Tacheles Rechtsprechungsticker KW 51/2022

1. Entscheidungen des Bundessozialgerichts zur Grundsicherung nach dem (SGB II)

1.1 – BSG, Urt. v. 08.12.2022 – B 7/14 AS 11/21 R

Grundsicherung für Arbeitsuchende – ausländische Altersrente – Leistungsausschluss

Leitsatz Redakteur v. Tacheles e. V.
Bezug einer russischen Altersarbeitsrente schließt Leistungen nach dem SGB II aus (§ 7 Abs. 4 SGB II).

Orientierungshilfe Redakteur v. Tacheles e. V.
Der Rücknahme und Erstattung von SGB II-Leistungen (und Beiträgen) steht die Regelung des § 107 Abs 1 SGB X nicht entgegen, denn der erstattungsberechtigte SGB II-Leistungsträger kann gegenüber dem Träger der Sozialhilfe gemäß § 105 Abs 3 SGB X Erstattung erst ab dem Zeitpunkt verlangen, zu dem diesem bekannt ist, dass die Voraussetzungen seiner Leistungspflicht vorliegen. Die Kenntnis des SGB II-Leistungsträgers ist dem Sozialhilfeträger im Erstattungsrechtsverhältnis nicht zuzurechnen.

Quelle: www.bsg.bund.de

Hinweis Redakteur v. Tacheles e. V.:
ebenso BSG, Urt. v. 08.12.2022 – B 7/14 AS 10/21 R

2. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung nach dem (SGB II)

2.1 – LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 16.03.2022 – L 1 AS 2112/18

Ermittlung der angemessenen Kosten der Unterkunft durch den Grundsicherungsträger – wirksame Kostensenkungsaufforderung

Orientierungssatz
1. Die angemessene Wohnfläche für einen Zweipersonenhaushalt beträgt bis zu 65 qm. (Rn.37)

2. Bei Fehlen eines schlüssigen Konzepts zur Ermittlung der angemessenen Kosten der Unterkunft nach § 22 SGB 2 müssen bei einem Rückgriff auf die Tabellenwerte des § 12 Abs. 1 WoGG die regionalen Verhältnisse einfließen. (Rn.60)

3. Für ein wirksames Kostensenkungsaufforderungsverfahren ist erforderlich, aber auch ausreichend, wenn der Grundsicherungsträger dem Berechtigten die angemessenen Grenzwerte mitteilt. (Rn.64)

Quelle: gesetze.berlin.de

3. Entscheidungen der Sozialgerichte zur Grundsicherung nach dem (SGB II)

3.1 – SG München, Urt. v. 30.06.2022 – S 8 AS 1311/20

Leitsätze
Bei der Frage, welche Kosten der Unterkunft als angemessen im Sinne von § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II anzusehen sind, ist unter folgenden Voraussetzungen nicht auf die Werte nach der Tabelle zu § 12 Wohngeldgesetz zuzüglich 10% (Wohngeldtabelle + 10%) zurückzugreifen:

1) Das von einem SGB II-Leistungsträger angewendete Konzept zur Festlegung der Mietobergrenzen ist unschlüssig,

2) Erkenntnisausfall ist gegeben,

3) der Wert nach Wohngeldtabelle + 10% liegt noch unterhalb der Mietobergrenze im unschlüssigen Konzept, und

4) eine Nachbesserung des Konzeptes durch den Träger ist unmöglich oder trotz Aufforderung nicht erfolgt oder eine Aufforderung ist entbehrlich, weil sich der Träger darauf beruft, dass der Wert nach Wohngeldtabelle + 10% ohnehin noch unterhalb der Mietobergrenzen im unschlüssigen Konzept liege. Vielmehr sind in diesen Fällen die tatsächlichen Kosten der Unterkunft als Bedarfe der Unterkunft im Sinne von § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II anzusetzen. Denn eine von den tatsächlichen Kosten der Unterkunft abweichende angemessene Bedarfshöhe ist in diesen Fällen weder vom SGB II-Leistungsträger nachgewiesen, noch ist sie durch das Gericht ermittelbar, und die Werte nach Wohngeldtabelle + 10% sind offensichtlich und schon nach dem nicht schlüssigen Konzept nicht ausreichend, um das Existenzminimum zu sichern. Die objektive Beweislast für einen niedriger als die tatsächlichen Unterkunftskosten anzusetzenden angemessenen Bedarf an Unterkunftskosten liegt jedoch beim SGB-II-Leistungsträger, da § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II vom Grundsatz ausgeht, dass die tatsächlichen Kosten der Unterkunft als Bedarfe anzusetzen sind. Die Absenkung auf die angemessenen Kosten ist eine für den SGB II-Leistungsträger günstige Abweichung (soweit sie angemessen sind) von diesem Grundsatz, sodass ihn die objektive Beweislast trifft. Die Anwendung des Wertes nach Wohngeldtabelle + 10% in den oben genannten Fällen führt hingegen faktisch zu einem Verstoß gegen das Gebot effektiven Rechtsschutzes (Art 19 Abs. 4 GG) bei der gerichtlichen Überprüfbarkeit von Mietobergrenzenkonzepten.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

3.2 – SG Detmold, Urt. v. 08.11.2022 – S 35 AS 619/22

Urteil | Grundsicherung für Arbeitsuchende – Bedarfe für die Unterkunft und Heizung – Heizkostennachzahlung als aktueller Bedarf im Fälligkeitsmonat – fehlende Übernahmefähigkeit von Heizkostennachzahlungen bei Leistungsausschluss aufgrund von Haftantritt vor Fälligkeit | § 22 Abs. 1 S. 1 SGB II, § 7 Abs. 4 S. 1, 2, 3 Nr. 2 SGB II.

Leitsätze
1. Heizkostennachzahlungen, die durch einen Mehrverbrauch im Abrechnungszeitraum entstanden sind, werden – soweit diese angemessen sind – als Bedarf für die Unterkunft und Heizung gemäß § 22 Abs. 1 S. 1 SGB II im Monat der Fälligkeit in tatsächlicher Höhe anerkannt.

2. Eine Übernahme der erst nach Haftantritt und Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 4 S. 1, 2 SGB II fällig gewordenen Heizkostenabrechnung für den vergangenen Bewilligungszeitraum scheidet grundsätzlich aus.

3. Der Aufenthalt in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung im Sinne des § 7 Abs. 4 S. 2 SGB II schließt die Anwendbarkeit des § 7 Abs. 4 S. 3 Nr. 2 SGB II nicht aus, wenn eine Erwerbstätigkeit von mindestens 15 Stunden unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts tatsächlich ausgeübt wird.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

3.3 – SG Frankfurt, Urt. v. 20.09.2022 – S 16 AS 1321/20 – Berufung anhängig beim LSG Hessen L 7 AS 421/22

Zu der in der Rechtsprechung der Landessozialgerichte und der Literatur umstrittenen Frage, ob ein Aufenthaltsrecht nach § 11 Abs. 14 S. 1 FreizügG/EU (§ 11 Abs. 1 S. 11 FreizügG/EU a.F.) i.V.m. § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AufenthG und Art. 18 Abs. 1 AEUV dem sorgeberechtigten Elternteil eines wegen der Begleitung des anderen Elternteils nach § 3 Abs. 1 S. 1 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigten minderjährigen Unionsbürgers ein Aufenthaltsrecht vermitteln könne, hier bejahend.

Leitsatz Redakteur v. Tacheles e. V.
Das nicht-deutsche minderjährige Kind mit Unionsbürgerschaft und Aufenthaltsrecht in Deutschland vermittelt der Mutter ein Aufenthaltsrecht nach § 11 FreizügG/EU iVm. § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AufenthG analog.

Orientierungshilfe Redakteur v. Tacheles e. V.
Die Vorschrift des § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AufenthG findet aufgrund des in Artikel 18 Abs. 1 AEUV statuierten Verbots der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit auch auf minderjährige Unionsbürger, die über ein Aufenthaltsrecht nach dem FreizügG/EU verfügen und ihrer Eltern Anwendung (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 30.11.2015, Az. L 19 AS 1713/15 B ER, Beschluss vom 20.01.2016, Az. L 19 AS 1824/15 B ER, Beschluss vom 22.06.2016, Az. L 19 AS 924/16 B ER, Beschluss vom 01.08.2017, Az. L 19 AS 1131/17 B ER, Beschluss vom 30. Oktober 2018, Az. L 19 AS 1472/18 B ER; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 29.06.2016, Az. L 25 AS 1331/16 B ER; Bergmann/Dienelt/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Aufl. 2022, FreizügG/EU § 11 Rn. 86 ff.; NK-AuslR/Thomas Oberhäuser, 2. Aufl. 2016, Freizügigkeitsgesetz/EU § 1, Rn. 57-59; a. A. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 22.05.2017, Az. L 31 AS 1000/17 B ER; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 27.07.2017, Az. L 21 AS 782/17 B ER; LSG Hessen, Beschluss vom 21.08.2019, Az. L 7 AS 285/19 B ER).

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

3.4 – SG Speyer, Urteil vom 21.11.2022 – S 18 AS 917/20 nicht rechtskräftig

Grundsicherung für Arbeitssuchende – Zurechnung des Kindergeldes als Einkommen des kindergeldberechtigten Vaters auch bei Auszahlung der Familienkasse an das im Haushalt lebende volljährige Kind

Kindergeld ist Einkommen des Kindergeldberechtigten

Leitsatz Redakteur v. Tacheles e. V.
1. Erhält ein Kindergeldberechtigter Leistungen nach dem SGB II, so ist ihm das Kindergeld grundsätzlich auch dann als Einkommen anzurechnen, wenn die Familienkasse es an das im Haushalt lebende volljährige Kind auszahlt.

2. Das Kind war im vorliegenden Fall, an welches das Kindergeld ausgezahlt wurde, aufgrund von Vermögen selbst nicht hilfebedürftig.

Pressemitteilung 2/2022 des Sozialgerichts Speyer v. 15.12.2022

4. Entscheidungen der Landessozialgerichte und Sozialgerichte zum Arbeitsförderungsrecht nach dem (SGB III)

4.1 – LSG Schleswig-Holstein, Urt. v. 18.11.2022 – L 3 AL 33/20

Leitsätze
Auf selbstbeschaffte Leistungen der beruflichen Weiterbildung ist die Erstattungsregelung aus § 18 Abs.6 SGB 9 (ehem. § 15 Abs.1 S.4 SGB 9) nicht direkt anwendbar, wenn diese Leistungen nicht zum Ausgleich einer Behinderung im Sinne des SGB 9 erforderlich sind.

Die Erstattung von Kosten bei Selbstbeschaffung unaufschiebbarer Sozialleistungen und im Fall rechtswidriger Leistungsablehnungen ist aber ein allgemeiner Rechtsgedanke des Sozialrechts, so dass die Grundgedanken dieser Regelung auch bei selbstbeschafften und zuvor abgelehnten Leistungen der beruflichen Weiterbildung anwendbar sind.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

4.2 – SG Freiburg, Urt. v. 15.03.2022 – S 15 AL 1855/20

Leitsätze
Die Erstattungsvorschrift des § 145 Abs. 3 Satz 2 SGB III ist trotz der Verweisungen in §§ 93 Abs. 3 und 156 Abs. 2 Satz 2 SGB III nicht auf die Bewilligung von Gründungszuschuss anwendbar.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

5. Entscheidungen der Landessozialgerichte und Sozialgerichte zur Sozialhilfe (SGB XII)

5.1 – LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 17.11.2022 – L 7 SO 619/21 – Revision zugelassen

Zur Berücksichtigung von Beiträgen zu einer Sterbegeldversicherung im Rahmen der Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Vierten Kapitel des SGB XII.

Leitsatz Redakteur von Tacheles e. V.
Eine Absetzbarkeit kommt nur in Betracht, wenn die Beiträge nach Grund und Höhe angemessen sind, was vorliegend nicht der Fall ist.

Orientierungshilfe Redakteur v. Tacheles e. V.
Der Hilfebedürftige muss seinen Wunsch, für eine angemessene Bestattung vorzusorgen, dadurch verwirklichen, dass er bereits zu Lebzeiten eine entsprechende Vermögensdisposition trifft und ihm dieser Vermögenswert somit nicht mehr zur freien Verfügung steht. Nur wenn der Hilfebedürftige die für die Bestattung vorgesehenen Mittel aus seinem übrigen Vermögen ausgeschieden und mit einer entsprechenden Zweckbindung verbindlich festgelegt hat, stellt der Einsatz dieser Mittel für den Lebensunterhalt für ihn eine unzumutbare Härte i.S.v. § 90 Abs. 3 Satz 1 SGB XII dar (vgl. Bundesgerichtshof [BGH], Beschluss vom 30. April 2014 – XII ZB 632/13; ebenso LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 22. Juni 2022 – L 2 SO 126/20 –) und ist eine Förderung durch Übernahme der Beiträge als Bedarf oder deren Absetzung vom Einkommen gerechtfertigt.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

5.2 – SG Freiburg, Beschluss v. 05.12.2022 – S 9 SO 3201/22 ER

Leitsätze
Ansprüche auf zweckidentische Leistungen Anderer, die weder Rehabilitations- noch Leistungsträger sind (hier: Beihilfe und private Krankenversicherung), schließen einen Anspruch auf Eingliederungshilfeleistungen so lange nicht aus, wie diese „Anderen“ tatsächlich keine Leistungen erbringen.

Das Konkurrenzverhältnis richtet sich weder nach § 14 SGB IX noch nach dem Schwerpunkt oder dem vorrangigen Zweck der Leistung. Maßgeblich sind vielmehr die speziellen Normen, die den Nachrang der Eingliederungshilfe regeln.

Danach hat in der Regel der Träger der Eingliederungshilfe vorzuleisten und kann korrespondierende Ansprüche gegen die „Anderen“ nach § 141 SGB IX auf sich überleiten.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

5.3 – SG Köln, Urt. v. 30.11.2022 – S 10 SO 205/22

Auch Sozialämter müssen die täglichen zusätzlichen Fahrtkosten einer Methadonbehandlung übernehmen (Pressemeldung des Erwerbslosenforum Deutschland vom 14.12.2022)

Quelle: www.scharf-links.de

Hinweis Redakteur v. Tacheles e. V.:
zum SGB II: LSG Baden-Württemberg Urteil vom 18.3.2020, L 3 AS 3212/18

Leitsätze
1. Bei täglich entstehenden Fahrtkosten zu einer Methadon-Substitutionsbehandlung handelt es sich um einen unabweisbaren, laufenden, nicht nur einmaligen Bedarf im Sinne des § 21 Abs. 6 Satz 1 SGB II (Anschluss an LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 19.03.2015 – L 6 AS 1926/14 -).

2. Der Fahrtkostenbedarf ist insbesondere auch unabweisbar, weil er nicht durch Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung gedeckt ist (Anschluss an LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 15.02.2016 – L 7 AS 1681/15 B -).

3. Die Trennung der Leistungssysteme der Grundsicherung für Arbeitsuchende und der gesetzlichen Krankenversicherung steht einem Anspruch nach § 21 Abs. 6 Satz 1 SGB II nicht grundsätzlich entgegen (Anschluss an BSG, Urteil vom 12.12.2013 – B 4 AS 6/13 R -).

Wir wünschen allen Lesern eine schöne, besinnliche und friedliche Weihnachtszeit!

Verfasser des Rechtsprechungstickers: Redakteur von Tacheles Detlef Brock
Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker