Tacheles Rechtsprechungsticker KW 44/2022

1. Entscheidungen des Bundessozialgerichts zur Sozialhilfe (SGB XII)

1.1 – BSG, Urteil v. 19.05.2022 – B 8 SO 1/21 R

Sozialhilfe – Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung – einmaliger Bedarf – „weiße Ware“ – Waschmaschine

Leitsatz Redakteur von Tacheles e. V.
Kosten für Ersatzbeschaffung einer Waschmaschine sind aus der Sozialhilfe anzusparen.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

2. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung nach dem (SGB II)

2.1 – LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 06.04.2022 – L 8 AS 18/22 B ER

Ausschluss der Vollstreckung einer Erstattungsforderung des Grundsicherungsträgers bei wirksam erhobener Verjährungseinrede

Orientierungssatz
1. Die fehlende Durchsetzbarkeit einer Erstattungsforderung des Grundsicherungsträgers aufgrund wirksam erhobener Verjährungseinrede führt dazu, dass die Vollstreckung nach § 14 VwVG einzustellen ist, weil die Vollstreckung in einem solchen Fall unbillig ist.(Rn.6)

2. Nach § 50 Abs. 4 S. 2 SGB 10 gelten für die Wirkung der Verjährung die Vorschriften des BGB. (Rn.10)

Quelle: gesetze.berlin.de

2.2 – LSG Hamburg, Urt. v. 16.06.2022 – L 4 AS 246/19

Umfang der sozialgerichtlichen Ermittlung bei von Mitgliedern einer Bedarfsgemeinschaft beantragten Leistungen der Grundsicherung

Orientierungssatz
1. Bei Personen, die in einer Bedarfsgemeinschaft leben, sind bei beantragten Leistungen der Grundsicherung hinsichtlich deren Hilfebedürftigkeit nach § 9 Abs. 2 S. 1 SGB 2 auch das Einkommen und Vermögen des Partners zu berücksichtigen. (Rn.94)

2. Hierzu darf das Sozialgericht auch die Ergebnisse staatsanwaltlicher Ermittlungen, die Angaben der Antragsteller im anderen Verfahren sowie die von einem anderen Gericht getroffenen Feststellungen und Ergebnisse verwerten. (Rn.98)

Quelle: www.landesrecht-hamburg.de

2.3 – Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 27.09.2022 – L 11 AS 415/22 B ER

Jobcenter müssen keinen Stromzähler für Warmwasserboiler zahlen
(Leitsatz Redakteur von Tacheles e. V.).

1. Im Bereich des Sozialgesetzbuchs Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) – existiert keine Rechtsgrundlage für einen Anspruch auf Gewährung von Zuschussleistungen für die Installation einer Messeinrichtung im Sinne von § 21 Abs. 7 Satz 3 SGB II.

2. Bei fehlender atypischer individueller Bedarfslage handelt es sich bei den Kosten für eine separate Messeinrichtung nicht um einen besonderen Bedarf i. S. d. § 21 Abs. 6 SGB II, sondern um einen allgemeinen bzw. typischen Bedarf. Bei Vorliegen eines besonderen Bedarfs käme in erster Linie eine darlehensweise Leistungsgewährung in Betracht.

3. Hätte der Gesetzgeber eine Kostenübernahme für die Messeinrichtung gewollt, wäre im Zusammenhang mit der Änderung des § 21 Abs. 7 SGB II eine entsprechende ausdrückliche gesetzliche Regelung zu erwarten gewesen.

Quelle: www.rechtsprechung.niedersachsen.de

2.4 – LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 14.09.2022 – L 29 AS 620/18

Orientierungshilfe Redakteur von Tacheles e. V.
Zur Frage, ob die Aufrechnung gemäß § 42a Abs. 2 SGB II vor Fälligkeit der Gegenforderung erklärt werden darf, hier bejahend.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

2.5 – LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss v. 07.09.2022 – L 5 AS 108/22 NZB

Leitsatz
1. Es handelt sich nicht um eine klärungsbedürftige Rechtsfrage, wenn die nicht ausreichende Prüfung der Erforderlichkeit eines Umzugs durch das Sozialgericht behauptet wird.

2. Ein Verfahrensmangel durch Verstoß gegen die Pflicht zur Amtsermittlung setzt voraus, dass der Sachverhalt und/oder der Beteiligtenvortrag Nachforschungen im Rahmen der Amtsermittlung nahelegen.

Quelle: www.landesrecht.sachsen-anhalt.de

3. Entscheidungen der Sozialgerichte zur Grundsicherung nach dem (SGB II)

3.1 – SG Magdeburg, Urt. v. 21.06.2022 – S 28 AS 1977/16

Arbeitslosengeld II – Unterkunft und Heizung – angemessene Unterkunftskosten – Dreipersonenhaushalt in Aschersleben im Salzlandkreis in Sachsen-Anhalt – schlüssiges Konzept des Grundsicherungsträgers – Vergleichsraumbildung – Repräsentativität der Datenerhebung – Abbildung der Vermieterstruktur – nachvollziehende Verfahrenskontrolle – Zumutbarkeit eines Umzugs – zweite Kostensenkungsaufforderung – Wirtschaftlichkeitsprüfung

Leitsatz
1. Das vom Beklagten angewandte Konzept zur Ermittlung der Angemessenheitswerte des § 22 Abs 1 S 1 SGB II genügt in der Fassung des Berichts Juli 2019 den Anforderungen an Gesetz und höchstrichterliche Rechtsprechung. (Rn.74)

2. Aus dem Institut der nachvollziehenden Verfahrenskontrolle folgt keine unzulässige Beweislastumkehr zulasten leistungsberechtigter Personen. (Rn.69)

3. Eine Datenerhebung für die Ermittlung einer Referenzmiete zur Bestimmung angemessener Unterkunftskosten nach § 22 Abs 1 S 1 SGB II kann auch dann hinreichend repräsentativ sein, wenn sie nicht die auf dem Wohnungsmarkt vorhandene Vermieterstruktur von “privaten” und “institutionellen” Vermietern proportional abbildet. (Rn.121)

4. Erteilt der Grundsicherungsträger der leistungsberechtigten Person eine zweite Kostensenkungsaufforderung, in der einzelfallbezogen und konkret erneut die Regel-6-Monats-Frist des § 22 Abs 1 S 3 SGB II gewährt, muss sich der Grundsicherungsträger daran festhalten lassen. Innerhalb der “zweiten” 6-Monats-Frist ist der Bedarfsgemeinschaft dann ein Umzug subjektiv unzumutbar. (Rn.176)

5. Wirtschaftlichkeitserwägungen führen ohne eine Selbstbindung der Verwaltung jedenfalls dann nicht zur Unzumutbarkeit des Umzugs, wenn nicht allein die Heizkosten, sondern auch die Unterkunftskosten die Angemessenheitswerte übersteigen. (Rn.185)

6. Aus § 22 Abs 1 S, 4 SGB II folgen keine subjektiv-öffentlichen Rechte leistungsberechtigter Personen. (Rn.192)

Orientierungssatz
Die für den Salzlandkreis vorgenommene Vergleichsraumbildung ist nicht zu beanstanden. (Rn.76)

Quelle: www.landesrecht.sachsen-anhalt.de

4. Entscheidungen der Sozialgerichte zum Arbeitsförderungsrecht (SGB III)

4.1 – SG Nürnberg, Urt. v. 28.09.2022 – S 22 AL 411/21

Orientierungssatz Redakteur von Tacheles e. V.
Verkürzte Anwartschaftszeit für Arbeitslosengeld trotz Vertragsverlängerung gerechtfertigt (Anlehnung an LSG Nordrhein-Westfalen im Urteil vom 20.02.2020 – L 9 AL 6/18, a. Auffassung: LSG Baden-Württemberg im Urteil vom 18.05.2018 – L 8 AL 3995/16).

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

Hinweis:
LSG Nordrhein-Westfalen: Verkürzte Anwartschaftszeit für Arbeitslosengeld bei Filmschaffenden trotz Vertragsverlängerung gerechtfertigt

weiter: rsw.beck.de

5. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Sozialhilfe (SGB XII)

5.1 – Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 08.09.2022 – L 8 SO 91/18

Zur Durchsetzung des Vorrang-Nachrang-Verhältnisses von Jugend- und Sozialhilfe nach § 10 Abs 4 SGB VIII gegenüber dem Sozialhilfeträger nach Erstattung der Leistungen an den bisher zuständigen Jugendhilfeträger nach § 89c Abs 1 S 1 SGB VIII

1. Die Zuständigkeit eines Rehabilitationsträgers für ein einheitliches Rehabilitationsgeschehen ist bei einem sog. Weitergewährungs- bzw. Folgeantrag nicht nach § 14 SGB IX neu zu bestimmen (vgl. BSG v. 28.11.2019 – B 8 SO 8/18 R – juris Rn 14 f.).

2. Für die Beurteilung, ob neben dem jugendhilferechtlichen Anspruch auf Hilfe zur Erziehung (Heimerziehung) auch ein inhaltlich entsprechender Anspruch auf sozialhilferechtliche Eingliederungshilfe besteht, ist es unerheblich, ob die stationäre Maßnahme bei entsprechenden familiären Ressourcen nicht erforderlich gewesen wäre. Eine gegenüber Leistungen nach dem SGB VIII vorrangige Leistungsverpflichtung des sachlich und örtlich zuständigen Sozialhilfeträgers besteht unabhängig davon, welche Behinderung im Vordergrund steht und ob für die konkrete Maßnahme eine Behinderung oder ein Erziehungsdefizit in der Herkunftsfamilie ursächlich war (Anschluss an BSG, Urteil v. 4.4.2019 – B 8 SO 11/17 R – juris Rn 14).

3. Gegenstand eines Erstattungsverfahrens iSd §§ 102 ff SGB XII sind nur Sozialleistungen, die der Erstattung fordernde Sozialleistungsträger selbst erbracht hat oder die ihm wegen eines Vertretungs- oder Auftragsverhältnisses kraft individueller oder genereller rechtsgeschäftlicher Vereinbarung zwischen Sozialleistungsträgern oder kraft Gesetzes rechtlich zuzurechnen sind (vgl. BSG, Urteil vom 28.10.2008 – B 8 SO 23/07 R – juris Rn. 22). Die einem bisher zuständigen Jugendhilfeträger nach § 89c Abs 1 S 1 SGB VIII von dem nunmehr zuständigen Jugendhilfeträger erstatteten Leistungen sind diesem in einem Erstattungsstreit gegen einen möglicherweise vorrangig zuständigen Sozialhilfeträger nicht als (eigene) Sozialleistungen iSd § 104 S 1 SGB X zuzurechnen.

Quelle: www.rechtsprechung.niedersachsen.de

6. Verschiedenes zu Hartz IV, zur Sozialhilfe, zum Asylrecht, Wohngeldrecht und anderen Gesetzesbüchern

6.1 – BFH: Erlöschen der Kindergeldansprüche infolge von Sozialleistungen und Erstattungsansprüchen des Jobcenters

weiter: www.sis-verlag.de

6.2 – Begleitung durch Vertrauensperson bei Untersuchung durch medizinischen Sachverständigen grundsätzlich zulässig, ein Beitrag von RA Helge Hildebrandt

weiter: sozialberatung-kiel.de

6.3 – Vergütungsansprüche vor und nach der Insolvenzeröffnung – Das sollten Arbeitnehmer wissen, ein Beitrag von Rechtsanwältin Trixi Hoferichter

weiter: www.anwalt.de

Verfasser des Rechtsprechungstickers: Redakteur von Tacheles Detlef Brock
Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker