Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg – Beschluss vom 11.08.2022 – Az.: VGH 1 S 326/22

BESCHLUSS

In der Verwaltungsrechtssache

xxx,

– Kläger –
– Antragsgegner –

prozessbevollmächtigt:
Rechtsanwalt Sven Adam,
Lange Geismarstraße 55, 37073 Göttingen

gegen

Land Baden-Württemberg,
vertreten durch das Polizeipräsidium Stuttgart – Referat Personal -, Hahnemannstraße 1, 70191 Stuttgart

– Beklagter –
– Antragsteller –

wegen Feststellung der Rechtswidrigkeit polizeilicher Maßnahmen
hier: Antrag auf Zulassung der Berufung

hat der 1. Senat des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg durch den Präsidenten des Verwaltungsgerichtshofs xxx, den Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgerichtshof xxx und den Richter am Verwaltungsgericht xxx

am 11. August 2022

beschlossen:

Der Antrag des Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 10. November 2021 – 5 K 2034/20 – wird abgelehnt.

Der Beklagte trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.

Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,– EUR festgesetzt.

GRÜNDE

Der rechtzeitig gestellte und begründete, der Sache nach auf die Zulassungsgründe der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO; I.), der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO; II.) sowie der Divergenz (§ 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO; III.) gestützte Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.

I. Aus den von dem Beklagten dargelegten Gründen bestehen keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils.

a) Die Darlegung ernstlicher Zweifel im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO erfordert, dass ein die Entscheidung des Verwaltungsgerichts tragender Rechtssatz oder eine für diese Entscheidung erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird (BVerfG, Beschl. v. 23.06.2000 – 1 BvR 830/00 – VBlBW 2000, 392; VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 03.05.2011 – 10 S 354/11 – VBlBW 2011, 442). Dazu müssen zum einen die angegriffenen Rechtssätze oder Tatsachenfeststellungen – zumindest im Kern – zutreffend herausgearbeitet werden (VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 11.08.1999 – 6 S 969/99 – juris). Zum anderen sind schlüssige Bedenken gegen diese Rechtssätze oder Tatsachenfeststellungen aufzuzeigen, wobei sich der Darlegungsaufwand im Einzelfall nach den Umständen des jeweiligen Verfahrens richtet (VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 11.08.1999, a.a.O., und v. 27.02.1998 – 7 S 216/98 – VBlBW 1998, 378 m.w.N.), insbesondere nach Umfang und Begründungstiefe der Entscheidung des Verwaltungsgerichts. Der Zulassungsgrund liegt vor, wenn eine Überprüfung des dargelegten Vorbringens aufgrund der Akten ergibt, dass ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils tatsächlich bestehen.

Sollen ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils gerade hinsichtlich einer Tatsachen- oder Beweiswürdigung geltend gemacht werden, sind besondere Anforderungen an die Darlegung des Zulassungsgrundes zu stellen (vgl. hierzu NdsOVG, Beschl. v. 18.01.2001 – 4 L 2401/00 – juris). Gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO entscheidet das Gericht nämlich nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Es gehört danach zur Aufgabe des Tatsachengerichts, sich auf der Grundlage des Gesamtergebnisses des Verfahrens im Wege einer freien Beweiswürdigung seine Überzeugung von dem entscheidungserheblichen Sachverhalt zu bilden. Wie es seine Überzeugung bildet, wie es also die ihm vorliegenden Tatsachen und Beweise würdigt, unterliegt seiner Freiheit. Die Einhaltung der daraus entstehenden verfahrensrechtlichen Verpflichtungen ist nicht schon dann in Frage gestellt, wenn ein Beteiligter das vorliegende Tatsachenmaterial anders würdigen oder aus ihm andere Schlüsse ziehen will als das Gericht. Die Freiheit des Gerichts ist erst dann überschritten, wenn es entweder seiner Sachverhalts- und Beweiswürdigung nicht das Gesamtergebnis des Verfahrens zu Grunde legt, sondern nach seiner Rechtsauffassung entscheidungserheblichen Akteninhalt übergeht oder aktenwidrige Tatsachen annimmt, oder wenn die von ihm gezogenen Schlussfolgerungen gegen die Denkgesetze verstoßen (st. Rspr., vgl. u.a. BVerwG, Beschl. v. 17.05.2011 – 8 B 88.10 – juris u. Beschl. v. 28.03.2012 – 8 B 76.11 – LKV 2012, 409).

Mit Einwänden gegen die freie, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnene richterliche Überzeugung wird die Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts dementsprechend erst dann in Frage gestellt, wenn gute Gründe dafür aufgezeigt werden, dass die vom Verwaltungsgericht vorgenommene Überzeugungsbildung mangelhaft ist, etwa weil das Verwaltungsgericht bei seiner Entscheidung mit Blick auf eine entscheidungserhebliche Tatsache von einem unzutreffenden Sachverhalt ausgegangen ist oder die Beweiswürdigung gedankliche Lücken oder Ungereimtheiten aufweist. Letzteres ist insbesondere bei einer Verletzung von gesetzlichen Beweisregeln, Denkgesetzen oder allgemeinen Erfahrungssätzen, bei aktenwidrig angenommenem Sachverhalt oder offensichtlich sachwidriger und damit willkürlicher Beweiswürdigung anzunehmen. Die bloße Möglichkeit einer anderen Bewertung des Ergebnisses einer Beweisaufnahme genügt dagegen zur Begründung ernstlicher Zweifel nicht (NdsOVG, Beschl. v. 18.01.2001 – 4 L 2401/00 -; OVG LSA, Beschl. v. 28.02.2012 – 1 L 159/11 -; OVG NRW, Beschl. v. 21.06.2012 – 18 A 1459/11 -; alle in juris; VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 12.07.2012 – 2 S 1265/12 – NVwZ-RR 2012, 778).

b) Der Beklagte hat an diesen Maßstäben gemessen keine erheblichen Gründe vorgebracht, die dafürsprechen, dass das verwaltungsgerichtliche Urteil unrichtig sein könnte.

aa) Er hat diesbezüglich ausgeführt, dass die vom Verwaltungsgericht angewandte Systematik, die Umstände, die für eine Anscheinsstörereigenschaft des Klägers sprechen könnten, und die jeweils betroffenen Schutzgüter zunächst isoliert zu prüfen und aus der Verneinung der Anscheinsstörereigenschaft bei der isolierten Prüfung auch bei der Gesamtschau auf die Verneinung der Anscheinsstörereigenschaft des Klägers zu schließen, nicht geeignet sei, eine polizeiliche Beurteilung einer Gefahr aus ex ante Sicht abzubilden und zu bewerten. Hierdurch werde die Gesamtschau unzulässig und unzutreffend stark eingeschränkt. Zudem sei die vom Verwaltungsgericht vorgenommene Gesamtschau unvollständig. Denn der Einsatzleiter der Polizei sei ex ante nicht davon ausgegangen, dass der Kläger der Gruppe vermummter Personen lediglich gefolgt sei. Vielmehr habe der Einsatzleiter angenommen, dass der Kläger Teil der Gruppe gewesen sei, die vermummt durch den Königsbau gelaufen sei. Hierauf weise das Verwaltungsgericht zwar im Tatbestand hin, gehe jedoch in den Entscheidungsgründen nicht mehr darauf ein. Der aus ex ante Sicht angenommene Lauf durch den Königsbau als Teil der Gruppe habe jedoch die Antreffsituation derart unterstrichen, dass hieraus auf eine Störung durch den Kläger habe geschlossen werden können. Hierauf habe der Einsatzleiter auch schließen müssen, nachdem er die Meldung erhalten habe, dass ein Demonstrationsbeobachter wegen der Störung einer Personenkontrolle des Platzes verwiesen worden, eine Gruppe von ca. 20 Personen vermummt durch den Königsbau gelaufen und schließlich der Kläger, als ehemaliger Demonstrations-beobachter, fernab jeder Versammlung unmittelbar bei dieser Gruppe angetroffen worden sei und sich nicht ohne weiteres von ihr habe distanzieren wollen.

Der nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg erforderliche örtliche und zeitliche Zusammenhang für die Annahme einer Anscheinsstörereigenschaft des Klägers habe vorgelegen, weil es in unmittelbarer Nähe des Klägers zu Beleidigungen und tätlichen Angriffen auf Polizeibeamte gekommen sei und es zuvor den Lauf der Gruppe durch den Königsbau gegeben habe. Dabei sei es wahrscheinlich gewesen, dass der Kläger an diesem Lauf teilgenommen habe, weil es andauernd Störungen sowie einen Platzverweis gegen einen Demonstrationsbeobachter gegeben habe.

Des Weiteren sei die Annahme des Verwaltungsgerichts, nur Störungen bzw. Gefährdungen gleicher Schutzgüter könnten bei der Gesamtschau berücksichtigt werden, systematisch fehlerhaft. Denn für die Bejahung der Polizeipflichtigkeit gemäß § 6 PolG a. F. könne schon nicht verlangt werden, dass der Anscheinsstörer durch sein Verhalten ein erhöhtes Risiko geschaffen habe. Zudem könne dann nur noch derjenige als Störer polizeilich in Anspruch genommen werden, der bereits eine Gefahr bzw. Störung bzgl. des gleichen Rechtsguts verursacht habe. Es müsse berücksichtigt werden, dass die Eingriffsintensität bei einer einfachen Identitätsfeststellung vergleichsweise gering sei, sodass die Schwelle für eine Anscheinsgefahr nicht so hoch angesetzt werden könne, wie es das Verwaltungsgericht getan habe. Überdies hätten ex ante Erkenntnisse für eine Unterstützung der Störergruppe durch den Kläger vorgelegen. Zudem habe die Personalienfeststellung beim Kläger auch das Ziel verfolgt, weitere Störungen bei Personenkontrollen zu verhindern. Dass sich der Kläger mit der Störergruppe solidarisiert habe, folge entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts auch daraus, dass sich der Kläger bei der Störergruppe aufgehalten habe, obwohl die Versammlung zu diesem Zeitpunkt schon beendet gewesen sei. Dass es sich bei der Störergruppe um junge Kurden gehandelt habe, habe nicht der ex ante Sicht des Einsatzleiters entsprochen. Zudem hätten dem Einsatzleiter Informationen vorgelegen, nach denen sich auch gewaltbereite Personen aus der sog. „linken Szene“ mit den gewaltbereiten Versammlungsteilnehmern solidarisiert hätten. Auch könne die Warnweste als Demonstrationsbeobachter eine Beobachterrolle außerhalb, fernab und deutlich nach einer Versammlung nicht begründen. Zwar habe sich der Kläger am Rand der Umschließung befunden. Allerdings habe er aufgrund der räumlichen Enge trotzdem unmittelbar bei der Störergruppe gestanden. Es habe somit Anhaltspunkte dafür gegeben, dass der Kläger seine neutrale Stellung verlassen und sich mit der Störergruppe solidarisiert habe. Auch habe von einer Beruhigung der Lage keine Rede sein können. Eine vorherige Verifizierung der Störereigenschaft überspanne die Anforderungen an die Anscheinsstörereigenschaft zudem deutlich. Daraus, dass der Kläger während der polizeilichen Umschließung keine weiteren Störungen und Gefährdungen verursacht habe, könne nicht geschlossen werden, dass der Kläger kein Störer sei. Die spätere Berichterstattung des Klägers habe der Einsatzleiter ex ante nicht kennen können. Daher könne sie bei der Prüfung nicht berücksichtigt werden. Das Angebot an unbeteiligte Personen, die Umschließung nach Angabe ihrer Personalien verlassen zu können, sei nur dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geschuldet gewesen. Anders als unbeteiligte Personen habe der Kläger zunächst überhaupt nicht versucht, sich von der Störergruppe zu entfernen. Wer aber bewusst die Nähe zu einer Störergruppe suche, trage damit auch das Risiko, für einen Teil dieser Gruppe gehalten zu werden. Der Kläger habe dann zwar doch versucht, die Umschließung zu verlassen. Dies sei jedoch nicht geschehen, um sich von der Störergruppe zu distanzieren, sondern um der Personalienfeststellung zu entgehen. Nach dem Sachverhalt des Verwaltungsgerichts habe der Begleiter des Klägers angegeben, einen Platzverweis nebst Androhung der Gewahrsamnahme erhalten zu haben. Dies zeige zusammen mit den übrigen Anhaltspunkten, dass er seine neutrale Beobachterrolle verlassen habe. Die Daten, die der Kläger bei der Polizei hinterlassen habe, reichten für eine Identitätsfeststellung nicht aus (vgl. Schriftsatz des Beklagten v. 10.03.2021 S. 1 bis 11).

bb) Mit dieser Begründung, die sich gegen die Auffassung des Verwaltungsgerichts wendet, nach der der Kläger in Bezug auf die durchgeführte polizeiliche Maßnahme des Beklagten zur Personenfeststellung nicht als Anscheinsstörer habe angesehen werden können, werden ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils des Verwaltungsgerichts nicht aufgezeigt.

Denn das Verwaltungsgericht hat eine Anscheinsstörereigenschaft des Klägers hinsichtlich der Personenfeststellung mit der Begründung verneint, dass es an hinreichend festgestellten tatsächlichen Umständen für ein polizeiliches Eingreifen fehlte (UA S. 25).

Dafür, dass der Kläger seine Beobachterrolle verlassen und sich mit der Gruppe solidarisiert bzw. diese unterstützt habe, habe es an hinreichenden tatsächlichen Anhaltspunkten gefehlt. Denn allein das Stehen des Klägers bei der eingekesselten Gruppe reiche für diese Annahme nicht aus. Der Kläger habe sowohl äußerlich als auch durch sein Handeln jeden Anschein einer Unterstützung vermieden. Er habe soweit ersichtlich jede Interaktion mit den Mitgliedern der Gruppe unterlassen und sei durch seine Warnweste durchgängig als nicht zur Gruppe gehörig zu erkennen gewesen. Darüber hinaus habe sich der Kläger auch innerhalb des Polizeikessels am Rand positioniert, an der Wand des Gebäudes stehend, und weder den Darlegungen des Beklagten noch dem in Augenschein genommenen Videomaterial ließen sich tatsächliche Anhaltspunkte für eine Assoziierung des Klägers zur Gruppe, etwa ein Gespräch, Gesten der Verständigung o.ä. entnehmen. Der Kläger sei klar erkennbar als Versammlungsbeobachter gekleidet und als solcher durchgehend bereits während der Versammlung präsent gewesen. Anhaltspunkte dafür, dass er diese neutrale Rolle verlassen hätte, seien nicht ersichtlich. Die Situation habe sich durch die Einkesselung zudem wieder beruhigt. Statt einer kurzfristigen Reaktion auf ein dynamisches Geschehen sei daher eine Entscheidung unter geringerem Zeitdruck zu treffen gewesen, sodass u.a. die Möglichkeit bestand habe, die Tatsachen weiter aufzuklären. Auch aus der konkreten Antreffsituation des Klägers in der Einkesselung hätten sich keine hinreichenden Anhaltspunkte ergeben, um seine Eigenschaft als Störer zu begründen. Der Kläger sei nach der Überzeugung der Kammer zwar der rennenden Gruppe gefolgt, habe sich jedoch keineswegs bewusst in den Kessel begeben. Zudem habe sich der Kläger durchgängig von den möglichen Störern distanziert. Er habe sich nahezu durchgängig am Rand der eingekesselten Gruppe mit dem Rücken zum Gebäude befunden und sei nach außen durch seine Weste klar erkennbar als Demonstrationsbeobachter, und damit als nicht zu einer Gruppe gehörender Dritter gekennzeichnet gewesen. Zudem habe er sich auch dadurch von der Gruppe distanziert, dass er mehrfach darum gebeten habe, aus dem Kessel entlassen zu werden. Weiter habe der Kläger als Mitglied der Demonstrationsbeobachtung Südwest vorab jedenfalls einen Namen und eine Telefonnummer bei der Polizei hinterlegt, sodass sogar eine direkte, fernmündliche Kontaktaufnahme jederzeit möglich gewesen sei. Hinreichende Tatsachen für die Annahme einer Anscheinsstörereigenschaft ergäben sich auch nicht aus dem Verhalten des Klägers nach der Einkesselung. Soweit der Kläger nicht seine Personalien angegeben habe, um vorab aus der Umkesselung entlassen zu werden, sei die Identitätsfeststellung gerade ein hier angegriffener Hoheitsakt und damit die durch das Vorliegen sonstiger Tatsachen zu rechtfertigende staatliche Maßnahme. Das Unterlassen der freiwilligen Vornahme dieser Handlung genüge als gefahrbegründende Tatsache nicht. Auch die nachträgliche Berichterstattung über den Polizeieinsatz vermöge einen entsprechenden Verdacht nicht zu begründen. Dazu sei sie schon in zeitlicher Hinsicht nicht geeignet, weil ein hinreichender Verdacht im Zeitpunkt der Vornahme der polizeilichen Maßnahme bestehen müsse. Auch der ergangene Platzverweis könne die Anscheinsstörerhaftung nicht begründen, weil sich der Platzverweis auf ein anderes Schutzgut bezogen habe, nämlich die Sicherstellung der ungestörten Durchführung der Personenkontrollen im Anschluss an die Demonstration. Das Schutzgut der Personenfeststellung sei hingegen die Abwehr von Gefahren für die Gesundheit und das Eigentum der Passanten in der Königsbaupassage gewesen. Zwischen den getroffenen Maßnahmen bestehe auch kein Zusammenhang solcher Art und Güte, dass mit der Störung der Polizeiarbeit im Anschluss an die Demonstration auch die Störereigenschaft in Bezug auf die Maßnahmen nach der Einkesselung begründet worden wäre.

Auch aus einer Gesamtschau der vorgenannten Umstände ergäben sich keine hinreichenden tatsächlichen Anhaltspunkte, um den Kläger als Anscheinsstörer anzusehen. Nach dem Vorgenannten beruhten weder der Platzverweis gegen einen Demobeobachter noch der Verdacht der Unterstützung der Mitglieder der Störergruppe auf tatsächlichen Anhaltspunkten, die eine Gefahr für die Rechtsgüter der Passanten im und um den Königsbau durch den Kläger nahegelegt hätten. Dementsprechend hätten sie nicht vermocht, die Antreffsituation als somit verbleibenden tatsächlichen Anhaltspunkt derart zu unterstreichen, dass zwar nicht aus dem Aufenthalt des Klägers im Kessel allein, dafür aber aus einer Zusammenschau mit diesen weiteren Umständen rechtlich zulässig auf eine Störung durch den Kläger geschlossen habe werden können (UA S. 24 bis 34).

cc) Die Begründung des Verwaltungsgerichts wird durch das Zulassungsvorbringen nicht derart in Frage gestellt, dass ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils anzunehmen wären.

Soweit geltend gemacht wird, die vom Verwaltungsgericht vorgenommene Gesamtschau sei unvollständig, weil der Einsatzleiter aufgrund der Gesamtumstände ex ante habe davon ausgehen müssen, dass der Kläger Teil der Gruppe gewesen sei, die vermummt durch den Königsbau gelaufen sei, greift das Zulassungsvorbringen ohne Erfolg die Beweis- und Tatsachenwürdigung des Verwaltungsgerichts an.

Denn das Verwaltungsgericht ist aufgrund der Positionierung des Klägers am Rande des Kessels, seiner Kleidung als Demonstrationsbeobachter, seiner mangelnden Unterstützung der Störergruppe während des Aufenthalts im Polizeikessel und seinen mehrmaligen Bitten, aus dem Kessel entlassen zu werden, davon ausgegangen, dass der Kläger sich hinreichend von der Gruppe distanziert habe (UA S. 28 bis 29). Dieser Würdigung des Verwaltungsgerichts hält der Beklagte seine eigene Würdigung der Tatsachen entgegen und kommt auf dieser Grundlage zu dem Schluss, dass sich der Kläger nicht hinreichend von der Gruppe distanziert habe. Damit kann der Zulassungsantrag jedoch keinen Erfolg haben, weil die Tatsachen- und Beweiswürdigung Sache des Gerichts ist und die diesbezügliche Freiheit des Gerichts – wie gezeigt – erst dann überschritten ist, wenn es entweder seiner Sachverhalts- und Beweiswürdigung nicht das Gesamtergebnis des Verfahrens zu Grunde legt, sondern nach seiner Rechtsauffassung entscheidungserheblichen Akteninhalt übergeht oder aktenwidrige Tatsachen annimmt, oder wenn die von ihm gezogenen Schlussfolgerungen gegen die Denkgesetze verstoßen. Hierfür ist jedoch weder nach dem Vortrag des Beklagten noch sonst etwas ersichtlich.

Des Weiteren ist die Würdigung des Verwaltungsgerichts auch mit der Rechtsprechung des Senats vereinbar. Denn nach der Rechtsprechung des Senats (vgl. Urt. v. 14.12.2010 – 1 S 338/10 – juris Rn. 26) ist Anscheinsstörer, wer ex post betrachtet nicht wirklich eine Gefahr verursacht, aber ex ante betrachtet bei einem fähigen, besonnenen und sachkundigen Polizeibeamten den Eindruck der Gefahrverursachung erweckt. Zu unterscheiden sind zwei Fallgruppen. Die herrschende Meinung versteht unter einem Anscheinsstörer eine Person, die entweder durch ihr Verhalten eine Anscheinsgefahr oder hinsichtlich einer real bestehenden Gefahr durch ihr Verhalten einen Verursacherschein gesetzt hat. Der Begriff Anscheinsstörer wird in der zweiten Fallgruppe auf Konstellationen angewandt, in denen die Gefahr wahrscheinlich ist oder gar feststeht, in denen aber hinsichtlich des Verantwortlichen nur eine Möglichkeit oder ein Verdacht besteht. Ist nicht die Existenz einer Gefahr, sondern deren Urheber ungeklärt, besteht also der Verdacht einer Gefahrverursachung, soll der Betreffende als Anscheinsverursacher in Anspruch genommen werden können (Stephan/Deger, Polizeigesetz für Baden-Württemberg, 7. Aufl., § 7 Rn. 6). In der Literatur wird in dieser Fallgruppe darüber hinaus teilweise verlangt, dass die Person den Anschein durch ihr Verhalten bzw. eine ihr zuzuordnende Sache unmittelbar verursacht hat (so etwa Schenke/Ruthig, Rechtsscheinhaftung im Polizei- und Ordnungsrecht? – Zur polizeirechtlichen Verantwortlichkeit des sog. Anscheinsstörers, VerwArch 87 (1996), 329, 331). Auch nach dieser Auffassung setzt die unmittelbare Verursachung indes nicht zwingend einen Verstoß gegen eine bestimmte Rechtsnorm voraus. Es genügt, wenn ein Verhalten objektiv geeignet ist, bei Dritten den Eindruck zu erwecken, es drohe ein Schaden für ein polizeilich geschütztes Rechtsgut (Irreführungsrisiko). Selbst wer nicht weiß, dass er von der Polizei beobachtet wird, übernimmt das Risiko dafür, dass aus seinem Verhalten in der Öffentlichkeit auf seine Störereigenschaft geschlossen wird (Schenke/Ruthig, a.a.O. S. 340 f.).

Daran gemessen hat das Verwaltungsgericht die Störereigenschaftung des Klägers zu Recht verneint. Dagegen, dass das Verwaltungsgericht zunächst die möglichen Anknüpfungspunkte für eine Anscheinsstörerhaftung des Klägers isoliert geprüft und hiernach nochmals eine Gesamtbetrachtung vorgenommen hat, ist von Rechts wegen nichts zu erinnern. Weswegen die Gesamtschau hierdurch unzulässig und unzutreffend stark eingeschränkt werden soll, legt der Beklagte nicht dar und ist auch sonst nicht erkennbar.

Zwar würde das sogenannte Irreführungsrisiko zu Lasten des Klägers gehen. Eine solche Irreführung kann dabei vorliegen, wenn sich eine Person in einem sehr engen zeitlichen und örtlichen Zusammenhang zu einer aus einer Gruppe verübten Störung der öffentlichen Sicherheit aufhält und sich nicht hinreichend von der Gruppe distanziert. Ob eine hinreichende Distanzierung vorliegt, kann nur unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Einzelfalles festgestellt werden (vgl. Senat, Beschl. v. 10.03.2015 – 1 S 1225/14 -). Hiervon ist der Sache nach jedoch auch das Verwaltungsgericht ausgegangen (UA S. 31). Es hat allerdings eine hinreichende Distanzierung des Klägers in Rahmen einer Gesamtwürdigung insbesondere darin gesehen, dass der Kläger sich nahezu durchgängig am Rand der eingekesselten Gruppe befunden habe, nach außen durch seine Weste klar erkennbar als Demonstrationsbeobachter gekennzeichnet gewesen sei und mehrfach darum gebeten habe, aus dem Kessel entlassen zu werden (UA S. 28 bis 29). Hiergegen ist nichts einzuwenden. Insbesondere ging die Distanzierung des Klägers im vorliegenden Fall darüber hinaus, sich selbst als Demonstrationsbeobachter zu bezeichnen und lediglich besondere Kleidung anzulegen (vgl. hierzu Senat, Beschl. 10.03.2015 – 1 S 1225/14 -)

Überdies hat das Verwaltungsgericht auch zu Recht angenommen, dass der ergangene Platzverweis nicht dazu führen kann, eine Anscheinsstörerhaftung des Klägers anzunehmen, weil sich der Platzverweis auf ein anderes Schutzgut bezogen habe, nämlich die Sicherstellung der ungestörten Durchführung der Personenkontrollen im Anschluss an die Demonstration (UA S. 32). Denn die diesbezügliche Gefahrensituation war schon beendet gewesen, als es zum Lauf der aus ungefähr 20 Personen bestehenden Gruppe durch den Königsbau und die hierdurch entstandene Gefahr für die Gesundheit und das Eigentum der in und um den Königsbau befindlichen Passanten gekommen ist. Eine Störereigenschaft kann jedoch nur in Bezug auf die jeweils verursachte Gefahr geprüft werden. Dies hat das Verwaltungsgericht auch rechtsfehlerfrei getan. Mit dem Vortrag, dass die Personalienfeststellung beim Kläger auch das Ziel verfolgt haben, weitere Störungen bei Personenkontrollen zu verhindern, greift der Beklagte wiederum die Tatsachen- und Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichts an, ohne aufzuzeigen, dass das Verwaltungsgericht entscheidungserheblichen Akteninhalt übergangen oder aktenwidrige Tatsachen angenommen habe.

II. Grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO kommt der Rechtssache nicht zu. Das ist nur der Fall, wenn das erstrebte weitere Gerichtsverfahren zur Beantwortung von entscheidungserheblichen konkreten Rechtsfragen oder im Bereich der Tatsachenfeststellungen nicht geklärten Fragen mit über den Einzelfall hinausreichender Tragweite beitragen könnte, die im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Weiterentwicklung des Rechts höhergerichtlicher Klärung bedürfen. Die Darlegung dieser Voraussetzungen verlangt, dass unter Durchdringung des Streitstoffes des erstinstanzlichen Urteils eine konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage aufgezeigt, d.h. benannt wird, die für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts tragend war und die auch für die Entscheidung im Berufungsverfahren erheblich sein wird, und dass ein Hinweis auf den Grund gegeben wird, der ihre Anerkennung als grundsätzlich bedeutsam rechtfertigen soll (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 05.06.1997 – 4 S 1050/97 – VBlBW 1997, 420 m.w.N.; Beschl. v. 19.08.2010 – 8 S 2322/09 – ZfWG 2010, 424). Eine Zulassung nach § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO kommt mangels Entscheidungserheblichkeit einer aufgeworfenen Grundsatzfrage nicht in Betracht, wenn das angegriffene Urteil auf mehrere selbständige tragende Gründe gestützt ist und einer der tragenden Gründe nicht oder nicht mit Erfolg mit dem Zulassungsantrag angegriffen wird. Denn im Fall einer solchen Mehrfachbegründung müssen die Zulassungsvoraussetzungen grundsätzlich für jede der Begründungen gegeben sein (vgl. OVG NRW, Beschl. v. 15.04.2008 – 6 A 185/06 – juris Rn. 4, m.w.N.; BayVGH, Beschl. v. 10.03.2011 – 14 ZB 09.2479 – juris Rn. 7; Beschl. v. 08.06.2011 – 12 ZB 10.1727 – juris Rn. 10).

Dem Zulassungsvorbringen gelingt es schon nicht unter Durchdringung des Streitstoffes des erstinstanzlichen Urteils eine konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage zu benennen, die für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts tragend war und die auch für die Entscheidung im Berufungsverfahren erheblich sein wird, und zudem ein Hinweis auf den Grund zu geben, der ihre Anerkennung als grundsätzlich bedeutsam rechtfertigt.

Die einzige Frage, die tatsächlich durch den Beklagten formuliert wird, nämlich, welche Rolle die Gesamtschau bei der Prüfung spielt und ob es richtig ist, diese de facto auf eine Wiederholung der isolierten Prüfung der einzelnen, für die Störereigenschaft sprechenden Umstände zu reduzieren (Schriftsatz des beklagten v. 10.03.2022 S. 13), stellt sich in dieser Weise nicht. Denn das Verwaltungsgericht hat die Gesamtschau nicht auf eine Wiederholung der isolierten Prüfung der einzelnen, für die Störereigenschaft sprechenden Umstände zu reduziert, sondern geprüft, ob alle möglichen Anknüpfungspunkte für eine mögliche Anscheinsstörereigenschaft des Klägers in einer Gesamtschau zu einem anderen Ergebnis führen können, als im Rahmen der isolierten Betrachtung (UA S. 33 bis 34).

III. Die Divergenzrüge des Beklagten kann ebenfalls keinen Erfolg haben. Die Darlegung einer die Berufung nach § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO eröffnenden Divergenz setzt zunächst voraus, dass ein inhaltlich bestimmter, die angefochtene Entscheidung tragender abstrakter Rechtssatz benannt und einem dieselbe Rechtsvorschrift betreffenden seinerseits entscheidungserheblichen Rechtssatz des Divergenzgerichts gegenüber gestellt wird (st. Rspr., vgl. nur BVerwG, Beschl. v. 20.12.1995 – 6 B 35.95 – NVwZ-RR 1996, 712). Die lediglich fehlerhafte Anwendung eines vom Divergenzgericht aufgestellten Rechtssatzes ist keine Abweichung in diesem Sinne (st. Rspr., vgl. BVerwG, Beschl. v. 10.07.1995 – 9 B 18.95 – NVwZ-RR 1997, 101), ebensowenig das Übersehen einer Rechtsfrage oder eines Rechtssatzes (st. Rspr., vgl. BVerwG, Beschl. v. 17.02.1997 – 4 B 16.97 – NVwZ-RR 1997, 512). Eine verdeckte Divergenz, die zur Zulassung führt, kann nur dann vorliegen, wenn das Verwaltungsgericht unausgesprochen von einem divergierenden Rechtssatz ausgegangen ist (vgl. BVerwG, Beschl. v. 26.03.2012 – 2 B 26.11 – juris).

Dem genügt das Vorbringen des Beklagten ersichtlich nicht. Er benennt keinen inhaltlich bestimmten, die angefochtene Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz, sondern wiederholt seine Kritik an der Entscheidung des Verwaltungsgerichts. Hierdurch verfehlt er die Darlegungsanforderungen an eine Divergenzrüge.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 2 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).