URTEIL
13 D 78/18.EK
In dem Verwaltungsrechtsstreit
des
Herrn xxx,
Klägers,
Prozessbevollmächtigter:
Rechtsanwalt Sven Adam, Lange Geismarstraße 55, 37073 Göttingen,
gegen
das
Land Nordrhein-Westfalen,
vertreten durch die Präsidentin des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster,
Beklagten,
wegen Entschädigung wegen überlanger Verfahrensdauer
hat der 13. Senat
ohne mündliche Verhandlung
in der Sitzung vom 24. Juni 2022
durch
den Vorsitzenden Richter am Oberverwaltungsgericht xxx,
den Richter am Oberverwaltungsgericht xxx,
die Richterin am Verwaltungsgericht xxx,
den ehrenamtlichen Richter xxx,
den ehrenamtlichen Richter xxx
für Recht erkannt:
Der Beklagte wird verurteilt, dem Kläger eine Entschädigung wegen unangemessener Dauer der Verfahren VG Gelsenkirchen 17 K 3717/16 und OVG NRW 5 A 2807/19 in Höhe von 1.700 Euro zu zahlen.
Die Kosten des Verfahrens trägt der Beklagte.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
TATBESTAND
Der Kläger begehrt eine Entschädigung wegen überlanger Dauer eines erst- und zweitinstanzlichen Gerichtsverfahrens.
Am 4. Juni 2016 fand in den Dortmunder Stadtteilen Dorstfeld und Huckarde die von der Partei „Die RECHTE“ angemeldete Veranstaltung „8. Tag der Deutschen Zukunft – TddZ“ statt. In diesem Zusammenhang kam es gegen Mittag zu einer körperlichen Auseinandersetzung zwischen Polizeibeamten und einer größeren Gruppe von polizeilich dem linksextremen Lager zugeordneten Personen. In der Folge erteilten die Polizeibeamten 90 Personen dieser Gruppe, unter denen sich auch der Kläger befand, mündlich Platzverweise für das gesamte Dortmunder Stadtgebiet bis zum Ablauf des Tages. Hiergegen erhob der Kläger am 13. Dezember 2016 Fortsetzungsfeststellungsklage, die den Gegenstand des Ausgangsverfahrens (VG Gelsenkirchen 17 K 3717/16 und OVG NRW 5 A 2807/19), dessen Überlänge er rügt, bildet. Entsprechend verfuhren zwischen Juni und Dezember 2016 zehn weitere Betroffene.
Die vom Verwaltungsgericht mit Eingangsverfügung vom 15. Dezember 2016 erbetene Klageerwiderung nebst Übersendung der Verwaltungsvorgänge erfolgte am 22. Dezember 2016. In der Folge tauschten die Beteiligten weitere Schriftsätze aus. Der Kläger teilte unter dem 8. März 2017 mit, dass er eine weitere Stellungnahme auf den Schriftsatz des Beklagten vom 23. Februar 2017 für nicht erforderlich halte.
Unter dem 9. März 2018 fragte der Kläger nach dem Sachstand und rügte die Verzögerung des erstinstanzlichen Verfahrens. Das Verwaltungsgericht teilte daraufhin mit, dass ein konkreter Termin zur mündlichen Verhandlung noch nicht benannt werden könne. Im Dezernat des Berichterstatters seien noch ältere und gleichfalls dringliche Verfahren anhängig. Die Kammer strebe eine Entscheidung regelmäßig in der Reihenfolge des Klageeingangs an. Neben älteren Hauptsacheverfahren stünden zudem insbesondere kurzfristig zu entscheidende Ver-fahren des vorläufigen Rechtsschutzes, auch aus dem Asylverfahrensrecht, einer zeitnahen Terminplanung entgegen.
Der Kläger hat am 3. Oktober 2018 Klage auf Entschädigung wegen überlanger Dauer des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens erhoben. Der Senat hat das Verfahren mit Beschluss vom 8. Mai 2019 bis zum rechtskräftigen Abschluss des Ausgangsverfahrens ruhend gestellt.
In der mündlichen Verhandlung vom 4. Juni 2019 verband das Verwaltungsgericht das Verfahren des Klägers zusammen mit den zehn weiteren bei ihm anhängig gemachten Verfahren zur gemeinsamen Entscheidung und Verhandlung, führte sie unter dem Aktenzeichen 17 K 3717/16 fort und wies die Klage mit am 5. Juli 2019 zugestelltem Urteil mangels eines Fortsetzungsfeststellungsinteresses als unzulässig ab.
Der Kläger beantragte am 8. Juli 2019, die Berufung gegen das Urteil zuzulassen. Die Zulassungsbegründung erfolgte am 3. September 2019. Zur Begrün-dung berief sich der Kläger auf ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils, machte die grundsätzliche Bedeutung des Verfahrens geltend und rügte im Einzelnen näher benannte Verfahrensfehler.
Der Beklagte teilte am 21. Oktober 2019 – nachdem er zunächst um Fristverlängerung gebeten hatte – mit, dass er auf die Möglichkeit einer Stellungnahme verzichte.
Am 23. Dezember 2020 rügte der Kläger die Verzögerung des zweitinstanzlichen Verfahrens.
Das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen ließ die Berufung mit Beschluss vom 22. April 2021 wegen besonderer tatsächlicher und rechtlicher Schwierigkeiten zu. Zur Begründung führte es aus, dass im Berufungsverfahren zu klären sein werde, welche Anforderungen an die Geltendmachung eines Fortsetzungsfeststellungsinteresses für den Fall eines sich kurzfristig erledigenden Grundrechtseingriffs zu stellen seien und ob der Beklagte den Klägern einen Platzverweis für das gesamte Stadtgebiet Dortmund habe erteilen können.
Zur Berufungsbegründung verwies der Kläger sodann unter dem 26. April 2021 auf seine Ausführungen aus dem Zulassungsantrag. Der Beklagte beantragte am 31. Mai 2021, die Berufung zurückzuweisen. Auf entsprechende Anfrage des Oberverwaltungsgerichts erklärten sich die Beteiligten am 8. bzw. 16. Juli 2021 mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden. Der Kläger nahm die Möglichkeit zur abschließenden Stellungnahme am 24. August 2021 wahr.
Mit Urteil vom 27. September 2021, zugestellt am 1. Oktober 2021, stellte das Oberverwaltungsgericht unter Abänderung der erstinstanzlichen Entscheidung fest, dass der Platzverweis vom 4. Juni 2016 rechtswidrig gewesen ist. Zur Begründung führte es aus, dass die Klagen zulässig seien. Die Kläger hätten entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse wegen einer sich regelmäßig zeitnah erledigenden Maßnahme. Die Klagen seien auch begründet, da die von den Polizeibeamten den Klägern erteilten Platzverweise rechtswidrig gewesen seien. Der Begriff des Ortes in § 34 Abs. 1 Satz 1 PolG NRW sei dahingehend auszulegen, dass ein hierauf gestützter Platzverweis nicht das Gebiet einer gesamten Gemeinde umfassen könne.
Der Kläger beantragte am 1. November 2021 die Wiederaufnahme des ruhend gestellten Entschädigungsverfahrens. Zur Begründung seiner Entschädigungs-klage trägt er im Wesentlichen vor, dass das Verwaltungsgericht ab dem 9. März 2018 bis zum 25. April 2019, mithin 13 Monate lang, untätig gewesen sei. Die Untätigkeit in der zweiten Instanz betrage vier Monate. Bei der danach geltend gemachten 17-monatigen unangemessenen Verfahrensdauer genüge keine Wiedergutmachung durch Feststellung der Verzögerung. Seine Position sei durch die Entscheidung verbessert worden. Es müsse nun nicht mehr befürchtet werden, aufgrund einer ähnlichen Fallgestaltung in Nordrhein-Westfalen ein Aufenthaltsverbot für ein gesamtes Stadtgebiet zu erhalten und hierdurch das Versammlungsrecht nicht mehr in Anspruch nehmen zu können. Die besondere Bedeutung der Entscheidung zeige sich auch darin, dass sie von der Justiz des Landes Nordrhein-Westfalen veröffentlicht und in der Literatur vielfach besprochen worden sei. Entschädigungsausschließend wirke auch nicht der Zeitpunkt der Klage-erhebung, da diese binnen Jahresfrist und somit auch noch deutlich später als vorliegend geschehen hätte erhoben werden können.
Der Kläger beantragt schriftsätzlich,
den Beklagten zu verurteilen, ihm 1.700 Euro zu zahlen.
Der Beklagte beantragt schriftsätzlich,
die Klage abzuweisen.
Er trägt vor, dass eine Verzögerung des Ausgangsverfahrens in erheblichem Maße auf der starken Belastung der im Ausgangsverfahren zuständigen Kammer mit asylrechtlichen Verfahren beruht habe. Hierbei handele es sich um außergewöhnliche Umstände, deren Bewältigung eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe darstelle und dem Einzelnen insoweit auch das Solidaropfer einer längeren, entschädigungslosen Verfahrenslaufzeit abverlangen müsse. Dies müsse jedenfalls dann gelten, wenn – wie hier – über die bloße Verzögerung hinausgehende Nachteile nicht vorgetragen würden; andernfalls würde jedes Anhängigmachen eines Verwaltungsrechtsstreits in Zeiten starker Belastung einen Anspruch auf Entschädigung herbeiführen. Jedenfalls sei aber eine Wiedergutmachung auf andere Weise ausreichend. Die Beeinträchtigung des Klägers erschöpfe sich – mangels weitergehenden Vortrags – in einer (etwaigen) Überlänge des Ausgangsverfahrens. Auch das prozessuale Verhalten des Klägers im Ausgangsverfahren zeige, dass das Verfahren für ihn selbst keine besondere Dringlichkeit aufgewiesen habe. Denn er habe erst ein halbes Jahr nach dem Platzverweis Klage erhoben. Zudem sei der hohe Schwierigkeitsgrad der Sache zu beachten, da bislang offene Rechtsfragen geklärt worden seien.
Die Beteiligten haben auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte dieses Verfahrens und der Verfahren des Verwaltungsgericht Gelsen-kirchen (vor der Verbindung 17 K 8794/16 und danach 17 K 3717/16) sowie des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen (5 A 2807/19) Bezug genommen.
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE
Im Einverständnis der Beteiligten entscheidet der Senat gemäß § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung.
Die zulässige Klage ist begründet.
Der Kläger hat einen Anspruch auf Ausgleich seines immateriellen Nachteils wegen unangemessener Dauer der Gerichtsverfahren 17 K 3717/16 vor dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen und 5 A 2807/19 vor dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Höhe der eingeklagten 1.700 Euro.
Der Anspruch auf Entschädigung folgt aus § 198 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. Abs. 2 GVG. Diese Regelungen sind im Verwaltungsprozess gemäß § 173 Satz 2 VwGO entsprechend anwendbar. Nach § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG wird angemessen entschädigt, wer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet. Der durch eine unangemessene Verfahrensdauer eingetretene immaterielle Nachteil ist nach Maßgabe des § 198 Abs. 2 GVG zu entschädigen. Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Die Dauer der von dem Kläger in Bezug genommenen Gerichtsverfahren vor dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen und dem Oberverwaltungsgericht war im Umfang von 27 Monaten unangemessen (I.). Der Anspruch auf Entschädigung ist nicht für den vor der Erhebung der Verzögerungsrüge liegenden Zeitraum ausgeschlossen (II.). Der Kläger hat durch die Verzögerung einen immateriellen Nachteil erlitten, der antragsgemäß mit einem Betrag von 1.700 Euro zu entschädigen ist (III.).
I. Die Dauer des Gerichtsverfahrens von der Klageerhebung am 13. Dezember 2016 bis zur Übermittlung des Berufungsurteils des Oberverwaltungsgerichts vom 27. September 2021, das war am 1. Oktober 2021,
vgl. zur Maßgeblichkeit dieses Zeitpunkts OVG NRW, Urteil vom 28. September 2015 – 13 D 27/14 -, juris, Rn. 44,
war bei der gebotenen Gesamtbetrachtung beider Instanzen,
vgl. BVerwG, Urteile vom 27. Februar 2014 – 5 C 1.13 D -, juris, Rn. 11 f., und vom 11. Juli 2013 – 5 C 23.12 D -, juris, Rn. 16 f.; OVG NRW, Urteil vom 10. Februar 2017 – 13 D 75/15 -, juris, Rn. 14,
im Umfang von 27 Monaten unangemessen im Sinne von § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG.
Ob die Dauer eines Gerichtsverfahrens unangemessen im Sinne von § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG ist, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens sowie dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter (§ 198 Abs. 1 Satz 2 GVG). Damit sind schematische zeitliche Vorgaben für die Angemessenheit ausgeschlossen. Bei der notwendigen Einzelfallbetrachtung ist die Verfahrensdauer unangemessen im Sinne von § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG, wenn eine insbesondere, aber nicht zwingend nur an den Merkmalen des § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG ausgerichtete Gewichtung und Abwägung aller bedeutsamen Umstände des Einzelfalls ergibt, dass die aus konventions- und verfassungsrechtlichen Normen folgende Verpflichtung des Staates, Gerichtsverfahren in angemessener Zeit zum Abschluss zu bringen, verletzt ist.
Vgl. zu den Maßstäben im Einzelnen BVerwG, Urteil vom 11. Juli 2013 – 5 C 23.12 D -, juris, Rn. 26 ff., m. w. N.; OVG NRW, Urteile vom 28. September 2015 – 13 D 27/14, 13 D 116 /14, 13 D 117/14, 13 D 11/15, 13 D 12/15 -, jeweils juris.
Unter Berücksichtigung der maßgeblichen Umstände (1.) war die Verfahrensdauer sowohl beim Verwaltungsgericht (2.) als auch beim Oberverwaltungsgericht unangemessen (3.).
1. § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG benennt als Kriterien für die Angemessenheit der Verfahrensdauer ausdrücklich die Schwierigkeit (a) und Bedeutung des Verfahrens (b) und das Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter (c).
a. Die Schwierigkeit eines Verfahrens hängt vom zugrunde liegenden Sachverhalt, der Rechtslage und den konkreten Umständen eines Verfahrens ab. Tatsächliche Schwierigkeiten können sich unter anderem aus dem Umfang des Falls sowie der Beteiligung mehrerer Verfahrensbeteiligter ergeben. Rechtliche Schwierigkeiten können beispielsweise darauf beruhen, dass die Entscheidung von bisher ungeklärten komplizierten Rechtsfragen abhängt.
Vgl. Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren, 1. Aufl. 2013, § 198 GVG, Rn. 103 ff., m. w. N.; Stahnecker, Entschädigung bei überlangen Gerichtsverfahren, S. 13, Rn. 38 ff.
Danach waren sowohl das erstinstanzliche als auch das zweitinstanzliche Verfahren zumindest in rechtlicher Hinsicht überdurchschnittlich schwierig. Es waren komplexe, zum Teil noch ungeklärte Rechtsfragen zu beantworten. Wenngleich es auf die Frage, ob ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse für den Fall eines sich kurzfristig erledigenden Grundrechtseingriffs an einen tiefgreifenden Grundrechtseingriff gebunden ist, letztlich nicht ankam,
vgl. im Ausgangsverfahren OVG NRW, Urteil vom 27. September 2021 – 5 A 2807/19 -, juris, Rn. 60,
blieb materiell-rechtlich die bis dahin obergerichtlich noch nicht geklärte Frage zu beantworten, ob der Begriff des Ortes in § 34 Abs. 1 Satz 1 PolG NRW das Gebiet einer gesamten Gemeinde umfassen kann (juris, Rn. 69 ff.).
b. Das Verfahren war für den Kläger von durchschnittlicher Bedeutung. Die Bedeutung der Sache ist in einer objektivierten Weise zu bestimmen. Sie ist zu bemessen aus der Sicht eines verständigen Verfahrensbeteiligten. Bloße subjektive Einschätzungen von Betroffenen müssen daher außer Betracht bleiben.
Vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 14. April 2021 – 13 F 73/20 -, juris, Rn. 51; Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren, 1. Aufl. 2013, § 198 GVG, Rn. 109, m. w. N.
Als besonders bedeutsam sind danach Verfahren einzuordnen, die für die wirtschaftliche, berufliche oder persönliche Existenz eines Beteiligten von maßgeblicher Bedeutung sind. Beteiligte können aus diesem Grunde ein gerechtfertigtes Interesse an einem schnellen Ausgang des Verfahrens haben.
Vgl. BVerwG, Anerkenntnisurteil vom 17. August 2017 – 5 A 2.17 D -, juris, Rn. 29; Bay. VGH, Urteile vom 13. Juni 2019 – 24 A 18.2049 -, juris, Rn. 33, und vom 10. Dezember 2015 – 23 A 14.2252 -, juris, Rn. 44, jeweils m. w. N.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte nimmt eine besondere Bedeutung des Verfahrens an, wenn es um Eingriffe in die persönliche Freiheit oder die Gesundheit von Betroffenen, um die Klärung finanzieller Existenzfragen etwa in Versorgungsangelegenheiten oder um Eltern-Kind-Beziehungen geht.
Vgl. Steinbeiß-Winkelmann, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren, 1. Aufl. 2013, Teil I Einführung, Rn. 33.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gehören beispielsweise Verfahren, bei denen dem Grunde oder der Höhe nach um Fürsorgeleistungen gestritten wird, zu den Rechtsangelegenheiten, die wegen ihrer Natur und ihrer Bedeutung für die Betroffenen besonders zu fördern sind. Eine besondere Bedeutung für den Betroffenen ist auch bei Rechtsstreitigkeiten anzunehmen, die zwar nicht die Sicherung des Existenzminimums betreffen, sondern Sozialleistungen, auf die der Betroffene zur Sicherung seines laufenden Lebensunterhalts angewiesen ist.
Vgl. BVerfG, Beschluss vom 8. Oktober 2014 – 1 BvR 2186/14 -, juris, Rn. 8.
Auch Verfahren über das Sorge- oder Umgangsrecht für Kinder, Verfahren über den Personenstand und die Geschäftsfähigkeit oder Arbeitssachen bedürfen einer besonderen Beschleunigung.
Vgl. Althammer/Schäuble: Effektiver Rechtsschutz bei überlanger Verfahrensdauer – Das neue Gesetz aus zivilrechtlicher Perspektive, in: NJW 2012, 1 (2), m. w. N.
Orientiert an diesen Fallgruppen schätzt der Senat die objektive Bedeutung des Ausgangsverfahrens für den Kläger als durchschnittlich ein. Zwar war der angegriffene Platzverweis im Zeitpunkt der Klageerhebung bereits erledigt, ohne dass der Kläger mit einer hinreichend konkreten Wiederholungsgefahr zu rechnen brauchte.
Vgl. im Ausgangsverfahren OVG NRW, Urteil vom 27. Februar 2021 – 5 A 2807/19 -, juris, Rn. 33 ff.
Gleichwohl ging es in dem Verfahren um Fragen im Zusammenhang mit der Reichweite von polizeilichen Eingriffsbefugnissen, die nicht nur für den Kläger, dem mit Blick auf Art. 19 Abs. 4 GG ein Fortsetzungsfeststellunginteresse zukam, sondern auch für die Allgemeinheit bedeutsam waren.
Vgl. zur Berücksichtigung dieses Gerichtspunkts Steinbeiß-Winkelmann, in: Steinbeiß-Winkel-mann/Ott, Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren, 1. Aufl. 2013, § 198 GVG Rn. 108.
Hierfür spricht allein die Anzahl von ca. 90 Personen, die wie der Kläger von gleichartigen Platzverweisen betroffen waren. Dass das Ausgangsverfahren aber einer besonderen Beschleunigung bedurft hätte, hat der Kläger weder im Ausgangsverfahren noch im Entschädigungsverfahren hinreichend geltend gemacht. Dies ist auch sonst nicht erkennbar.
c. Das Verhalten der Beteiligten war nicht mitursächlich für die Verfahrensdauer.
aa. Insbesondere hat der Kläger nicht zur Verzögerung des Verfahrens beigetragen.
Bei der Prüfung der Angemessenheit der Verfahrensdauer ist gemäß § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG zu Lasten eines Verfahrensbeteiligten grundsätzlich nur ein Verhalten zu berücksichtigen, durch das eine Verzögerung herbeigeführt wird. In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist geklärt, dass die Verfahrensbeteiligten, abgesehen insbesondere von der Obliegenheit zur Erhebung der Verzögerungsrüge, grundsätzlich nicht verpflichtet sind, aktiv darauf hinzuarbeiten, dass das Gericht das Verfahren in angemessener Zeit zum Abschluss bringt. Daher kann ihnen eine Passivität bei der im Rahmen der Ermittlung der angemessenen Dauer eines Gerichtsverfahrens erforderlichen Prüfung, ob die Verfahrensbeteiligten durch ihr Verhalten eine Verzögerung des Rechtsstreits bewirkt haben, nicht angelastet werden. Die Verpflichtung des Gerichts, das Verfahren in angemessener Zeit zum Abschluss zu bringen, ergibt sich unmittelbar aus der dem Staat obliegenden Justizgewährleistungspflicht, aus dem Gebot des effektiven Rechtsschutzes und aus Art. 6 Abs. 1 EMRK. Ein Unterlassen der Förderung des Verfahrens führt nur dann zu einer einem Verfahrensbeteiligten anzulasten-den Verzögerung, wenn eine entsprechende Rechtspflicht bestand.
Vgl. BVerwG, Urteil vom 29. Februar 2016 – 5 C 31.15 D -, juris, Rn. 21.
Das ist hier nicht der Fall. Dem Kläger gereicht es nicht zum Nachteil, dass er sich im erstinstanzlichen Verfahren rein passiv verhalten und nicht durch wiederholte Sachstandsanfragen oder sonstige Aufforderungen auf eine frühere Beschleunigung hingewirkt hat. Es bestand keine Rechtspflicht für den Kläger, die Verzögerungsrügen bereits früher zu erheben. Das Gesetz legt gerade keinen Zeitpunkt fest, zu dem die Rüge spätestens erhoben sein muss.
Vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 14. April 2021 – 13 F 73/20 -, juris, Rn. 54; OVG NRW, Urteil vom 10. Februar 2017 – 13 D 36/16 -, juris, Rn. 48, m. w. N.; Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren, 1. Aufl. 2013, § 198 GVG, Rn. 194 ff., m. w. N.
bb. Auch der Beklagte hat nicht zur Verzögerung des Verfahrens beigetragen. Anlass zu einer abweichenden Beurteilung bietet insbesondere nicht der Fristverlängerungsantrag des Beklagten vom 16. Oktober 2021, da er – trotz der gewährten Fristverlängerung – bereits am 21. Oktober 2019 mitteilte, dass er auf die Möglichkeit zur Stellungnahme verzichte.
2. Unter Berücksichtigung dieser Gesichtspunkte ergibt sich hier bei der gebotenen Gesamtabwägung eine unangemessene Dauer des Verfahrens in der ersten Instanz im Umfang von fünfzehn Monaten.
Die Klage war entscheidungsreif, nachdem der Kläger unter dem 8. März 2017 mitgeteilt hatte, dass keine Stellungnahme auf den letzten Schriftsatz des Beklagten erfolgen werde. Der Sachverhalt war zu diesem Zeitpunkt in tatsächlicher Hinsicht ausreichend aufbereitet und den Beteiligten war in hinreichender Weise rechtliches Gehör gewährt worden.
Im vorliegenden Fall erscheint es angemessen, dem Verwaltungsgericht ab diesem Zeitpunkt einen (Gestaltungs-)Zeitraum von zehn Monaten für seine Entscheidung zuzugestehen, wann und wie es das Verfahren im Sinne eines Hinwirkens auf eine Erledigung des Prozesses fördert. Dies trägt dem Umstand Rechnung, dass – auch vor dem Hintergrund der verfassungsrechtlich gewährten richterlichen Unabhängigkeit (Art. 97 Abs. 1 GG) – die Verfahrensgestaltung in erster Linie dem mit der Sache befassten Gericht obliegt und ihm hinsichtlich der Entscheidung, wann und wie es eine bestimmte Sache in Abstimmung mit anderen bei ihm anhängigen Sachen terminiert oder sonst fördert, ein Spielraum zusteht. Der (Gestaltungs-)Zeitraum berücksichtigt weiter, dass das Gericht vor einer verfahrensfördernden Handlung oder Entscheidung zur Sache Zeit zur rechtlichen Durchdringung benötigt, um dem rechtsstaatlichen Anliegen zu genügen, eine grundsätzlich umfassende tatsächliche und rechtliche Prüfung des Streitgegenstandes vorzunehmen. Der ab Eintritt der Entscheidungsreife zugestandene Zeitraum ist im Einzelfall in Relation zu den in § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG benannten Kriterien zu bestimmen. Maßgeblich ist insoweit – genauso wie hinsichtlich der in § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG aufgeführten Umstände – wie die Gerichte im Ausgangsverfahren die Lage aus ihrer ex-ante-Sicht einschätzen durften.
Vgl. BVerwG, Urteil vom 29. Februar 2016 – 5 C 31.15 D -, juris, Rn. 24, m. w. N.; Nds. OVG, Beschluss vom 14. April 2021 – 13 F 73/20 -, juris, Rn. 48.
Die Gestaltungsfreiheit des Gerichts wird in zeitlicher Hinsicht begrenzt durch den Zeitpunkt, ab dem ein (weiteres) Zuwarten auf eine verfahrensfördernde Entscheidung bzw. Handlung des Gerichts im Hinblick auf die subjektive Rechtsposition des Betroffenen auf eine angemessene Verfahrensdauer nicht mehr vertretbar ist, weil sich die (weitere) Verzögerung bei Gewichtung und Abwägung aller bedeutsamen Umstände des Einzelfalls als sachlich nicht mehr gerechtfertigt und damit als unverhältnismäßig darstellt. Es ist nicht mit dem Zeitpunkt gleichzusetzen, bis zu dem von einer “optimalen Verfahrensführung” des Gerichts auszugehen ist. Entschädigungsrechtlich relevant sind nur die nach Ablauf des Gestaltungszeitraums auf die Verfahrensführung des Gerichts zurückzuführenden Verzögerungen. Denn zur Begründung des Entschädigungsanspruchs reicht nicht jede Abweichung von der optimalen Verfahrensführung aus. Vielmehr setzt der Entschädigungsanspruch aus § 198 Abs. 1 GVG voraus, dass der Beteiligte durch die Länge des Gerichtsverfahrens in seinem Grund- und Menschenrecht auf Entscheidung eines gerichtlichen Verfahrens in angemessener Zeit beeinträchtigt worden ist, was eine gewisse Schwere der Belastung erfordert.
Vgl. BVerwG, Urteil vom 29. Februar 2016 – 5 C 31.15 D -, juris, Rn. 24, m. w. N.
In Anwendung dieser rechtlichen Maßstäbe ist hier bei der Bemessung des gerichtlichen Gestaltungsspielraums zu berücksichtigen, dass das Ausgangsverfahren in rechtlicher Hinsicht überdurchschnittlich schwierig war, es für den Kläger durchschnittlich bedeutsam gewesen ist und die Verfahrensbeteiligten nicht durch ihr Verhalten zu einer Verfahrensverzögerung beigetragen haben. Angesichts dessen war die fehlende Bearbeitung bzw. Förderung des Verfahrens durch das Verwaltungsgericht nach Ablauf von zehn Monaten Untätigkeit nach Entscheidungsreife, also Anfang Januar 2018, nicht mehr gerechtfertigt.
Vgl. BVerwG, Urteile vom 26. Februar 2015 – 5 C 5.14 D -, juris, Rn. 29 ff., dort wurde in einem einfach gelagerten und für den Kläger wenig bedeutsamen Verfahren ein Gestaltungsspielraum von neun Monaten angenommen, und vom 29. Februar 2016 – 5 C 31.15 D -, juris, Rn. 26, wo ein zehnmonatiger Gestaltungsspielraum in einem Ausgangsverfahren angenommen wurde, das (allenfalls) einen durchschnittlichen Schwierigkeitsgrad aufwies, seine Bedeutung für die Klägerin mehr als durchschnittlich, aber nicht wesentlich war und die Klägerin nicht durch ihr Verhalten zu einer Verfahrensverzögerung beigetragen hatte.
Hier wurde das Verfahren erst durch Ladung vom 25. April 2019 zur mündlichen Verhandlung wieder gefördert, so dass sich für das erstinstanzliche Verfahren eine unangemessene Verfahrensdauer von mehr als fünfzehn Monaten ergibt.
Anlass zu einer abweichenden Beurteilung gibt entgegen der Ansicht des Beklagten auch nicht der Umstand, dass die Verzögerung des Ausgangsverfahrens in erheblichem Maße auf der starken Belastung der im Ausgangsverfahren zuständigen Kammer mit asylrechtlichen Verfahren beruhte.
Zwar ist die Aufzählung der in § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG benannten Gesichtspunkte, nach denen sich „insbesondere“ die Angemessenheit der Verfahrensdauer richtet, nicht abschließend, sondern nur beispielhaft.
Vgl. BT-Drs. 17/3802, S. 18.
Der Staat kann sich zur Rechtfertigung der Verfahrensdauer nicht auf solche Umstände berufen, die in seinem Verantwortungsbereich liegen. Deshalb ist eine Überlastung der Verwaltungsgerichtsbarkeit oder des konkreten Ausgangsgerichts bzw. Spruchkörpers für die Bemessung des richterlichen Gestaltungsspielraums ohne Belang. Sie gehört zu den strukturellen Mängeln, die sich der Staat zurechnen lassen muss und die er durch Bereitstellung ausreichender personeller und sachlicher Mittel zu beseitigen hat.
Vgl. BVerwG, Urteil vom 29. Februar 2016 – 5 C 31.15 D -, juris, Rn. 24, m. w. N.; Nds. OVG, Beschluss vom 14. April 2021 – 13 F 73/20 -, juris, Rn. 48; Bay. VGH, Urteil vom 27. September 2019 – 24 F 19.1034 -, juris, Rn. 29; OVG NRW, Urteil vom 10. Februar 2017 – 13 D 74/15 -, juris, Rn. 43; Stahnecker, Entschädigung bei überlagen Gerichtsverfahren, S. 25, Rn. 79 ff., m. w. N.; BT-Drs. 17/3802, S. 19.
Etwas anderes kann zwar in Sondersituationen gelten, in denen es durch einen plötzlichen, nicht vorhersehbaren Anstieg der Fallzahlen zu einer außergewöhnlichen Belastung des Gerichts kommt. Wird auf eine solche Situation zeitnah reagiert und werden – ausreichende – Gegenmaßnahmen ergriffen, liegt in der durch den kurzfristigen Fallzahlenanstieg bedingten Verzögerung keine unangemessene Verfahrensdauer.
Vgl. OVG NRW, Urteil vom 10. Februar 2017 – 13 D 74/15 -, juris, Rn. 47, m. w. N; Roderfeld, in: Marx/Roderfeld, Rechtsschutz bei überlangen Gerichts- und Ermittlungsverfahren, § 198 GVG Rn. 16, m. w. N.; siehe zudem zu Verfahrensverlängerungen durch Verzögerungen beim Sitzungsbetrieb zu Beginn der Corona-Pandemie BFH, Urteil vom 27. Oktober 2021 – X K 5/20 -, juris, Rn. 39 ff.
Wenngleich die sog. Flüchtlingskrise in den Jahren 2015 und 2016 zu einer außergewöhnlichen Eingangsbelastung der Verwaltungsgerichte führte, lag eine solche Sondersituation aber jedenfalls im Zeitpunkt des Ablaufs des Gestaltungsspielraums Anfang Januar 2018 nicht mehr vor. Vielmehr ist (spätestens) im Jahr 2015 absehbar geworden, dass es in den folgenden Jahren zu einer Vielzahl von Asylklagen kommen würde, da allein in diesem Jahr rund 890.000 Flüchtlinge nach Deutschland gekommen waren.
Vgl. Der Tagesspiegel, Zahl der Verfahren wegen Asylklagen verdoppelt, Stand: 31. Dezember 2017, abrufbar unter
https://www.tagesspiegel.de/politik/verwaltungsgerichte-ueberlastet-zahl-der-verfahren-wegen-asylklagen-verdoppelt/20802054.html.
Angesichts dessen oblag es dem Staat, einhergehend ausreichende personelle Mittel zu gewährleisten, um weiterhin effektiven, mithin auch zeitnahen Rechtsschutz zu gewährleisten.
So auch Bay. VGH, Urteil vom 27. September 2019 – 24 F 19.1034 -, juris, Rn. 29.
Dies gilt erst Recht vor dem Hintergrund, dass beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bereits im Jahr 2014 eine deutliche Zunahme der Asylanträge zu verzeichnen war.
Vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Das Bundesamt in Zahlen 2021, S. 9, abrufbar unter https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Statistik/BundesamtinZahlen/bundesamt-in-zahlen-2021-asyl.html?view=renderPdfViewer&nn=284738.
Vor diesem Hintergrund konnte vom Kläger – anders als der Beklagte meint – kein Solidaropfer in Gestalt einer längeren, entschädigungslosen Verfahrenslaufzeit abverlangt werden.
3. Auch die Dauer des zweitinstanzlichen Verfahrens war unangemessen.
a. Es liegt eine sachlich nicht gerechtfertigte Verzögerung des Zulassungsverfahrens von zwölf Monaten vor.
Unter Berücksichtigung des dem Gericht zustehenden Gestaltungsspielraums und des Umstands, dass das Verfahren bereits nicht unerheblich verzögert war,
vgl. hierzu OVG NRW, Urteil vom 10. Februar 2017 – 13 D 36/16 -, juris, Rn. 63; Thür. OVG, Urteil vom 8. Januar 2014 – 2 SO 182/12 -, juris, Rn. 93, m. w. N.,
erscheint bei der gebotenen Gesamtwürdigung mit Blick auf die vorstehend ausgeführten Gesichtspunkte eine Untätigkeit von sechs Monaten ab Eintritt der Entscheidungsreife durch Mitteilung des Beklagten vom 21. Oktober 2019 bis zur weiteren Förderung des Verfahrens noch sachlich vertretbar (d. h. bis zum 21. April 2020). Da das Verfahren aber erst durch den Zulassungsbeschluss vom 22. April 2021 gefördert wurde, lag eine unangemessene Verfahrensdauer von zwölf Monaten vor.
b. Demgegenüber war die Dauer des zweitinstanzlichen Verfahrens ab Zulassung der Berufung angemessen. Das Berufungsverfahren hat nach Eingang der Berufungsbegründung nur fünf Monate gedauert und wurde in dieser Zeit regelmäßig vom Gericht bis zur abschließenden Entscheidung gefördert.
Nach Eingang der Berufungsbegründung des Klägers am 26. April 2021 und der umfangreichen Erwiderung des Beklagten vom 28. Mai 2021, die dem Kläger zur Stellungnahme übersandt wurde, hat das Oberverwaltungsgericht das Verfahren bereits mit Verfügung vom 7. Juli 2021 gefördert, indem es auf die zu klärenden Rechtsfragen hingewiesen und angefragt hat, ob auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet wird. Nachdem die Beteiligten auf eine mündliche Verhandlung verzichtet hatten, wies das Oberverwaltungsgericht mit Verfügung vom 6. August 2017 darauf hin, dass eine Entscheidung in der Sitzung vom 17. September 2021 beabsichtigt sei und gab ihnen Gelegenheit zur abschließenden Stellungnahme bis zum 10. September 2021. Das Oberverwaltungsgericht hat letztlich mit Urteil vom 27. September 2021, zugestellt am 1. Oktober 2021, über die Berufung entschieden.
II. Der Anspruch des Klägers auf Entschädigung ist nicht teilweise wegen einer verspäteten Verzögerungsrüge gemäß § 198 Abs. 3 Satz 1 GVG zu verneinen. Die – wie hier – wirksam erhobenen Verzögerungsrügen wahren den Entschädigungsanspruch grundsätzlich vollständig und nicht erst für Zeiträume ab dem Zeitpunkt der Rüge.
Vgl. OVG NRW, Urteil vom 10. Februar 2017 – 13 D 75/15 -, juris, Rn. 46, m. w. N.
III. Durch die unangemessene Verfahrensdauer im Umfang von 27 Monaten hat der Kläger einen immateriellen Nachteil erlitten, der durch eine Entschädigung wiedergutzumachen ist (1.), die der Senat – entsprechend des klägerischen Antrags – auf 1.700 Euro festsetzt (2.).
1. Nach § 198 Abs. 2 Satz 1 GVG wird ein immaterieller Nachteil vermutet, wenn ein Gerichtsverfahren – wie hier – unangemessen lange gedauert hat. Diese Vermutung ist nicht widerlegt. Eine Entschädigung ist auch nicht nach § 198 Abs. 2 Satz 2 GVG ausgeschlossen. Danach kann Entschädigung nur beansprucht werden, soweit nicht nach den Umständen des Einzelfalls Wiedergutmachung auf andere Weise gemäß § 198 Abs. 4 GVG ausreichend ist. Eine Wiedergutmachung auf andere Weise ist gemäß § 198 Abs. 4 Satz 1 GVG insbesondere möglich durch die Feststellung des Entschädigungsgerichts, dass die Verfahrensdauer unangemessen war. Ob eine solche Feststellung ausreichend im Sinne des § 198 Abs. 2 Satz 2 GVG ist, beurteilt sich auf der Grundlage einer umfassenden Abwägung sämtlicher Umstände des Einzelfalls. In diese Abwägung wird regelmäßig einzustellen sein, ob das Ausgangsverfahren für den Verfahrensbeteiligten eine besondere Bedeutung hatte, ob dieser durch sein Verhalten erheblich zur Verzögerung beigetragen hat, ob er weitergehende immaterielle Schäden erlitten hat oder ob die Überlänge den einzigen Nachteil darstellt. Darüber hinaus kann zu berücksichtigen sein, von welchem Ausmaß die Unangemessenheit der Dauer des Verfahrens ist und ob das Ausgangsverfahren für den Verfahrensbeteiligten eine besondere Dringlichkeit aufwies oder ob diese zwischenzeitlich entfallen war.
Vgl. zu diesen Kriterien BVerwG, Urteil vom 11. Juli 2013 – 5 C 23.12 D -, juris, Rn. 57; OVG NRW, Urteil vom 28. September 2015 – 13 D 12/15 -, juris, Rn. 81 f.; BT-Drs. 17/3802, S. 20.
Mit Blick auf den erheblichen Umfang der Verzögerung des Verfahrens, das für den Kläger, der zu der Verzögerung nicht beigetragen hat, trotz Erledigung des angegriffenen Platzverweises weiterhin noch von Bedeutung war, ist die bloße Feststellung, dass die Verfahrensdauer unangemessen war, hier nicht ausreichend.
2. Die Bemessung der immateriellen Nachteile richtet sich nach § 198 Abs. 2 Satz 3 GVG. Danach sind diese in der Regel i. H. v. 1.200 Euro für jedes Jahr der Verzögerung zu entschädigen. Nur wenn dieser Betrag nach den Umständen des Einzelfalls unbillig ist, kann das Gericht einen höheren oder niedrigeren Betrag festsetzen (§ 198 Abs. 2 Satz 4 GVG).
Vgl. hierzu ausführlich BGH, Urteil vom 6. Mai 2021 – III ZR 72/20 -, juris, Rn. 16 ff.
Hier sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, von dem Betrag der Regelentschädigung nach oben oder unten abzuweichen. Dem würde vorliegend grundsätzlich eine Entschädigung in Höhe von 2.700 Euro entsprechen. Gleichwohl ist die Entschädigung lediglich auf 1.700 Euro festzusetzen, da der Senat gemäß § 88 VwGO nicht über das Klagebegehren hinausgehen darf.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 1 VwGO i. V. m. § 708 Nr. 11, § 711 Satz 1 und 2, § 709 Satz 2 ZPO.
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil kein Zulassungsgrund im Sinne des – nach § 173 Satz 2 VwGO anwendbaren – § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.
Es folgt die Rechtsmittelbelehrung.