Tacheles Rechtsprechungsticker KW 28/2022

1. Entscheidungen des Bundessozialgerichts zur Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem (SGB II)

1.1 – BSG, Urteil vom 29. März 2022 (B 4 AS 2/21.R):

Leitsatz Dr. Manfred Hammel
Der Begriff des Arbeitnehmers gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II in Verbindung mit § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU ist europarechtlich geprägt.

Außer Betracht bleibt hier die Ausübung von Tätigkeiten, die von einem derart geringen Umfang sind, dass sie sich als völlig untergeordnet oder unwesentlich darstellen.

Von maßgeblicher Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Arbeitszeit, der Inhalt der Tätigkeit, ein Bestehen einer besonderen Weisungsgebundenheit, der wirtschaftliche Wert der zu erbringenden Arbeitsleistung, die als Gegenleistung hierfür erhaltene Vergütung, die Ausgestaltung des Arbeitsvertrags sowie die Beschäftigungsdauer.

Eine Arbeitnehmereigenschaft kann nicht bejaht werden, wenn ein EU-Bürger im Bundesgebiet als Spülkraft mit einer monatlichen Bruttovergütung von lediglich EUR 100,- im Umfang von zehn Stunden im Monat, verteilt auf zwei Tage mit jeweils fünf Einsatzstunden, tätig ist.

Die Ausübung einer solchen Beschäftigung lässt nicht auf eine Eingliederung in den inländischen Arbeitsmarkt schließen.

Ggf. können hier Leistungen der Sozialhilfe nach der aus § 23 Abs. 3 Satz 6 SGB XII hervorgehenden Härteklausel bewilligt werden.

2. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II)

2.1 – LSG NRW, Urt. v. 05.05.2022 – L 19 AS 1736/21

Zum Anspruch auf Übernahme der Kosten für die Anschaffung und Installation eines Gasheizofens als einmaligen Bedarf i.S.v. § 22 Abs. 1 S.1 SGB II.

Die Aufwendungen für die Anschaffung und Installation eines neuen Gasheizofens sind nicht vom Regelbedarf i.S.v. § 20 Abs. 1 S. 1 SGB II umfasst.

Leitsatz Redakteur von Tacheles e. v.
Das Jobcenter muss die Kosten für die Anschaffung und Installation eines neuen Gasheizofens bezahlen, wenn die Vermieterin mietvertraglich nicht verpflichtet ist, einen gebrauchsfähigen Heizkörper zu Verfügung zu stellen, die Anschaffung zur Herstellung der Nutzbarkeit der Wohnung – entsprechend dem vorher bestehenden Zustands – erforderlich ist und die Kosten angemessen sind.

Orientierungssatz Redakteur von Tacheles e. V.
1. Es handelt sich um Kosten für die Heizung.

2. Einer der beiden von der Klägerin zur Beheizung der Wohnung genutzten Gasheizöfen konnte nicht mehr ordnungsgemäß genutzt werden und aufgrund seines Alters – ca. 48 Jahre – war er auch nicht mehr zu reparieren.

3. Die Vermieterin war mietvertraglich nicht verpflichtet, einen gebrauchsfähigen Heizkörper zu Verfügung zu stellen.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

Hinweis:
Jobcenter muss Hartz-IV-Empfänger (Azubi) den Gasofen bezahlen

weiter: www.derwesten.de

2.2 – LSG NRW, Beschluss v. 22.04.2022 – L 2 AS 385/22 B ER, L 2 AS 386/22 B

Übernahme der Stromschulden durch das JobCenter nur dann, wenn dadurch eine Sicherung der gegenwärtigen Unterkunft noch möglich wäre, hier nicht glaubhaft gemacht von der Antragstellerin.

Leitsatz Redakteur von Tacheles e. V.
1. Eine Schuldenübernahme ist nicht gerechtfertigt, wenn eine längerfristige Sicherung der Unterkunft nicht mehr zu erreichen ist.

2. Die Antragstellerin hat nicht glaubhaft gemacht, dass die Rechtswirkungen der fristlosen Kündigung vorliegend noch durch Befriedigung des Vermieters zu beseitigen sind.

3. Darlehensberechtigt sind nur die durch den Mietvertrag zivilrechtlich verpflichteten Personen (vgl. BSG, Urteil vom 18.11.2014, Az. B 4 AS 3/14 R).

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

2.3 – LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 12.05.2022 – L 2 AS 468/22 B ER

Angemessenheitsprüfung in Pandemie nur für sechs Monate ausgesetzt

Volltext dieses Beschlusses

2.4 – LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 11.05.2022 – L 18 AS 1632/21

Arbeitslosengeld II – Unterkunft und Heizung – Unterkunftsbedarf von Kindern bei Betreuung im Wechselmodell

Leitsatz Redakteur von Tacheles e. V.
Im Fall des hälftigen Wechselmodells bei der Kinderbetreuung haben die Kinder einen gleichwertigen Unterkunftsbedarf beim jeweiligen Elternteil und sind grundsicherungsrechtlich jeweils als weiteres Haushaltsmitglied zu berücksichtigen.

Orientierungshilfe Redakteur von Tacheles e. V.
Die KduH sind für minderjährige Kinder nicht nur für die Zeiten ihres tatsächlichen Aufenthalts in der Wohnung ihres Vaters zu gewähren (so aber LSG Berlin-Brandenburg vom 14. Oktober 2020 – L 32 AS 1255/18); vielmehr sind sie grundsicherungsrechtlich als weiteres Haushaltsmitglied mit der Folge zu berücksichtigen, dass bei ihnen ein kopfteiliger Bedarf in Höhe der hälftigen tatsächlichen Kosten anzuerkennen ist.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

Anmerkung:
Sehr gute Entscheidung

2.5 – LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 07.06.2022 – L 19 AS 342/22 NZB

Leitsätze
Eine Schulabschlussfeier kann nicht als Schulausflug nach § 28 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGB 2 verstanden werden. Unabhängig davon, ob die Feier auf dem Schulgelände stattfindet oder nicht, bestehe ein Anspruch auf Leistungen für Bildung und Teilhabe nach § 28 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGB 2 nicht.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

3. Entscheidungen der Sozialgerichte zur Grundsicherung nach dem (SGB II)

3.1 – Sozialgericht Detmold, Gerichtsbescheid vom 15. Juni 2022 (S 35 AS 520/21):

Leitsatz Dr. Manfred Hammel
Wenn ein Jobcenter nach der Gewährung eines Mietkautionsdarlehens entsprechend § 22 Abs. 8 Satz 4 SGB II den ihm von der Darlehensnehmerin unwiderruflich übertragenen Rückzahlungsanspruch aus diesem Darlehen dem Vermieter gegenüber nicht innerhalb der gesetzlichen Verjährungsfrist (§§ 195 und 199 Abs. 1 BGB) geltend macht, nachdem die Mieterin die betr. Wohnung kündigte, dann ist diese ehemalige Leistungsbezieherin nicht zur Rückzahlung dieser ihr gewährten Kautionsmittel verpflichtet.

Diese ehemalige Wohnungsnehmerin hatte innerhalb der gesetzlichen Verjährungsfrist nicht das Recht, eine diesbezügliche Forderung gegenüber diesem Wohnungsgeber zu erheben, weil diese Mieterin ihren Rückzahlungsanspruch unwiderruflich an das Jobcenter abtrat. Hiermit war diese Person nicht mehr Inhaberin dieser Forderung und damit auch nicht mehr aktivlegitimiert.

Bei solchen Gegebenheiten hat es als rechtsmissbräuchlich aufgefasst zu werden, wenn der SGB II-Träger diese ehemalige Leistungsbezieherin auf eine Rückzahlung dieser Darlehensmittel in Anspruch nimmt.

Durch die unwiderrufliche Abtretung dieses Rückzahlungsanspruchs war es dem Jobcenter gestattet, entsprechende Forderung dem ehemaligen Vermieter gegenüber zu erheben.

Selbst wenn der SGB II-Träger dieser Leistungsbezieherin diesen Anspruch zur eigenen Geltendmachung rückübertragen würde, stünde einer Geltendmachung dieser Forderung durch diese ehemalige Vermieterin wegen Zeitablaufs nach Beendigung des Mietverhältnisses die Einrede der Verjährung entgegen.

3.2 – SG Kassel, Urteil v. 12.05.2022 – S 4 AS 60/21 und S 4 AS 250/21

Grundsicherung SGB II- Umzugserforderlichkeit aufgrund Verkauf des Hauses – § 67 Abs. 3 SGB II umfasst auch Neuanmietungen

Leitsatz Redakteur von Tacheles e. V.
1. § 67 Abs. 3 SGB II umfasst auch Neuanmietungen.

2. Ein Umzug ist erforderlich, wenn die Hausverwaltung dem Hilfebedürftigem mitteilt, dass das Haus verkauft werden soll.

Orientierungshilfe Redakteur von Tacheles e. V.
Eine dahingehende Einschränkung, dass die 6-monatige Angemessenheitsfiktion nur für Bestandswohnungen gilt, ist dem Wortlaut der Vorschrift nicht zu entnehmen. Hierbei ist zu beachten, dass vorliegend nicht im Raum steht, dass tatsächlich unangemessene Kosten auf unabsehbare Zeit vom Job-center zu übernehmen sind, sondern es wird den Leistungsberechtigten im Ergebnis eine weitere 6-monatige Übergangsfrist gewährt, die zu der regelhaften Sechsmonatsfrist nach § 22 Abs. 1 S. 3 SGB II hinzutritt (§ 67 Abs.3 S. 2 SGB II).

Von einer Anwendung dieser Norm im Falle eines Umzuges geht offenbar auch das HLSG aus (Beschluss vom 21.2.2022 – L 6 AS 585/21 B ER; so auch LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 29.9.2020 – L 11 AS 508/20 B ER -; a.A.: Schleswig-Holsteinisches LSG, Beschluss vom 23.3.2022 – L 6 AS 28/22 B ER).

Quelle: RA Sven Adam

4. Entscheidungen der Landessozialgerichte zum Arbeitsförderungsrecht (SGB III)

4.1 – Sächsisches LSG, Urt. v. 09.06.2022 – L 3 AL 151/19

Leitsätze
1. Der Begriff der Arbeitslosigkeit und des Arbeitslosen in § 2 Abs. 3 Satz 1 der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie, aber auch in § 2 Abs. 3 Satz 2 der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie und § 2 Abs. 5 Satz 4 der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie (“Bei Arbeitslosen bezieht sich die Befragung […]”) ist nicht im Sinne des Arbeitslosigkeitsbegriffes in § 137 Abs. 1 Nr. 1 SGB III, § 138 Abs. 1 SGB III zu verstehen, sondern im Sinne der Beschäftigungslosigkeit nach § 138 Abs. 1 Nr. 1 SGB III.

2. Ein Anspruch auf Leistungsfortzahlung bei Arbeitsunfähigkeit setzt einen realisierbaren Anspruch auf Zahlung für die Zeit vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit voraus. Ein realisierbarer Anspruch auf Zahlung von Arbeitslosengeld ist nicht gegeben, wenn der Anspruch auf Arbeitslosengeld vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit wegen einer Urlaubsabgeltung ruht (Anschluss an BSG, Urteil vom 20. Februar 2002 – B 1 AL 59/01 R – ZfS 2002, 238 = juris Rdnr. 17).

3. Wenn im Einzelfall ein Leistungsanspruch weder nach den arbeitsförderungsrechtlichen noch nach den krankenversicherungsrechtlichen Regelungen besteht, ist eine Lösung für eine etwaige Sicherungslücke systemgerecht im Krankenversicherungssystem zu suchen.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

5. Entscheidungen der Sozialgerichte zur Sozialhilfe (SGB XII)

5.1 – SG Rostock, Urt. v. 28.06.2022 – S 8 SO 60/21

Angelegenheiten nach dem SGB XII einschließlich der Angelegenheiten nach Teil 2 SGB IX

Leitsatz
1. Nach § 75 Abs. 5 Satz 3 SGB XII in der bis zum 31.12.2019 geltenden Fassung bzw. § 76 a Abs. 3 SGB XII in der ab dem 01.01.2020 geltenden Fassung ist der Träger der Sozialhilfe zur Übernahme gesondert berechnete Investitionskosten nach § 82 Abs. 4 SGB XI nur verpflichtet, wenn die zuständige Landesbehörde ihre Zustimmung nach § 82 Abs. 3 Satz 3 SGB XI erteilt oder der Träger der Sozialhilfe mit dem Träger der Einrichtung eine entsprechende Vereinbarung nach dem Zehnten Kapitel des SGB XII über die gesondert berechneten Investitionskosten nach § 82 Abs. 4 SGB XI getroffen hat.

2. Nach § 7 Abs. 3 Satz 1 des Wohn- und Betreuungsvertragsgesetzes (WBVG) hat der Unternehmer das Entgelt sowie die Entgeltbestandteile für die Verbraucher nach einheitlichen Grundsätzen zu bemessen. Eine Differenzierung zwischen den auf Sozialhilfe angewiesenen Bewohnern und den Selbstzahlern ist danach grundsätzlich nicht zulässig.

3. Es liegt nach dem Sinn und Zweck der Norm und der systematischen Stellung nahe, § 7 Abs. 3 Satz 3 WBVG dahingehend auszulegen, dass eine Differenzierung der Entgelte und Entgeltbestandteile zwischen verschiedenen (z.B. selbstzahlenden und Sozialhilfe in Anspruch nehmenden) Verbrauchern ausnahmsweise nur dann zulässig ist, wenn gerade diese Differenzierung in einer Vergütungsvereinbarung nach dem Zehnten Kapitel des SGB XII über Investitionskostenbeträge oder gesondert berechenbare Investitionskosten ausdrücklich geregelt und zugelassen ist.

Quelle: www.landesrecht-mv.de

6. Entscheidungen zum Asylrecht und AsylbLG

6.1 – Sozialgericht Schleswig, Urteil vom 16. Juni 2022 (S 15 AY 113/19):

Leitsatz Dr. Manfred Hammel
Über die Einreichung eines Heil- und Kostenplans der behandelnden zahnmedizinischen Praxis über die unfallbedingt erforderliche Versorgung mit einer Ober- und Unterkieferprothese (Kosten: EUR 1.793,18) beim für die Bewilligung von Zahnersatz entsprechend § 4 Abs. 1 Satz 3 AsylbLG zuständigen öffentlichen Träger erlangt diese Behörde Kenntnis gemäß § 6b AsylbLG in Verbindung mit § 18 Abs. 1 SGB XII von diesem aus medizinischen Gründen unaufschiebbaren Bedarf zur Ermöglichung einer problemlosen Nahrungsaufnahme.

Aus dem Kenntnisnahmegrundsatz folgt ebenfalls, dass ein weitergehendes Zustimmungserfordernis des öffentlichen Trägers vor der Versorgung mit Zahnersatz nicht bestand.

Wenn diese unaufschiebbare zahnmedizinischen Behandlung nach der Einreichung des Heil- und Kostenplans, aber noch vor einer entsprechenden Äußerung des öffentlichen Trägers erfolgte, dann kann diese Dienststelle einem von der leistungsberechtigten Person verfolgten Kostenerstattungsverlangen nicht entgegenhalten, eine nachträgliche Übernahme der in diesem Rahmen entstandenen Aufwendungen käme nicht in Betracht.

Hinweis:
Zahnersatz nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) – dazu RA Dirk Audörsch

weiter: westkuestenanwalt.com

6.2 – Sozialgericht Magdeburg – Beschluss vom 29.06.2022 – Az.: S 16 AY 19/22 ER

Normen: § 1a Abs. 3 AsylbLG, § 86b Abs. 1 Nr. 2 SGG – Schlagworte: Leistungskürzung nach § 1a Abs. 3 AsylbLG, verfassungsrechtliche Bedenken hinsichtlich § 1a AsylbLG, ausgebliebene Aufhebung eines Ausgangsverwaltungsaktes, Sozialgericht Magdeburg

weiter bei RA Sven Adam

7. Verschiedenes zu Hartz IV, zur Sozialhilfe, zum Asylrecht, Wohngeldrecht und anderen Gesetzesbüchern

7.1 – Hartz IV: Zum Vorliegen einer Bedarfsgemeinschaft bei Partnern – Ein Beitrag von RA Helge Hildebrandt

weiter: sozialberatung-kiel.de

Verfasser des Rechtsprechungstickers: Redakteur von Tacheles Detlef Brock
Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker