Tacheles Rechtsprechungsticker KW 46/2022

1. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung nach dem (SGB II)

1.1 – LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 22.09.2022 – L 37 SF 294/20 EK AS

Leitsätze
§§ 198 ff. GVG i.d.F. des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (GRüGV)

Es steht einem Kläger frei, den Klagegegenstand auf einen abtrennbaren Teil des Gesamtverfahrens zu beschränken und damit den Prozessgegenstand zu bestimmen (Anschluss an BSG, Urteil vom 12.02.2015 – B 10 ÜG 7/14 R – Rn. 14 und BVerwG, Urteil vom 17.08.2017 – 5 A 2/17 D – Rn. 19).

Materiell-rechtlicher Bezugsrahmen eines derart beschränkten prozessualen Begehrens bleibt jedoch gleichwohl das gesamte gerichtliche Verfahren, auch wenn dieses über mehrere Instanzen oder vor verschiedenen Gerichten geführt worden ist (Anschluss an BSG, Urteil vom 24.03.2022 – B 10 ÜG 4/21 R – Rn. 28 m.w.N.).

Das Anhörungsrügeverfahren setzt kein selbstständiges Verfahren in Gang, sondern ist dem vorangegangenen, hier durch den angegriffenen Beschluss zunächst beendeten Verfahren als Annex angegliedert (Anschluss an BSG, Urteil vom 10.07.2014 – B 10 ÜG 8/13 R – Rn. 14, BGH, Urteil vom 21.05.2014 – III ZR 355/13 –, Rn. 10 – 13 m.w.N., BFH, Urteil vom 20.03.2019 – X K 4/18 –, Rn. 35 – 36).

Dem Bundessozialgericht stehen in der Regel für die einzelnen Verfahren im selben Umfang Vorbereitungs- und Bedenkzeiten zur Verfügung wie dies bei den Instanzgerichten der Fall ist. Dass es sich beim Bundessozialgericht nicht um eine Tatsacheninstanz handelt, rechtfertigt keine andere Entscheidung.

Für ein (auch) als Revisionsverfahren behandeltes Verfahren steht in der Regel eine Vorbereitungs- und Bedenkzeit von zwölf Monaten zur Verfügung.

Für ein Anhörungsrügeverfahren ist den Gerichten eine zusätzliche Vorbereitungs- und Bedenkzeit von drei Monaten einzuräumen (so schon LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 05.06.2022 – L 37 SF 216/20 EK AS – zur Veröffentlichung in juris vorgesehen).

Ist es sowohl im Klage-, als auch im Berufungsverfahren zu Phasen der gerichtlichen Inaktivität gekommen, die nicht durch die dem Sozial- und dem Landessozialgericht jeweils zur Verfügung stehenden Vorbereitungs- und Bedenkzeiten abgedeckt sind, können die verbleibenden Verzögerungszeiten grundsätzlich durch Vorbereitungs- und Bedenkzeiten, die das Bundessozialgericht im/in sich anschließenden dortigen Verfahren nicht aufgebraucht hat, kompensiert werden (Anschluss an BSG, Urteil vom 24.03.2022 – B 10 ÜG 4/21 R – Rn. 28).

Diese Zeiten sind zur Kompensation vorrangig der zuerst aufgetretenen Verzögerungen heranzuziehen, auch wenn diese in einem Verfahrensabschnitt angefallen sind, der letztlich nicht zum Gegenstand des Entschädigungsverfahrens gemacht wurde.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

1.2 – LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 11.10.2022 – L 34 AS 587/22 B ER

Leitsätze
Der drittstaatsangehörige Elternteil eines Unionsbürgerkindes kann bei Fehlen eines Aufenthaltsrechts leistungsberechtigt nach § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG sein. Für das Kind selbst kann die akzessorische Leistungsberechtigung nach § 1 Abs. 1 Nr. 6 AsylbLG greifen.

Das Jobcenter kann im Falle der Leistungspflicht eines vorrangig zuständigen anderen Trägers eine rückwirkende Änderung der im Wege der einstweiligen Anordnung ausgesprochenen Leistungsverpflichtung im Beschwerdeverfahren nicht mit Erfolg geltend machen, wenn es diese bereits erfüllt hat.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

1.3 – LSG NRW, Urt. v. 23.06.2022 – L 6 AS 120/17

Unterkunftskosten im Märkischen Kreis für Empfänger nach Leistungen des SGB II/ SGB XII zu niedrig, denn die Grundsicherungsträger verfügen über kein schlüssiges Konzept im Sinne der Rechtsprechung des BSG (Redakteur von Tacheles e. V.)

Hier noch mal zum Nachlesen die 1. Pressemitteilung von RA Lars- Schulte-Bräucker:

Pressemitteilung von RA Lars Schulte- Bräucker zu den Unterkunftskosten im Märkischen Kreis für Empfänger nach Leistungen des SGB II/ SGB XII verkündet.

Auszug: Tacheles Rechtsprechungsticker KW 26/2022, Punkt 1.4

Nun am 10.11.2022 folgt die 2. Pressemitteilung von RA Lars Schulte-Bräucker zu diesem Verfahren, denn der Volltext zu diesem Urt. liegt jetzt vor.

Pressemitteilung von Rechtsanwalt Lars Schulte-Bräucker zu dem Verfahren v. 10.11.2022

Wie bereits in meiner letzten Pressemitteilung ausgeführt, betrifft das Urteil die aus Sicht des Grundsicherungsträgers als angemessen angesehenen Unterkunftskosten für Leistungsbezieher nach dem SGB II/ SGB XII nach dem Konzept der Firma Analyse und Konzepte.

Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen hat der Klägerin nunmehr in weiten Teilen Recht gegeben und festgestellt, dass das Konzept des beklagten Jobcenters Märkischer Kreis nicht schlüssig im Sinne der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ist.

Begründet wurde dies vor allem mit der fehlenden Repräsentativität und Validität der verwandten Daten für das Konzept der Firma Analyse und Konzepte.

Insofern wird in dem Urteil ausgeführt, dass das beklagte Jobcenter ein genaues Verhältnis der einzelnen Vermietertypen im angeforderten Datenmaterial, das dem Konzept zugrunde lag, nicht belegen konnte, was aber für die Schlüssigkeit eines Konzeptes zwingend erforderlich ist.

Insofern ist nach den Urteilsgründen die Abbildung aller wesentlichen Teilgruppen der Grundgesamtheit im Hinblick auf die Wohnungen der Großvermieter und der Kleinvermieter entsprechend ihres Anteils in der Stichprobe nicht gewährleistet. Es lässt sich nicht feststellen, mit welchem Anteil und in welcher Größenordnung die Mieten „kleiner” bzw. privater Vermieter berücksichtigt wurden.

Vorliegend ließ sich jedoch nicht feststellen, in welchem Verhältnis Klein- und Großvermieter in der Datengrundlage abgebildet sind und daher erst recht nicht, dass es sich dabei nicht um ein Missverhältnis handelt, was nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts unzulässig ist.

Es wurde z.B. vom Unterzeichnenden festgestellt, dass die IGW mit nach eigenen Angaben mehr als 2000 Wohnungen bei der Erstellung des Konzeptes gänzlich unberücksichtigt geblieben ist. Diese Mängel bei der Erstellung des Konzeptes führten nach Ansicht des Landessozialgerichts demnach zur fehlenden Schlüssigkeit der Richtlinien des Märkischen Kreises zu den Unterkunftskosten.

Daraus folgt, dass aufgrund der fehlenden Schlüssigkeit die Werte nach dem Wohngeldgesetz zzgl. eines Sicherheitszuschlages von 10 % als Kosten der Unterkunft für die Leistungsbezieher und damit auch die Klägerin zu gewähren sind.

Nach den Ausführungen des Landessozialgerichts dürften bis zur Erstellung eines neuen, an dem Urteil angepassten Konzeptes, keine Kürzung der Kosten der Unterkunft mehr möglich sein.

Auch die weiteren Konzepte der Firma Analyse und Konzepte und das neueste nunmehr seit 2022 geltende Konzept dürften nach den gleichen Maßstäben entwickelt worden sein.

Beim Sozialgericht Dortmund sind zahlreiche weitere Verfahren anderer Kläger anhängig, die nunmehr aufgrund der Urteilsgründe beschieden werden können.

Eine Revision gegen die Entscheidung wurde in dem Urteil nicht zugelassen.

Für etwaige Rückfragen steht der Unterzeichnende gerne zur Verfügung

Lars Schulte-Bräucker
(Rechtsanwalt)  

Dazu Leitsätze von RA Lars Schulte-Bräucker:
1. Unterkunftskosten im Märkischen Kreis für Empfänger nach Leistungen des SGB II/ SGB XII zu niedrig, denn die Grundsicherungsträger verfügen über kein schlüssiges Konzept im Sinne der Rechtsprechung des BSG.

2. Das Konzept ist mangels Repräsentativität nicht schlüssig im Sinne der Rechtsprechung des BSG.

3. Das Datenmaterial, welches dem Konzept des Grundsicherungsträgers zu Grunde liegt, muss Auskunft darüber geben, in welchem Verhältnis einzelne Vermietertypen berücksichtigt worden sind.

4. Lässt sich nicht feststellen, in welchem Verhältnis Klein- und Großvermieter in der Datengrundlage abgebildet sind, ist von einer repräsentativen Datenerhebung nicht auszugehen.

5. Aufgrund der fehlenden Schlüssigkeit des Konzeptes sind die Werte nach dem Wohngeldgesetz zzgl. eines Sicherheitszuschlages in Höhe von 10 % als erstattungsfähige Kosten der Unterkunft zu gewähren.

1.4 – LSG NRW, Urt. v. 09.08.2022 – L 2 AS 1178/21

Stipendium vom Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) und die Rückerstattung von Krankenversicherungsbeiträgen/Prämienzahlung mindert das ALG II als einmalige Einnahme (Leitsatz Redakteur von Tacheles e. V.).

Orientierungshilfe Redakteur von Tacheles e. V.
1. Eine Privilegierung der Stipendienrate nach § 11a Abs. 3 Satz 1 SGB II kommt nicht in Betracht.

2. Die Stipendienrate kann auch nicht nach § 11a Abs. 5 SGB II unberücksichtigt bleiben.

3. Die Rückerstattung von Krankenversicherungsbeiträgen/Prämienzahlung ist nicht nach § 11a SGB II von der Berücksichtigung als Einkommen ausgeschlossen, sondern stellt Einkommen dar (LSG NRW, Urt. v. 30.08.2018 – L 6 AS 1676/17).

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

2. Entscheidungen der Sozialgerichte zur Grundsicherung nach dem (SGB II)

2.1 – SG Magdeburg, Beschluss v. 26.09.2022 – S 34 AS 828/22 ER

Angelegenheiten nach dem SGB II (AS)
Einstweiliger Rechtsschutz gegen eine Leistungsaufhebung aufgrund angenommener Ortsabwesenheit

Leitsatz
1. Der SGB II-Leistungsträger kann seine Leistungsablehnungsentscheidung für einen in der Zukunft liegenden Zeitraum nur dann auf § 7 Abs. 4a SGB II stützen, wenn feststeht, dass der sonst im Leistungsbezug Stehende, sich ohne Zustimmung tatsächlich zusammenhängend länger als sechs Monate nicht im zeit- und ortsnahen Bereich aufhalten wird. Eine Vermutung oder Prognose für zukünftige Leistungszeiträume, die sich auf die Aussage eine Nachbarin stützt, genügt jedenfalls nicht.

2. Die Anforderungen an das Wissen und Kennenmüssen der Erreichbarkeit im zeit- und ortsnahen Bereich als eine Art Residenzpflicht dürften, da der Verordnungsgeber bislang keinen Gebrauch von seiner Verordnungsermächtigung gemacht, nicht übermäßig hoch anzusetzen sein.

3. Der Folgenbeseitigungsanspruch nach § 86b Abs. 1 Satz 2 SGG erfordert eine gegenwärtige Notlage, die bei in der Vergangenheit liegenden Zeiträumen regelmäßig nicht anzunehmen ist.

Quelle: www.landesrecht.sachsen-anhalt.de

3. Entscheidungen der Landessozialgerichte zum Arbeitsförderungsrecht (SGB III)

3.1 – LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. – L 14 AL 42/18

Leitsätze
Auch wenn die Bundesagentur den Anschein einer vorläufigen Entscheidung gesetzt haben könnte, erfolgte eine rechtmäßige und endgültige Gleichwohlgewährung (Anschluss an BSG, Urteil vom 25. Oktober 1989 – 7 RAr 108/88 -, Rn. 23).

Eine Minderung der Anspruchsdauer für die Zeiten des Bezugs entfällt nachträglich erst, wenn die Bundesagentur für das gewährte Arbeitslosengeld Ersatz erlangt (Anschluss an BSG, Urteil vom 24. Juli 1986 – 7 RAr 4/85 und vom 9. August 1990 – 7 RAr 104/88).

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

4. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Sozialhilfe (SGB XII)

4.1 – LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 12.08.2022 – L 2 SO 1906/18

Leitsätze
Der Begriff der „häuslichen“ Pflegehilfe in § 64b SGB XII dient allein der Abgrenzung zur stationären Pflege. Für die Einstufung als häusliche Pflegehilfe kommt es also nicht auf den Aufenthaltsort des Pflegebedürftigen an, sondern allein auf die Art der Leistung. Wird die Pflege von einem ambulanten Pflegedienst oder einer einzelnen Pflegekraft durchgeführt, handelt es sich um „häusliche“ Pflegehilfe – unabhängig davon, ob sie zu Hause beim Pflegebedürftigen erfolgt oder anderswo, z.B. am Arbeitsplatz.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

4.2 – LSG Hessen, Beschluss v. 31.10.2022 – L 4 SO 133/22 B ER

Leitsätze
1. Zur Notwendigkeit der verfassungskonformen Auslegung von § 23 Abs. 3 Sätze 3 bis 6 SGB XII (hier: Abgrenzung zu BSG, Urteil vom 29. März 2022 – B 4 AS 2/21 R).

2. Unionsgrundrechte sind nach Art. 51 Abs. 1 GRCh auch dann anzuwenden, wenn materiell-rechtlich die Bedingungen der RL 2004/38/EG nicht mehr erfüllt werden, sondern allein nach günstigerem innerstaatlichem Recht von einer Rechtmäßigkeit des Aufenthalts auszugehen ist (Anschluss an EuGH, Urteil vom 15. Juli 2021 – Rs. C-709/20).

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

5. Entscheidungen zum Asylrecht und AsylbLG

5.1 – LSG Bayern, Beschluss v. 24.10.2022 – L 8 AY 106/22 B ER

Leitsätze
1. Zur Statthaftigkeit von Anträgen auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung und auf Erlass einer einstweiligen Anordnung bei erstmaliger Bewilligung in Form eingeschränkter Leistungen nach § 1a AsylbLG.

2. Eine Verletzung asyl- oder aufenthaltsrechtlicher Mitwirkungspflichten kann nicht zu einer Anspruchseinschränkung nach § 1a Abs. 3 AsylbLG führen, wenn die verlangte Mitwirkungshandlung dem Betreffenden krankheitsbedingt nicht möglich ist. Dabei ist eine originäre sozialrechtliche bzw. sozialgerichtliche Prüfung vorzunehmen.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

6. Verschiedenes zu Hartz IV, zur Sozialhilfe, zum Asylrecht, Wohngeldrecht und anderen Gesetzesbüchern

6.1 – BSG, Urt. v. 10.11.2022 – B 5 R 29/21 R u. B 5 R 31/21 R

Rentenversicherung – Erwerbsminderungsrente – Bestandsrentner – Zurechnungszeit

Leitsatz Redakteur von Tacheles e. V.
Bestandsrentner haben keinen Anspruch darauf, dass ihre Rente wegen voller Erwerbsminderung ab dem 1.1.2019 unter Berücksichtigung der ab diesem Zeitpunkt für Neurentner maßgeblichen längeren Zurechnungszeit neu festgesetzt wird.

Quelle: www.bsg.bund.de

Anmerkung Redakteur:
Leider habe ich nichts anderes erwartet, trotzdem eine Schande für die vielen Rentner!

Verfasser des Rechtsprechungstickers: Redakteur von Tacheles Detlef Brock
Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker