Tacheles Rechtsprechungsticker KW 48/2022

1. Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum AsylbLG

1.1 – BVerfG 1 BvL 3/21 (§ 2 Abs. 1 S. 4 Nr. 1 AsylbLG)

Dürfen die Leistungen für Alleinstehende und Alleinerziehende in Sammelunterkünften pauschal um 10% gekürzt werden?

Niedrigere „Sonderbedarfsstufe“ für alleinstehende erwachsene Asylbewerber in Sammelunterkünften verstößt gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums

Leitsatz Redakteur von Tacheles e. V.
Leistungen für Alleinstehende und Alleinerziehende in Sammelunterkünften dürfen nicht pauschal um 10% gekürzt werden.

Pressemitteilung Nr. 96/2022 vom 24. November 2022 www.bundesverfassungsgericht.de

Beschluss vom 19. Oktober 2022
1 BvL 3/21

Hinweis:
Hier erste Einschätzungen für die Praxis zur BVerfG-Entscheidung 1 BvL 3/21 (Zwangsverpartnerung im AsylbLG)

Newsletter – 19- 2022 von RA Volker Gerloff

Empfehlenswertes zu lesen:
»Asylbewerberleistungsgesetz nicht fortentwickeln, sondern abschaffen« Leistungskürzungen für alleinstehende und alleinerziehende Geflüchtete im AsylbLG sind verfassungswidrig. Zum Beschluss des Bundesverfassungsgerichts ein Interview mit der prozessbeteiligten Rechtsanwältin Eva Steffen

weiter: www.proasyl.de

2. Entscheidungen des Bundessozialgerichts zur Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem (SGB II) und zum Kinderzuschlag

2.1 – BSG, Urt. v. 13.07.2022 – B 7/14 AS 52/21 R

Arbeitslosengeld II – Unterkunft und Heizung – darlehensweise Übernahme von Mietschulden – Sicherung der Unterkunft – Erforderlichkeit einer gesonderten Antragstellung

Orientierungshilfe Redakteur von Tacheles e. V.
1. Bei der Übernahme von Mietschulden bedarf es keines besonderen Antrags.

2. Der Übernahme der Schulden steht grundsätzlich nicht entgegen, wenn ein Leistungsberechtigter nach der Anzeige seines Bedarfs gegenüber dem Jobcenter mit Hilfe eines anderweitig beschafften Darlehens die Unterkunft durch Begleichung der Mietschulden an den Vermieter gesichert hat.

Quelle: www.rechtsprechung-im-internet.de

Hinweis Rz. 32:
„§ 22 Abs 8 Satz 3 SGB II. Dieser sieht – als gesetzlich geregelten Fall einer zumutbaren Selbsthilfemöglichkeit – den Einsatz des sonst dem Vermögensschutz unterfallenden Grundfreibetrags (§ 12 Abs 2 Satz 1 Nr 1 SGB II) vor. Demgegenüber ist der Anschaffungsfreibetrag (§ 12 Abs 2 Satz 1 Nr 4 SGB II) nicht zu berücksichtigen.

Der erkennende Senat hält insoweit an anderslautender Rechtsprechung nicht fest (BSG vom 17.6.2010 – B 14 AS 58/09 R – BSGE 106, 190 = SozR 4-4200 § 22 Nr 41, RdNr 33; dazu Krauß in Hauck/Noftz, SGB II, § 22 RdNr 419, Stand Januar 2021).“ [Rdnr. 32]

2.2 – BSG, Urt. v. 13.07.2022 – B 7/14 KG 1/21 R

Kinderzuschlag – nicht erwerbsfähige Eltern

Kinderzuschlag grundsätzlich nur für erwerbsfähige Eltern

Leitsatz Redakteur von Tacheles e. V.
Sind beide Eltern nicht erwerbsfähig, besteht für die Bedarfsgemeinschaft mit Kind kein Anspruch auf Kinderzuschlag.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

3. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung nach dem (SGB II)

3.1 – LSG Thüringen, Urt. v. 30.06.2022 – L 7 AS 747/20 – Revision zugelassen

Leitsätze
§ 7 Abs. 4 SGB II, § 16 JGG

Grundsicherung für Arbeitsuchende – Leistungsausschluss bei Aufenthalt in stationärer Einrichtung – Aufenthalt in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung – Nichtvorliegen einer richterlich angeordneten Freiheitsentziehung bei Jugendarrest nach § 16 JGG – Integrationsbemühungen zur Eingliederung in Arbeit

1. Die Verbüßung eines Jugendarrestes nach § 16 Jugendgerichtsgesetz (JGG) unterfällt nicht dem Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 4 SGB 2. Der Jugendliche steht bei der Verbüßung eines Jugendarrestes nach § 16 JGG für Integrationsbemühungen zur Eingliederung in Arbeit ausreichend zur Verfügung.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

Hinweis Redakteur v. Tacheles e. V.:
ebenso LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 24. September 2014 – L 4 AS 318/13, a.A. Sächsisches LSG, Beschluss vom 8. August 2022 – L 6 AS 431/21 (siehe Tacheles Rechtsprechungsticker KW 37/2022 Punkt 2.2)

3.2 – LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 14.10.2022 – L 9 AS 458/19

Leitsätze
Wer als Behörde wegen Personalmangel eine Hauspolitik praktiziert, wonach jüngere Widersprüche vor älteren einer Bearbeitung zugeführt werden und darüber keinerlei Zwischenmitteilung an Widerspruchsführer erlässt, muss nach einer Widerspruchsdauer von über sieben Jahren im Rahmen der Widerspruchsentscheidung den Einwand unzulässiger Rechtsausübung für die angefochtene Erstattungsforderung prüfen (hier bejaht).

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

3.3 – LSG Bayern, Beschluss v. 10.11.2022 – L 2 AS 492/22 B

Leitsätze
Aus dem Ordnungsgeldbeschluss gegen einen nicht erschienenen Beteiligten, dessen persönliches Erscheinen angeordnet war, muss erkennbar sein, dass bei der Verhängung des Ordnungsgeldes eine Ermessensentscheidung getroffen worden ist.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

3.4 – LSG Berlin-Potsdam, Beschluss vom 21.02.2022 – L 32 AS 139/22 B ER WA

Leitsatz:
Auch Gerichtskosten und Gerichtsvollziehergebühren gehören zu den Mietschulden nach § 22 Abs. 8 SGB II

Orientierungssatz:
Der Wortlaut des § 22 Abs. 8 SGB II ist offen gefasst und nicht auf Schulden aus dem Mietvertrag bzw. Mietverhältnis beschränkt.

Schulden sind in dem Umfang darlehensweise zu übernehmen, in dem sie zur Abwendung der Wohnungslosigkeit notwendig sind.

Daher gehören zu Mietschulden ggf. auch Gerichtskosten und Gerichtsvollziehergebühren sowie Kosten des Vermieters, an die er die Fortführung bzw. den Neuabschluss des Mietvertrages geknüpft hat.

Anmerkung zu LSG Berlin-Potsdam, Beschluss vom 21.02.2022, L 32 AS 139/22 B ER WA von Claudia Theesfeld-Betten, Ass. jur, abgedruckt in Miet und Wohnungseigentumsrecht in Juris Praxis Report

Hinweis Redakteur v. Tacheles e. V.
Bayerisches Landessozialgericht, Beschluss v. 18.01.2021 – L 16 AS 654/20 B ER

Arbeitslosengeld II – Unterkunft und Heizung – Entstehung der Mietrückstände aufgrund einer rechtswidrigen Leistungsversagung – Übernahme der durch das Mahnverfahren entstandenen Zinsen und Kosten als Kosten der Unterkunft

Leitsatz (Redakteur)
Zur Übernahme der durch das Mahnverfahren entstandenen Zinsen und Kosten als Kosten der Unterkunft nach § 22 Abs. 1 SGB II, hier bejahend.

Orientierungshilfe (Redakteur)
1. Unter bestimmten Voraussetzungen kommt auch die Übernahme von Gerichts- und Anwaltskosten, die im Zusammenhang mit den Unterkunftskosten entstanden sind, als sog. Annex zu den Kosten nach § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II in Betracht.

2. Entstehen infolge einer unberechtigten Versagung von SGB II-Leistungen Mietrückstände und erhebt der Vermieter deshalb Räumungsklage, sind auch die dem Leistungsberechtigten auferlegten Gerichtskosten als einmalig anfallender Bedarf im Fälligkeitsmonat für die Unterkunft zu berücksichtigen (vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 27.06.2014 – L 9 AS 1742/14, Rdnr. 56 juris unter Verweis auf BSG, Urteil vom 17.06.2010 – B 14 AS 58/09 R zur Übernahme von Rechtsanwalts-, Gerichts- und Vollstreckungskosten zur Sicherung der Unterkunft im Falle der Übernahme von Mietschulden nach § 22 Abs. 5 SGB II a.F.; Bayerisches LSG, Urteil vom 30.01.2014 – L 7 AS 676/13).

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

4. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Sozialhilfe (SGB XII)

4.1 – LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss v. 18.08.2022 – L 8 SO 24/22 B ER

Angelegenheiten nach dem SGB XII (SO) – Zur Zuständigkeit des Trägers der Eingliederungshilfe für Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft

Orientierungshilfe Redakteur von Tacheles e. V.
Hilfebedürftiger hat Anspruch auf persönliches Budget zur Überwindung seiner Drogensucht, obwohl der Betroffene als erwerbsfähig gilt und Leistungen nach dem SGB II bezieht. Daneben kommen auch Leistungen der Eingliederungshilfe in Betracht.

Quelle: www.landesrecht.sachsen-anhalt.de

Hinweis Redakteur:
erwähnend von Rechtsanwalt Prof. Dr. Hermann Plagemann in der Urteilsanalyse zu BSG, Urteil vom 19.05.2022 – B 8 SO 13/20 R, BeckRS 2022, 27032

5. Entscheidungen zum Asylrecht und AsylbLG

5.1 – LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 04.11.2022 – L 15 AY 13/22 B ER / L 15 AY 14/22 B ER PKH

Leitsätze
§ 2 Abs. 2 AsylbLG i.V.m.§ 3 Abs. 3 Satz 3 AsylbLG eröffnet (lediglich) einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung der Asylbewerberleistungsbehörde über die Gewährung einer Wohnung außerhalb einer Gemeinschaftsunterkunft als Sachleistung.

Ein „Untätigkeitsantrag“ im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes ist unzulässig, da die Voraussetzungen einer Untätigkeitsklage in § 88 SGG abschließend geregelt sind und durch § 86b SGG nicht unterlaufen werden dürfen; auch wäre eine „vorläufige“ Verpflichtung zur Bescheidung ein Widerspruch in sich.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

6. Verschiedenes zu Hartz IV, zur Sozialhilfe, zum Asylrecht, Wohngeldrecht und anderen Gesetzesbüchern

6.1 – Mit Recht zum Recht

Asylbewerberleistungen – mit Recht zum Recht

Idee und Konzeption: RAin Sabine Vollrath, Kiel

weiter: zusammenland.de

6.2 – Newsletter RA Volker Gerloff 19/2022 mit erster Einschätzungen für die Praxis zur BVerfG-Entscheidung 1 BvL 3/21 (Zwangsverpartnerung im AsylbLG)

weiter: www.ra-gerloff.de

6.3 – Keine Eilbedürftigkeit bei ALG II anstatt Hilfe zum Lebensunterhalt, ein Beitrag von RA Helge Hildebrandt zu Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Beschluss vom 02.08.2022, L 9 SO 71/22 B ER

weiter: sozialberatung-kiel.de

6.4 – Höhere Leistungen für Asylbewerber bis zu ein Jahr rückwirkend! Ein Beitrag von RA

Doreen Bastian
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Beschluss vom 19.10.2022 (Aktenzeichen: 1 BvL 3/21) entschieden, dass die Kürzung der Regelbedarfe für alleinstehende Erwachsene in Gemeinschaftsunterkünften um 10 % (Regelbedarfsstufe 2) verfassungswidrig ist.

Das Bundesverfassungsgericht hat zwar mitgeteilt, dass bereits bestandskräftige Leistungsbescheide seit August 2019 auch bestandskräftig bleiben, mithin ein Überprüfungsverfahren nicht erfolgreich sein wird. Allerdings werden Asylbewerberleistungen oftmals einfach ohne Bescheid ausgezahlt, sodass eine entsprechende Rechtsmittelbelehrung fehlt. Es gilt dann nicht die Monatsfrist für den Widerspruch, sondern eine Jahresfrist. Dies bedeutet, dass alle Auszahlungen bis Dezember 2021 rückwirkend noch mit dem Widerspruch angefochten werden können, mithin nicht bestandskräftig sind. Es geht somit um eine Nachzahlung für jeden Betroffenen in Höhe von EUR 444,00 (EUR 37,00 × 12).

Quelle: www.anwalt.de

Hinweis Redakteur v. Tacheles e. V.:
So auch RA Volker Gerloff in seinem aktuellem Newsletter 19/2022: „Falls eine Rechtsbehelfsbelehrung fehlt (bspw. weil gar kein schriftlicher Bescheid erging) oder wenn die Belehrung falsch/unvollständig ist, dann gilt 1 Jahr als Widerspruchsfrist.“

Quelle: www.ra-gerloff.de

Verfasser des Rechtsprechungstickers: Redakteur von Tacheles Detlef Brock
Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker