Sozialgericht Hildesheim – Urteil vom 23.11.2022 – Az.: S 27 AY 102/21

URTEIL

S 27 AY 102/21

In dem Rechtsstreit

xxx,

– Kläger –

Prozessbevollmächtigter:
Rechtsanwalt Sven Adam,
Lange Geismarstraße 55, 37073 Göttingen

gegen

Stadt Göttingen,
vertreten durch den Oberbürgermeister,
Hiroshimaplatz 1-4, 37083 Göttingen

– Beklagte –

hat die 27. Kammer des Sozialgerichts Hildesheim auf die mündliche Verhandlung vom 23. November 2022 durch die Richterin xxx sowie die ehrenamtliche Richterin xxx und den ehrenamtlichen Richter xxx für Recht erkannt:

Die Beklagte wird unter Abänderung der konkludenten Leistungsbewilligung in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.06.2021 verurteilt, dem Kläger privilegierte Leistungen gem. § 2 AsylbLG iVm. SGB XII für den Zeitraum 01.01.2021 – 30.06.2021 abzüglich bereits für diese Zeit erbrachter Leistungen zu gewähren.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Die Berufung wird zugelassen.

TATBESTAND

Der Kläger erstrebt die Gewährung höherer Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) für den Zeitraum 01.01.2021-30.06.2021.

Der 1994 geborene Kläger besitzt die irakische Staatsangehörigkeit und reiste seinen eigenen Angaben zufolge am 24.12.2017 in das Bundesgebiet ein. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) lehnte mit Bescheid vom 30.01.2018 den Asylantrag des Klägers als unzulässig ab, stellte keine Abschiebungsverbote fest und ordnete die Abschiebung nach Slowenien an. Die hiergegen gerichtete Klage vor dem Verwaltungsgericht (VG) Osnabrück blieb ohne Erfolg (VG Osnabrück, Urteil vom 09.07.2018 – 5 A 142/18).

Der Kläger wurde von der Landesaufnahmebehörde Niedersachsen zum 24.05.2018 dem örtlichen Zuständigkeitsbereich der Beklagten zugewiesen, die dem Kläger, der zunächst in einer städtischen Unterkunft untergebracht war, Grundleistungen gem. § 3 AsylbLG bewilligte. Er verfügte im streitigen Zeitraum weder über einsetzbares Einkommen noch über verwertbares Vermögen.

Mit sofort vollziehbarer Verfügung vom 08.01.2019 legte die Beklagte dem Kläger auf, sich montags bis freitags innerhalb der Zeit von 00.00 bis 06.00 Uhr in seiner Gemeinschaftsunterkunft aufzuhalten (sog. Nachtzeitverfügung). Bei einer Abwesenheit habe er eine Nachricht zu hinterlassen. Die gegen die Nachtzeitverfügung gerichtete Klage vor dem VG Göttingen vom 10.01.2019 wurde mit Beschluss vom 30.01.2019 im Rahmen einer Klagerücknahme eingestellt (Az. 1 A 17/19). Nachdem der erste Überstellungsversuch am 08.01.2020 um 03:30 Uhr wegen der Abwesenheit des Klägers scheiterte, blieb auch der zweite Überstellungsversuch am 04.02.2019 um 04:15 Uhr aufgrund seiner Abwesenheit erfolglos. Der dritte Überstellungsversuch vom 04.12.2019 wurde vom Landeskriminalamt Niedersachsen (LKA Nds.) storniert, da eine Begleitung wegen der Suizidalität des Klägers notwendig (sog. Transportbegleitung) war. Schließlich blieb der vierte Überstellungsversuch am 15.01.2020 erfolglos, weil dem Durchsuchungsbeschluss des Amtsgerichts Göttingens vom 08.01.2020 (64 XIV 1/20 L) das dem Kläger zugewiesene Appartement nicht vermerkt und auf dem Klingelbrett kein Name verzeichnet war. Nach Ablauf der Überstellungsfrist am 28.02.2020, erging die Entscheidung über den Asylantrag des Klägers im nationalen Verfahren. Mit Bescheid vom 21.04.2020 lehnte das BAMF den Asylantrag des Klägers ab. Seitdem wird der Kläger geduldet.

Die Beklagte gewährte dem Kläger durch konkludente Leistungsbewilligung Grundleistungen nach §§ 3, 3a AsylbLG für den streitgegenständlichen Leistungszeitraum. Den hiergegen gerichteten Widerspruch vom 15.03.2021 wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 14.06.2021 als unbegründet zurück.

Mit seiner am 15.06.2021 erhobenen Klage vor dem Sozialgericht Hildesheim verfolgt der Kläger sein Ziel weiter. Er macht geltend, bei der Übersetzung der Nachtzeitverfügung vom 08.01.2019 sei von einer Anwesenheitszeit von 00:00 bis 00:06 – mithin 6 Minuten – auszugehen. Der zweite Überstellungsversuch am 04.02.2019 um 04:15 Uhr sei hiervon nicht erfasst.

Der Kläger beantragt sinngemäß,
die Beklagte unter Abänderung der konkludenten Leistungsbewilligung in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.06.2021 zu verurteilen, dem Kläger die beantragten Leistungen im Zeitraum 01.01.2021-30.06.2021 in gesetzlicher Höhe zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Sie trägt unter Bezugnahme auf die erlassenen Bescheide vor. Der Kläger habe seinen Aufenthalt rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst. Er habe gegen seine Abmeldepflicht verstoßen, da er seine Abwesenheit nicht spätestens am vorherigen Tag angezeigt habe. Nur bei spontaner Abwesenheit bestehe nach der Nachzeitverfügung vom 08.01.2019 die Möglichkeit, eine schriftliche Nachricht unter Angabe des Aufenthaltsortes im Eingangsbereich der Wohnung zu hinterlassen. Ein solcher Hinweis habe sich bei dem zweiten Überstellungsversuch am 04.02.2019 nicht finden lassen. Die Bescheinigungen der Bewohner der Unterkunft vom 25.02.2019 seien als Gefälligkeitsbescheinigungen zu betrachten.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie den beigezogenen Ausländer- und Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen. Die Akten sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung geworden.

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE

Die Klage hat Erfolg. Die statthafte und auch im Übrigen zulässige kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage gem. § 54 Abs. 1 Satz 1 Var. 1, Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ist begründet.

Die angefochtene konkludente Leistungsbewilligung für den Zeitraum 01.01.2021-30.06.2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.06.2021 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 54 Abs. 2 SGG.

Der Kläger hat zur Überzeugung des Gerichts für den streitigen Zeitraum Anspruch auf privilegierte Leistungen gemäß § 2 Absatz 1 AsylbLG i.V.m. SGB XII analog unter Anrechnung bereits erbrachter Leistungen nach dem AsylbLG.

1.
Nach § 2 Abs. 1 AsylbLG in der seit dem 1.1.2020 geltenden Fassung des Artikel 5 Nr. 3 des zweiten Gesetzes zur Durchsetzung der Ausreisepflicht vom 15.8.2019 (BGBl I S. 1294) ist das SGB XII abweichend von den §§ 3 und 4 bis 6 bis 7 auf diejenigen Leistungsberechtigten entsprechend anzuwenden, die sich seit 18 Monaten ohne wesentliche Unterbrechung im Bundesgebiet aufhalten und die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben.

Abgesehen von der Frage, ob der Kläger die Dauer seines Aufenthalts im Bundesgebiet rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst hat, ist das Gericht zu der Überzeugung gelangt, dass die sonstigen Voraussetzungen für einen Anspruch auf lebensunterhaltssichernde Analog-Leistungen vorliegen. Der Kläger gehört zu den Leistungsberechtigten nach § 1 AsylbLG, weil er Duldungen nach § 60a AufenthG besitzt (§ 1 Abs. 1 Nr. 4 AsylbLG). Er hält sich auch lange genug ununterbrochen im Bundegebiet auf seit seiner Einreise im Dezember 2017. Es kann daher dahinstehen, ob ein ununterbrochener Aufenthalt von 18 Monaten oder wegen der Übergangsvorschrift des § 15 AsylbLG noch die davor geltende Aufenthaltsdauer von 15 Monaten Anwendung findet (vgl. Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 28.09.2021 – L 8 AY 19/21 B ER).

Zur Überzeugung des Gerichts hat der Kläger die Dauer seines Aufenthalts im Bundesgebiet bis zum Ende des streitigen Zeitraums nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst.

Bei der Beurteilung der Frage der Rechtsmissbräuchlichkeit ist auf die gesamte Dauer des Aufenthaltes im Bundesgebiet abzustellen (vgl. Grube/Wahrendorf/Flint/Leopold, 7. Aufl. 2020, AsylbLG § 2 Rn. 27). Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) (grundlegend: Urteil vom 17. Juni 2008 – B 8/9b AY 1/07 R – juris Rn. 32 ff.) setzt ein rechtsmissbräuchliches Verhalten im Sinne des § 2 Abs. 1 AsylbLG in objektiver Hinsicht ein unredliches, von der Rechtsordnung missbilligtes Verhalten voraus, das in subjektiver Hinsicht vorsätzlich im Bewusstsein der objektiv möglichen Aufenthaltsbeeinflussung getragen ist. Dabei genügt angesichts des Sanktionscharakters des § 2 AsylbLG nicht schon jedes irgendwie zu missbilligende Verhalten. Art, Ausmaß und Folgen der Pflichtverletzung wiegen für den Ausländer so schwer, dass auch der Pflichtverletzung im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ein erhebliches Gewicht zukommen muss. Daher kann nur ein Verhalten, das unter jeweiliger Berücksichtigung des Einzelfalls, der besonderen Situation eines Ausländers in der Bundesrepublik Deutschland und der besonderen Eigenheiten des AsylbLG unentschuldbar ist (Sozialwidrigkeit), zum Ausschluss von Analog-Leistungen führen. Eine Ausnahme ist zu machen, wenn eine etwaige Ausreisepflicht des betroffenen Ausländers unabhängig von seinem Verhalten ohnehin in dem gesamten Zeitraum des Rechtsmissbrauchs nicht hätte vollzogen werden können (BSG, a.a.O., Rn. 44).

Dabei dürfe sich der Leistungsberechtigte nicht auf einen Umstand berufen, welchen er selbst treuwidrig herbeigeführt habe. Der Pflichtverletzung muss in diesem Kontext im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsprinzipes unter Berücksichtigung des Einzelfalles ein erhebliches Gewicht zukommen. Dabei stellt das BSG klar, dass auch ein einmaliges Verhalten diese Rechtsfolge zeitigen könne. Auf der subjektiven Seite setzt nach der zitierten höchstrichterlichen Rechtsprechung der Vorwurf der rechtsmissbräuchlichen Selbstbeeinflussung der Dauer des Aufenthaltes im Bundesgebiet Vorsatz voraus.

Der Kläger hat zur Überzeugung des Gerichts die Dauer seines Aufenthaltes im Bundesgebiet nicht im Sinne des § 2 Absatz 1 AsylbLG durch eigenes Verhalten rechtsmissbräuchlich beeinflusst. Insbesondere liegt kein Fall des Untertauchens vor. Bei einem Untertauchen eines Ausländers wird die Ausländerbehörde daran gehindert, die Ausreisepflicht nach § 50 Abs.1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) zu vollstrecken (vgl. SG Frankfurt, Beschluss vom 12. März 2020 – S 30 AY 3/20 ER –, Rn. 15, juris).

Insbesondere hat der Kläger die vier Überstellungsversuche nicht vereitelt. Wie bereits die 42. Kammer des Sozialgerichts mit Beschluss vom 25.03.2020 (S 42 AY 211/19 ER) entschied, lässt sich das Scheitern des ersten Überstellungsversuchs vom 08.01.2019 nicht auf einen Verstoß des Klägers gegen die Nachtzeitverfügung vom selben Tag stützen, obgleich er nicht in der Gemeinschaftsunterkunft angetroffen werden konnte. Denn die Verfügung wurde dem Kläger erst am 10.01.2019 bekannt gegeben und erst ab diesem Zeitpunkt wirksam (§ 39 Absatz 1 Satz 1 SGB X). Damit bestand in der Nacht des 08.01.2019 keine Anwesenheitspflicht, sondern die Behörde hätte die Bekanntgabe der Verfügung zunächst abwarten müssen.

Auch kann das Scheitern des zweiten Überstellungsversuchs vom 04.02.2019 nicht dem Verantwortungsbereich des Klägers zugerechnet werden. Der Kläger hat zurecht darauf hingewiesen, dass die in die Muttersprache des Klägers übersetzte Nachzeitverfügung fehlerhaft war. So beinhaltete die Übersetzung der Nachzeitverfügung vom 08.01.2019 eine Anwesenheitszeit von 00:00 bis 00:06 Uhr – mithin 6 Minuten. Da die Nachzeitverfügung auch weitere Fehler – so beispielsweise bei der Benennung der Faxnummer – aufweist, konnte der Kläger nicht davon ausgehen, dass sie die tatsächliche Anwesenheitspflicht auf die Zeit von 00:00 Uhr bis 06:00 Uhr bezieht. Zur Überzeugung des Gerichts ist daher nicht entscheidend, ob es sich bei den Bescheinigungen der beiden Mitbewohner des Klägers um sog. Gefälligkeitsbescheinigungen handelt. Der Kläger setzte die Beklagte in Kenntnis, sich gelegentlich bei einer Bekannten aufzuhalten. Der Aufenthaltsort des Klägers war somit bekannt.

Zur Überzeugung des Gerichts ist das Scheitern der weiteren Überstellungsversuche am 04.12.2019 und 15.01.2020 ebenfalls nicht auf einen Verstoß des Klägers gegen die Nachtzeitverfügung vom 08.01.2018 zu stützen. Denn der Überstellungsversuch vom 04.12.2019 wurde bereits durch das LKA im Vorfeld storniert, da eine notwendige Transportbegleitung nicht organisiert worden war. Schließlich wurde der Überstellungsversuch vom 15.01.2020 abgebrochen, da kein Appartement auf dem Durchsuchungsbeschluss des Amtsgerichts Göttingen vom 08.01.2020 – 64 XIV 1/20 L vermerkt und auf dem Klingelbrett kein Name verzeichnet war. Die Stornierung und der Abbruch der entsprechenden Überstellungsversuche sind nicht dem Verantwortungsbereich des Klägers zuzurechnen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Absatz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Danach sind die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers erstattungsfähige Kosten im Sinne des § 193 Abs. 1 SGG.

Gemäß § 144 Absatz 1 Satz 1 Nr. 1, Absatz 2 SGG bedarf die Berufung der Zulassung, weil hier die Beschwer der Beklagte unterhalb des Schwellenwertes von 750,– Euro liegt. Die Berufung wird zugelassen, weil die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat.

Es folgt die Rechtsmittelbelehrung.