaO).

Da der Antragsteller Leistungen erst ab Eingang des Antrags beim Sozialgericht Magdeburg am 16.05.2022 geltend gemacht hat, waren diese entsprechend zuzusprechen.

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist mit der Beschwerde anfechtbar, weil in der Hauptsache die Berufung wegen Überschreitens der Berufungssumme von € 750,00 zulässig wäre, §§ 172, 143, 144 SGG. Der Antragsteller macht für den Zeitraum 16.05.2022 bis 30.09.2022, entsprechend dem nach § 14 AsylbLG vom Antragsgegner gesetzten – und beschränkten – Kürzungszeitraumes, die Differenz zwischen zuvor nach § 3 AsylbLG bewilligten € 330,00 monatlich und den nach der Kürzung bewilligten Leistungen von monatlich € 163,00, mithin monatlich € 167,00, geltend. Insgesamt ist der Antragsgegner in Höhe von € 751,50 beschwert.

Es folgt die Rechtsmittelbelehrung.