Hessisches Landessozialgericht – Beschluss vom 20.12.2022 – Az.: L 4 AY 28/22 B ER und L 4 AY 29/22 B

BESCHLUSS

In dem Beschwerdeverfahren

xxx,

Antragstellerin und Beschwerdeführerin,

Prozessbevollm.:
Rechtsanwalt Sven Adam,
Lange Geismarstraße 55, 37073 Göttingen,

gegen

Kreis Offenbach, vertreten durch den Kreisausschuss,
– Fachdienst Kommunalaufsicht und Recht -,
Werner-Hilpert-Straße 1, 63128 Dietzenbach,

Antragsgegner und Beschwerdegegner,

hat der 4. Senat des Hessischen Landessozialgerichts in Darmstadt am 20. Dezember 2022 durch den Vorsitzenden Richter am Landessozialgericht xxx, die Richterin am Landessozialgericht xxx und den Richter am Landessozialgericht xxx beschlossen:

Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Darmstadt vom 22. Juli 2022 geändert.

Der Antragsgegner wird verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig Leistungen nach §§ 3, 3a AsylbLG in der Regelbedarfsstufe 1 für die Zeit vom 14. Juli 2021 bis zum 31. August 2021 zu gewähren.

Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

Der Antragsgegner hat der Antragstellerin die Hälfte ihrer notwendigen außergerichtlichen Kosten beider Instanzen der Verfahren L 4 AY 28/22 B ER und S 16 AY 62/21 ER zu erstatten.

Der Beschluss des Sozialgerichts Darmstadt vom 22. Juli 2022 hinsichtlich der Ablehnung von Prozesskostenhilfe wird aufgehoben. Der Antragstellerin wird Prozesskostenhilfe für das erstinstanzliche Verfahren unter Beiordnung von Rechtsanwalt Sven Adam, Lange Geismarstraße 55, 337073 Göttingen gewährt.

Kosten des Beschwerdeverfahrens L 4 AY 29/22 B sind nicht zu erstatten.

GRÜNDE

I.

Die Beteiligten streiten im Wege der einstweiligen Anordnung über die vorläufige Bewilligung von Leistungen nach § 2 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) für die Zeit ab 14. Juli 2021.

Die 19xx geborene Antragstellerin ist ledig und äthiopische Staatsangehörige. Sie reiste erstmals am 2. September 2018 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Am xx.xx.2019 gebar die Antragstellerin eine Tochter.

Ein am 6. September 2018 gestellter Asylantrag wurde mit Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) vom 27. September 2018 (Dokument 51 der elektronischen Ausländerakte – AA) abgelehnt, der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der hiergegen gerichteten Klage (VG Frankfurt am Main, Az. 5 K 3911/18.F.A) wurde abgelehnt (Beschluss des VG Frankfurt am Main vom 12. Oktober 2018, Az. 5 L 3910/18 F.A), die Klage abgewiesen (Urteil des VG Frankfurt am Main vom 1. September 2021) und der Antrag auf Zulassung der Berufung zum Hessischen Verwaltungsgerichtshof war erfolglos.

Durch Bescheid des Regierungspräsidiums Darmstadt vom 24. September 2018 (Bl. 1/5 der Verwaltungsakte – VA) wurde die Klägerin gem. § 50 Abs. 4 Asylgesetz (AsylG) dem Antragsgegner zugewiesen, seither lebte sie in einer Sammelunterkunft in Neu-Isenburg und bezog Leistungen zunächst nach § 3a AsylbLG (Bescheid des Antragsgegners vom 24. September 2018, Bl. 2/6ff VA). Seit 18. Oktober 2018 war die Antragstellerin geduldet (Bl. 1/10 VA). Am 29. Oktober 2018 händigte die Ausländerbehörde der Antragstellerin eine in englischer Sprache abgefasste Belehrung aus, wonach sie sowohl nach §§ 48, 49 AufenthG als auch nach § 15 Abs. 2 Nr. 4, 5 und 6 AsylVfG verpflichtet sei, sämtliche in ihrem Besitz befindlichen Identitätsnachweise vorzulegen und an der Beschaffung eines gültigen Passes oder Passersatzpapiers mitzuwirken. Sie wurde auf ihre Verpflichtung hingewiesen, ihren Pass oder Passersatz vorzulegen sowie alle sich in ihrem Besitz befindlichen Urkunden oder Identitätsnachweise, bzw. aufgefordert, sich Nachweise über ihre Staatsangehörigkeit zu beschaffen und entsprechende Bemühungen nachzuweisen. Sie wurde weiterhin u. a. darüber belehrt, dass für den Fall, dass sie ihrer Passpflicht nicht nachkomme, Leistungen nach dem AsylbLG gem. § 1a AsylbLG auf das zum Leben Unerlässliche zu kürzen seien. Die Antragstellerin quittierte den Erhalt durch ihre Unterschrift (Dokumente 81ff AA). Unter dem 4. Juli 2019 füllte die Antragstellerin das „Application Form for Ehiopian National who left Ethopie without a Travel Document and Requesting Passport“ zu Beantragung eines äthiopischen Passes aus (Dokumente 110 ff AA). Unter dem 1. November 2019 bescheinigte das äthiopische Generalkonsulat Frankfurt am Main, dass die Antragstellerin einen Pass beantragt habe, der nicht ausgestellt werden konnte, weil sie keine Beweise für ihre äthiopische Nationalität habe vorlegen können (Dokument 129 AA). Am 2. Juli 2020 wurde die Antragstellerin über ihre Verpflichtungen gemäß § 60b Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 AufenthG zur Passbeschaffung und gemäß § 48 Abs. 3 Satz 1 zur Mitwirkung auch an der Feststellung der Identität und Staatsangehörigkeit hingewiesen (Dokumente 141f AA).

Nach Mitteilung des Ausländeramtes des Antragsgegners gem. § 90 Abs. 3 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) vom 29. Januar 2020 (Bl. 2/41 VA), dass die Antragstellerin den Vollzug aufenthaltsbeendender Maßnahmen verhindert habe, indem sie es unterlassen habe, der besonderen Passbeschaffung nach § 60b Abs. 2 AufenthG nachzukommen, hörte der Antragsgegner die Antragstellerin mit Schreiben vom 4. Februar 2021 (Bl. 2/43ff VA) zur Einschränkung des Leistungsanspruchs nach §§ 1, 1a Abs. 3 AsylbLG i. V. m. § 15 AsylG wegen Verletzung der Pflicht zur Mitwirkung bei der Beschaffung eines Passes oder Passersatzes zum 1. März 2021 an. Dabei wies der Antragsgegner auf den Inhalt der Verpflichtung nach § 60b Abs. 2 AufenthG hin und setzte der Antragstellerin Frist bis zum 24. Februar 2021, sich zu äußern und/oder ihrer Mitwirkungspflicht nachzukommen. Er wies ferner darauf hin, dass die Vorlage von Identitätsnachweisen oder die Abgabe einer Erklärung an Eides Statt die Antragstellerin nicht von der Verpflichtung befreie, einen gültigen Pass oder Passersatz zu beschaffen und diesen der Ausländerbehörde auszuhändigen. Hierzu ließ die Antragstellerin durch eine Mitarbeiterin des Diakonischen Werks Offenbach-Dreieich-Rodgau mit E-Mail vom 18. Februar 2021 (Bl. 2/46 VA) eine „Tabelle zur Dokumentation der Mitwirkung“ (Bl. 2/47f VA) vorlegen. Nach den dortigen handschriftlichen Eintragungen in englischer Sprache der Antragstellerin sei sie am 10. Februar 2021 beim äthiopischen Konsulat gewesen, welches jedoch geschlossen gewesen sei, am 16. Februar 2021 habe sie sich per E-Mail an das Konsulat gewandt. Unter dem 17. Februar 2021 habe die Mitarbeiterin des Diakonischen Werks für sie drei äthiopischen Vertrauensanwälte per E-Mail zu kontaktieren versucht, hiervon sei eine E-Mail nicht übermittelt worden, bei einer weiteren sei unklar, ob die Übermittlung erfolgt sei, auf die dritte E-Mail sei noch keine Reaktion erfolgt. Die Antragstellerin legte hierzu ein Foto (Selfie) vor, welches sie vor dem äthiopischen Konsulat zeige (Bl. 2/49 VA) sowie Ausdrucke der E-Mails. Das Regierungspräsidium Darmstadt teilte dem Antragsgegner mit, die vorgelegten Nachweise zur Passbeschaffung reichten nicht aus, erst wenn ein Nachweis erbracht werde, dass ein Vertrauensanwalt auch tätig sei und die Passbeschaffung nachweislich betrieben werde, könne wieder eine Duldung gem. § 60a AufenthG erteilt werden.

Mit Bescheid vom 16. März 2021 (Bl. 2/61ff VA) stellte der Antragsgegner die Leistungseinschränkung nach §§ 1, 1a Abs. 3 AsylbLG i. V. m. § 15 AsylG für die Dauer von sechs Monaten fest, weil die Antragstellerin ihren Mitwirkungspflichten gem. § 60b Abs. 2 AufenthG nicht nachgekommen sei, und bewilligte der Antragstellerin mit weiterem Bescheid vom 16. März 2021 für den Monat März 2021 Leistungen nur noch nach § 1a AsylbLG in Höhe von 173 Euro. Nach dem im Bescheid enthaltenen Hinweisen werde die bewilligte Leistung „zunächst nur für einen Monat und unter dem Vorbehalt gewährt, dass sich die vom Leistungsempfänger angegebenen … Verhältnisse nicht ändern. … Tritt keine Änderung ein, so erfolgt – ohne Antrag – aufgrund stillschweigender monatlicher Neubewilligung die Weiterzahlung der bisher bewilligten Leistung(en) in der in diesem Bescheid angegebenen Höhe. …“

Mit Schreiben vom 13. Juli 2021 (Eingang beim Antragsgegner am 14. Juli 2021) erhob die Antragstellerin Widerspruch gegen die faktische Leistungsbewilligung im Zeitraum ab 1. April 2021 (Bl. 136 GA).

Am 14. Juli 2021 hat die Antragstellerin beim Sozialgericht Darmstadt einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt. Mit Schreiben vom 27. Juli 2021 (Bl. 122 Gerichtsakte – GA) hat die Antragstellerin die Überprüfung der Bescheide vom 16. März 2021 zum Leistungszeitraum 1. bis 31. März 2021 nach § 44 SGB XII beantragt, sie befinde sich noch im Asylverfahren, da über die Klage gegen den Bescheid des BAMF vom 27. September 2018 noch nicht entschieden worden sei. Der Antragsgegner hat den Antrag mit Bescheid vom 28. September 2021 (Bl. 124 GA) abgelehnt. Den hiergegen eingelegten Widerspruch mit Schreiben vom 13. Oktober 2021 (Bl. 127 GA) hat das Regierungspräsidium Darmstadt mit Widerspruchsbescheid vom 29. Dezember 2021 (Bl. 129 GA) zurückgewiesen. Hiergegen hat die Antragstellerin beim Sozialgericht unter dem Aktenzeichen S 16 AY 3/22 Klage erhoben. Mit Widerspruchsbescheid vom 30. August 2021 hat das Regierungspräsidium Darmstadt den Widerspruch vom 14. Juli 2021 (Leistungszeitraum ab 1. April 2021) als unzulässig und unbegründet zurückgewiesen, hiergegen hat die Antragstellerin unter dem Aktenzeichen S 16 AY 83/21 beim Sozialgericht Darmstadt Klage erhoben. Mit Schriftsatz vom 3. September 2021 (Bl. 148 GA) hat die Antragstellerin gegen die Leistungsgewährung ab 1. September 2021 Widerspruch eingelegt, die Leistungskürzung sei rechtswidrig, sie bemühe sich um die Passbeschaffung, zudem sei das Asylverfahren noch nicht rechtskräftig abgeschlossen. Mit „Änderungsbescheid“ vom 7. Oktober 2021 (Bl. 151 GA) hat der Antragsgegner den Bescheid vom 16. März 2021 abgeändert, weil der Bescheid über die Einschränkung des Anspruchs auf laufende Leistungen nach dem AsylbLG vom 16. März 2021 befristet gewesen sei, er hat der Antragstellerin für die Monate September und Oktober 2021 Leistungen nach § 3a Abs. 1 und 2 AsylbLG in Höhe von 328 Euro bewilligt. Hiergegen hat die Antragstellerin mit Schreiben vom 13. Oktober 2021 (Bl. 150 GA) Widerspruch erhoben, sie habe Anspruch auf Leistungen nach § 2 AsylbLG in der Regelbedarfsstufe 1. Mit Widerspruchsbescheid vom 22. November 2021 ist der Widerspruch zurückgewiesen worden. Hiergegen hat sich die Antragstellerin mit der unter dem Aktenzeichen S 16 AY 125/21 beim Sozialgericht Darmstadt geführten Klage gewandt.

Sie hat zunächst vorgetragen, sie habe mit Schriftsatz vom 13. Juli 2021 Widerspruch gegen die Leistungsgewährung ab 1. April 2021 eingelegt. Es bestehe ein Anordnungsanspruch, die vorliegende Sanktion sei nicht verfassungsgemäß, § 1a AsylbLG sei verfassungswidrig. Ferner bemühe sie sich um eine Passbeschaffung. Es bestehe auch ein Anordnungsgrund, weil das verfassungsrechtlich garantierte Existenzminimum nicht gesichert sei. Mit Schriftsatz vom 30. Mai 2022 (Bl. 190 GA) hat die Antragstellerin mitgeteilt, sie begehre Leistungen nach § 2 AsylbLG in der Regelbedarfsstufe 1, hinsichtlich der Kürzung der Leistungen nach § 1a AsylbLG sei offensichtlich seit 1. September 2021 eine Teilabhilfe erfolgt, sie hat insoweit das Verfahren für erledigt erklärt, der Zeitraum ab 14. Juli 2021 bleibe gleichwohl streitig.

Der Antragsgegner hat die Anspruchseinschränkung nach § 1a AsylbLG für verfassungsmäßig gehalten. Unter Hinweis auf bundesverfassungsgerichtliche Rechtsprechung hat er einen Anordnungsgrund nicht für gegeben erachtet.

Mit Beschluss vom 22. Juli 2022 hat das Sozialgericht den Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes abgelehnt. Zur Begründung hat das Sozialgericht ausgeführt, die Antragstellerin habe einen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht. Der Glaubhaftmachung stehe für die Zeit vom 1. April 2021 bis zum 31. August 2021 die Bestandskraft des Bescheids des Antragsgegners vom 16. März 2021 entgegen, wegen der sich aus § 77 SGG ergebenden Bindungswirkung zum Entscheidungszeitpunkt kein Anspruch auf höhere Leistungen geltend gemacht werden. Hieran ändere auch der hinsichtlich der Leistungseinschränkung gestellte Antrag nach § 44 SGB X nichts. Ein solcher Antrag durchbreche die Bestandskraft des Bescheides noch nicht. Es dränge sich auch nicht auf, dass der leistungseinschränkende Bescheid vom 16. März 2021 rechtswidrig sei, die Antragstellerin habe hinreichende Bemühungen zur Passbeschaffung nicht nachgewiesen. Darüber hinaus sei die Verfassungswidrigkeit von § 1a Abs. 3 AsylbLG keinesfalls geklärt. Auch für die Zeit ab September 2021 habe die Antragstellerin einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Sie erfülle nicht die Voraussetzungen für die Leistungen nach § 2 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG, sie habe nicht nachgewiesen, dass sie Dauer ihres Aufenthaltes nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst habe. Eine Beeinflussung der Aufenthaltsdauer liege schon dann vor, wenn bei generell-abstrakter Betrachtungsweise das rechtsmissbräuchliche Verhalten typischerweise die Aufenthaltsdauer verlängern könne und schon nach dem Wortlaut des § 2 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG weder durch Zeitablauf noch durch späteres Wohlverhalten des Ausländers bewirkt werden könne, dass Analogleistungen zu gewähren seien. Die Antragstellerin sei ihrer Verpflichtung zur Mitwirkung bei der Passbeschaffung länger als ein Jahr nicht nachgekommen. Die Antragstellerin habe auch keinen Anspruch auf die Erbringung von Leistungen unter Beachtung der Regelbedarfsstufe 1. Dem stünden die eindeutigen gesetzlichen Regelungen entgegen, über deren Wortlaut hinaus eine erweiternde verfassungskonforme Auslegung nicht möglich sei, die hierfür erforderlich Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit habe sich die Kammer in dem auf vorläufige Leistungsgewährung ausgerichteten Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht bilden können. Ein Anspruch auf Gewährung höherer Leistungen ergebe sich auch nicht aus einem Anspruch auf Gleichbehandlung aufgrund der Anwendung der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (AufnahmeRL). Die Antragstellerin unterfalle nach Art. 3 Abs. 1 AufnahmeRL nicht dem persönlichen Anwendungsbereit der Richtlinie, sie sei vollziehbar ausreisepflichtig.

Mit weiterem Beschluss vom 22. Juli 2022 hat das Sozialgericht auch den Antrag auf Prozesskostenhilfe abgelehnt.

Gegen die ihr am 28. Juli 2022 zugestellten Beschlüsse hat die Antragstellerin am 18. August 2022 über das Sozialgericht Beschwerden eingelegt. Mit Schriftsatz vom 13. Dezember 2022 hat der Antragsgegner im Wege eines Teilanerkenntnisses die Gewährung von Leistungen nach §§ 3, 3a AsylbLG nach Regelbedarfsstufe 1 ab 1. September 2021 zugesagt. Die Antragstellerin hat das Teilanerkenntnis mit Schriftsatz vom 14. Dezember 2022 angenommen.

Die Antragstellerin macht weiterhin einen Anspruch auf Leistungen nach § 2 AsylbLG in der Regelbedarfsstufe 1 für die Zeit ab 14. Juli 2021 geltend. Die Ausführungen hinsichtlich der Bestandskraft des Bescheides vom 16. März 2021 seien unzutreffend. Hinsichtlich des Bescheids vom 16. März 2021 habe sie einen noch nicht bestandskräftig abgelehnten Antrag nach § 44 SGB X gestellt. Der Bescheid vom 16. März 2021 hinsichtlich März 2021 stelle keinen Dauerverwaltungsakt dar. Die Leistungsgewährung ab 1. April 2021 sei nicht bestandskräftig. Ihr sei rechtsmissbräuchliches Verhalten zur Verlängerung ihres Aufenthalts nicht vorzuwerfen.

Die Ablehnung von Prozesskostenhilfe verwundere, die Regelbedarfsstufe 2 für Alleinstehende in Gemeinschaftsunterkünften sei streitig, sie werde als verfassungsrechtlich problematisch angesehen.

Die Antragstellerin beantragt,
den Beschluss des Sozialgerichts Darmstadt vom 22. Juli 2022 aufzuheben und den Beschwerdegegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr vorläufig und unter dem Vorbehalt der Rückforderung bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung über die Klage der Beschwerdeführerin vom 3. September 2021 gegen die faktische Leistungsgewährung im Zeitraum 1. April 2021 bis 31. August 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30. August 2021 (Az. des SG Darmstadt: S 16 AY 83/21) und ihre Klage vom 23. Dezember 2021 gegen die faktische Leistungsgewährung im Zeitraum ab 1. September 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22. November 2021 (Az. des SG Darmstadt: S 16 AY 125/21) Leistungen nach § 2 AsylbLG ab dem 14. Juli 2021 (Eingang des Eilantrages beim SG Darmstadt) zu gewähren und
den Beschluss des Sozialgerichts Darmstadt vom 22. Juli 2022 hinsichtlich der Ablehnung von Prozesskostenhilfe aufzuheben und ihr Prozesskostenhilfe für das erstinstanzliche Verfahren unter Beiordnung von Rechtsanwalt Sven Adam, Lange Geismarstraße 55, 337073 Göttingen zu gewähren.

Der Antragsgegner beantragt,
die Beschwerden zurückzuweisen.

Der Antragsteller vertritt die Auffassung, das Eilverfahren sei untunlich. Es bestehe kein Anordnungsanspruch und kein Anordnungsgrund. Das Abwarten des Hauptsacheverfahrens sei schon verfassungsrechtlich, somit grundsätzlich auch fachgerichtlich, zumutbar. Bei der Frage der Regelbedarfsstufe 1 oder 2 in Gemeinschaftsunterkünften schwinge immer die Frage der Gleichbehandlung mit. Eine gesetzlich ausdrücklich angeordnete Ungleichbehandlung sei hinzunehmen. Die Frage der Unterschreitung des Existenzminimums sei konkret im Einzelfall darzulegen. Auch zu § 1a AsylbLG habe das Bundesverfassungsgericht das Abwarten des fachgerichtlichen Hauptsacheverfahrens für zumutbar eingestuft. Die Zuerkennung von Regelbedarfsstufe 1 oder 2 erfolge auf der Basis eines Parlamentsgesetzes, dessen eindeutiger Wortlaut sich einer verfassungskonformen Auslegung unzugänglich zeige. Die Aussetzung des Vollzugs eines Gesetzes unterliege besonders hohen Hürden. Die Höhe existenzsichernder Leistungen ergäben sich allein aus Gesetz. Eine Korrektur durch die Judikative stelle einen konkreten Eingriff in Art. 110 GG dar, das Verwerfungsmonopol nach Art. 100 GG müsse beachtet werden. Allenfalls wenn die Regelbedarfsstufe 2 im konkreten Einzelfall zu irreversiblen Folgen bei Rechtsgütern höchster Bedeutung (z. B. Gesundheit, Leben) führe, die der Gesetzgeber so nicht in Blick gehabt habe, könne im Eilrechtsschutz eine Korrektur erfolgen. Diesen Anforderungen werde der Vortrag der Antragstellerin nicht gerecht.

Der Antragstellerin und ihrer Tochter seien ein vollständig möbliertes Zimmer (mitsamt Erstausstattung an Haushaltstextilien) zur Verfügung gestellt worden. Ferner verfüge sie über den Zugang zu einer Gemeinschaftsküche sowie eines Waschraumes im Keller. Für die gemeinsamen Aktivitäten der Nutzer der Gemeinschaftsunterkunft fänden sich Gemeinschaftsräume im Erdgeschoss. Strom, Wasser, Heizung, Wohnungsinstandhaltung sowie Einrichtungspflege (inkl. elektrische Großgeräte und Möbel) würden von der Stadt Neu-Isenburg als Sachleistung vollständig erbracht. Gleiches betreffe die regelmäßige Vornahme von Renovierungsarbeiten und der erweiterten Objektpflege. Die zur persönlichen Haushaltung notwendigen persönlichen Gegenstände würden dieser Familie am Zuweisungstag in Gestalt eines „Geschirrpaketes“ als Geldleistung gewährt. Für notwendige (Ersatz-)Anschaffungen existiere ein Warenlager, in dem Sachspenden (Geschirr, Kleinstelektrogeräte, Töpfe, Spielsachen, etc …) vorrätig gehalten würden und auf die sie bei Bedarf zurückgreifen könne. Es fielen bei den Nutzern dieser Gemeinschaftsunterkunft, aufgrund dieser Unterbringungsform, somit lediglich Kosten für die laufende Haushaltung an, welche nicht vom Regelsatz abgezogen würden. Eine weitere Kostenersparnis ergebe sich aus der zentralen Lage dieser Unterkunft. Sie liege nur wenige Meter von Rathaus, Schulen, Kindertagesstätten, Arztpraxen und Einkaufszentren entfernt, weshalb in der Alltagsbewältigung i.d.R. der Rückgriff auf öffentliche Verkehrsmittel nicht erforderlich sei. Zusätzlich zu diesen räumlichen Möglichkeiten erhalte sie vor Ort regelmäßigen Zugang zu einer qualifizierten sozialpädagogischen Betreuung, welche ihr bei allen Belangen des Aufenthalts- und Sozialrechts, mitsamt Kommunikation und Antragstellung gegenüber den Behörden aktive Hilfe leiste. Dies erspare ihr das Kopieren von Unterlagen sowie den Weg zu den Behörden, um dort Unterlagen oder Stellungnahmen abzugeben, bzw. Informationen über den Stand ihrer Belange zu erhalten. Da die Nutzer dieser Gemeinschaftsunterkunft seit mehreren Jahren personell nahezu unverändert seien, habe sie dort die Möglichkeit des Kontaktes und des Austausches mit den mit ihr dort untergebrachten (ihr zuvor fremden) Personen. Diese fänden sich zu regelmäßigen gemeinsamen Veranstaltungen in den Gemeinschaftsräumen der Unterkunft zusammen. Gegenseitige Hilfestellungen bei Alltagsgeschäften und zur Bewältigung von Alltagsproblemen seien für die Nutzer dieser Gemeinschaftsunterkunft weitestgehend eine Selbstverständlichkeit. Auch könne sie sich statt des Rückgriffes auf diese Gemeinschaft an den werktags vor Ort präsenten und stets ansprechbaren Hausmeister wenden, der auf Anfrage gerne bei der Alltagsbewältigung behilflich sei. Auch habe sie dort Zugang zu ehrenamtlichen Helfern, die bei der Integration in die deutsche Kultur, Sprache und Arbeitsmarkt behilflich sein könnten.

Wegen des Sach- und Streitstandes im Einzelnen wird auf den Inhalt der Gerichts-, der Verwaltungsakten des Antragstellers und der elektronischen Ausländerakte Bezug genommen.

II.

Die die form- und fristgereicht erhobene Beschwerde gegen die Ablehnung des Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung der Antragstellerin ist zulässig, weil bereits zum maßgeblichen Zeitpunkt der Beschwerdeerhebung am 18. August 2022 wiederkehrende Leistungen für die Dauer von mehr als einem Jahr (§ 172 Abs. 3 Nr. 1 i.V.m. § 144 Abs. 1 SGG) im Streit waren.

Die Beschwerde ist jedoch nur in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 1 und 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Nach § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) sind der Anordnungsanspruch und der Anordnungsgrund glaubhaft zu machen. Zwischen Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch besteht dabei eine Wechselbeziehung. An das Vorliegen des Anordnungsgrunds sind dann weniger strenge Anforderungen zu stellen, wenn bei der Prüfung der Sach- und Rechtslage das Obsiegen in der Hauptsache wahrscheinlich ist. Ist bzw. wäre eine in der Hauptsache erhobene Klage dagegen offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist wegen des fehlenden Anordnungsanspruchs der Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen. Sind die Erfolgsaussichten in der Hauptsache offen, kommt dem Anordnungsgrund entscheidende Bedeutung zu. Soweit existenzsichernde Leistungen in Frage stehen, sind die Anforderungen an den Anordnungsgrund und den Anordnungsanspruch weniger streng zu beurteilen. In diesem Fall ist u.U. auch anhand einer Folgenabwägung unter Berücksichtigung der grundrechtlichen Belange der Antragsteller zu entscheiden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 2005 – 1 BvR 569/05, NVwZ 2005, 927; Nichtannahmebeschluss vom 15. Januar 2007 – 1 BvR 2971/06). Der Erlass einer einstweiligen Anordnung muss für die Abwendung wesentlicher Nachteile nötig sein; d. h. es muss eine dringliche Notlage vorliegen, die eine sofortige Entscheidung erfordert (ständige Rechtsprechung des HLSG, bspw. Beschluss vom 29. Januar 2008, L 9 AS 421/07 ER m.w.N., juris). Eine solche Notlage ist bei einer Gefährdung der Existenz oder erheblichen wirtschaftlichen Nachteilen zu bejahen (Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl. 2020, § 86b Rn. 29a).

Ausgehend von diesen Grundsätzen ist zunächst ein Anordnungsanspruch der Antragstellerin auf die Gewährung von höheren Leistungen nach dem AsylbLG für den Zeitraum 1. April 2021 bis 31. August 2021 glaubhaft gemacht.

Zwar ist der Bescheid vom 16. März 2021 zur Feststellung der Leistungseinschränkung gem. § 1a AsylbLG (Bl. 2/61ff VA) bestandskräftig geworden. Auch ist die Bindungswirkung auch noch nicht durch den Zugunstenantrag nach § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – der Antragstellerin durchbrochen, worauf bereits das Sozialgericht in der angegriffenen Entscheidung zutreffend abgestellt hat. Auf die diesbezüglichen Ausführungen in den Entscheidungsgründen des Beschlusses vom 22. Juli 2022, Umdruck Bl. 3, nimmt der Senat nach § 142 Abs. 2 Satz 3 SGG Bezug.

Indessen kommt der Erlass einer einstweiligen Anordnung in Betracht, wenn hinsichtlich des bestandskräftigen Bescheides ein Überprüfungsverfahren nach § 44 SGB X anhängig ist und die Voraussetzungen für eine Rücknahme des Bescheides nach § 44 SGB X unzweifelhaft vorliegen, der Bescheid also offensichtlich rechtswidrig ist (Burkiczak in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl., § 86b SGG [Stand: 24. Oktober 2022], Rn. 397; MKLS/Keller, 13. Aufl. 2020, SGG § 86b Rn. 29c; Binder in: Berchtold, Sozialgerichtsgesetz, SGG § 86b Rn. 32, beck-online). Diese Voraussetzungen liegen vor, der Bescheid vom 16. März 2021 stellt sich als offensichtlich rechtswidrig dar.

Der Tatbestand des § 1a Abs. 3 AsylbLG in der hier anzuwendenden, seit 1. September 2019 geltenden Fassung ist in dem vorgenannten Zeitraum nicht erfüllt. Nach dieser Vorschrift erhalten Leistungsberechtigte nach § 1 Absatz 1 Nummer 4 und 5, bei denen aus von ihnen selbst zu vertretenden Gründen aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden können, ab dem auf die Vollziehbarkeit einer Abschiebungsandrohung oder Vollziehbarkeit einer Abschiebungsanordnung folgenden Tag nur Leistungen entsprechend Absatz 1.

Die Antragstellerin unterfällt zunächst dem erfassten Personenkreis. Die Abschiebungsandrohung aus dem Bescheid vom 17. Januar 2019 ist angesichts der erfolglosen Inanspruchnahme von verwaltungsgerichtlichem Eilrechtsschutz nach wie vor vollziehbar. Allerdings ist der Vollzug der Abschiebungsandrohung nicht aus von der Antragstellerin selbst zu vertretenden Gründen nicht möglich. Für das Vertreten müssen ist hinreichend, dass das Ergebnis der Nichtvollziehbarkeit der aufenthaltsbeendenden Maßnahmen auf Umständen beruht, die dem Verantwortungsbereich der handelnden Person zuzurechnen sind (vgl. Oppermann in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 3. Aufl., § 1a AsylbLG Rn. 85 <Stand: 2. November 2022> m.w.N.); umgekehrt muss sich ein Betroffener Mitursachen außerhalb seiner Verantwortungssphäre nicht zurechnen lassen; das Fehlverhalten muss also monokausal sein (vgl. zu einer älteren Gesetzesfassung BSG, Urteil vom 27. Februar 2019 – B 7 AY 1/17 R –, juris Rn. 27).

Der Bescheid vom 16. März 2021 stellt auf einen Verstoß der Antragstellerin gegen die besondere Passbeschaffungspflicht gem. § 60b Abs. 2 Satz 1 Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz – AufenthG) ab, von der die Antragstellerin bei Erlass des Bescheids vom 16. März 2021 allerdings nicht betroffen war. Nach § 60b Abs. 2 Satz 2 Hs. 1 AufenthG sind die Mitwirkungspflichten Asylbewerbern im laufenden Asylverfahren nicht zumutbar, wobei sich die Unzumutbarkeit entsprechender Mitwirkungshandlungen zeitlich vom Moment des Asylgesuchs an der Grenze (§ 18 AsylG) über die Meldung als Asylsuchender (§ 63a AsylG) und die Beantragung des Asyls (§ 13 AsylG) bis zur rechtskräftigen Ablehnung des Asylantrags erstreckt (Bergmann/Dienelt/Dollinger, 14. Aufl. 2022, AufenthG § 60b Rn. 13, 14). Das Asylverfahren der Antragstellerin war bei Erlass des Bescheids vom 16. März 2021 noch nicht rechtskräftig abgeschlossen, dies war erst mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Frankfurt am Main vom 1. September 2021 (Az. 5 K 3911/18 F.A) der Fall. Der Verstoß gegen die besonderen Passbeschaffungspflichten gem. § 60b Abs. 2 Satz 1 AufenthG liegt damit bereits – unabhängig davon, ob der Antragstellerin die Mitwirkungshandlungen hinreichend konkret abgefordert wurden (vgl. hierzu Senatsbeschluss vom 6. Januar 2014 L 4 AY 19/13 B ER n. v.; s. auch LSG Sachsen Beschl. v. 28.6.2011 – L 7 AY 8/10 B ER, BeckRS 2011, 73901, beck-online; Cantzler, Asylbewerberleistungsgesetz, AsylbLG § 1a Rn. 74, beck-online) – objektiv nicht vor.

Soweit indessen die Antragstellerin nicht hinreichend daran mitgewirkt hat, einen Pass, Passersatz oder ein sonstiges Rückreisedokument vorzulegen oder ersatzweise zu beschaffen, hat sie gegen ihre sich aus § 48 Abs. 1 und Abs. 3 Satz 1 AufenthG erbenden Pflichten – über dessen Inhalt die Antragstellerin bereits am 29. Oktober 2019 belehrt worden ist – verstoßen. Danach ist ein Ausländer dazu verpflichtet, seinen Pass, seinen Passersatz oder seinen Ausweisersatz auf Verlangen den mit dem Vollzug des Ausländerrechts betrauten Behörden vorzulegen und an der Beschaffung des Identitätspapiers mitzuwirken, sofern er keinen gültigen Pass oder Passersatz besitzt, sowie alle Urkunden, sonstigen Unterlagen und Datenträger, die für die Feststellung und Geltendmachung einer Rückführungsmöglichkeit in einen anderen Staat von Bedeutung sein können und in deren Besitz er ist, den mit der Ausführung des AufenthG betrauten Behörden auf Verlangen vorzulegen, auszuhändigen und zu überlassen. Der Mitwirkungspflicht wird unter anderem dadurch entsprochen, dass eine Mitwirkung an der Feststellung der Identität erfolgt oder die für die Beschaffung von Heimreisedokumenten nötigen Erklärungen abgegeben werden (vgl. § 49 Abs. 2 AufenthG). An der Feststellung ihrer Staatsangehörigkeit hat die Antragstellerin nicht hinreichend mitgewirkt. Ihre Mitwirkungshandlungen erschöpfen sich in der Beantragung eines äthiopischen Passes im Herbst 2019, dem – lediglich durch ein Foto glaubhaft gemachten – Aufsuchen des Gebäudes des äthiopischen Generalkonsulats in Frankfurt am Main im Februar 2021, in das sie nach ihren Angaben indessen nicht eingelassen wurde, einer E-Mail an das Konsulat und dem einmaligen Versuch der Aufnahme von Kontakten zu drei äthiopischen Vertrauensanwälten per E-Mail, wobei bei zwei E-Mails bereits die Übermittlung der Nachricht nicht oder nur fraglich und bei der dritten E-Mail seither keine Reaktion des Empfängers erfolgt ist. Damit genügt die Antragstellerin den ihr obliegenden Mitwirkungspflichten gem. § 48 Abs. 3 AufenthG nicht. Aus der Vorschrift ergibt sich i. V. m. § 82 Abs. 1 Satz 1 AufenthG, dass der Ausländer notwendige Unterlagen für den Vollzug des Ausländerrechts „beizubringen“ hat. Bei der Mitwirkung an der Beschaffung eines Rückreisedokuments handelt es sich nicht um separierbare Einzelpflichten, sondern um ein Pflichtenbündel zur Erlangung von Rückreisedokumenten für einen ausreisepflichtigen Ausländer. Dabei kann der Ausländer sich ausländerrechtlich nicht allein auf die Erfüllung derjenigen Pflichten, die ihm konkret von der Ausländerbehörde vorgegeben werden, beschränken, sondern ist vielmehr angehalten, eigenständig die Initiative zu ergreifen und die erforderlichen Schritte in die Wege zu leiten, um das bestehende Ausreisehindernis nach seinen Möglichkeiten zu beseitigen. Es kann daher auch verlangt werden, es nicht bei der Einreichung der erforderlichen Unterlagen und bei der Vorsprache bei der Auslandsvertretung des Heimatstaates zu belassen, sondern darüber hinaus weitere Angaben zu machen, die eine Identifikation ermöglichen oder eine dritte Person, insbesondere auch einen Rechtsanwalt, im Herkunftsland zu beauftragen, die erforderlichen Identitätsnachweise zu beschaffen (Bergmann/Dienelt/Kolber, 14. Aufl. 2022, AufenthG § 48 Rn. 6).

Die Mitwirkungspflichten gem. § 48 Abs. 3 AufenthG bestehen unberührt neben der besonderen Passbeschaffungspflicht des § 60b Abs. 2 Satz 1 AufenthG fort (Bergmann/Dienelt/Dollinger, 14. Aufl. 2022, AufenthG § 60b Rn. 13). Allerdings führt der Verstoß der Antragstellerin gegen die ihr nach § 48 Abs. 3 AufenthG obliegenden Mitwirkungspflichten nicht zur Rechtmäßigkeit des Bescheids vom 16. März 2021, weil die Antragstellerin im Rahmen der Anhörung vom 4. Februar 2021 ausdrücklich nur zu dem Verstoß gegen sich aus § 60b Abs. 2 Satz 1 AufenthG ergebenden Mitwirkungspflichten angehört worden ist. § 28 Abs. 1 Hessisches Verwaltungsverfahrensgesetz (HVwVfG) setzt indessen die Gelegenheit des Beteiligten voraus, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern, wozu auch Umfang und Grenzen des vorgeworfenen Verstoßes gegen ausländerrechtliche Mitwirkungspflichten gehören.

Der Leistungsanspruch der Antragstellerin für den Zeitraum 1. April 2021 bis 31. August 2021 richtet sich nach § 3, 3a AsylbLG in der Regelbedarfsstufe 1. Einen Anordnungsanspruch für Leistungen nach § 2 Abs. 1 Satz 1 und 4, Abs. 2 AsylbLG hat die Antragstellerin – auch für die Zeit ab 1. September 2021 – nicht glaubhaft gemacht. Gemäß § 2 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG sind abweichend von den §§ 3 und 4 sowie 6 bis 7 AsylbLG das Zwölfte Buch Sozialgesetzbuch und Teil 2 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch auf diejenigen Leistungsberechtigten entsprechend anzuwenden, die sich seit 18 Monaten ohne wesentliche Unterbrechung im Bundesgebiet aufhalten und die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben. Nach § 19 Abs. 1, § 27 Abs. 1 SGB XII ist Hilfe zum Lebensunterhalt Personen – gemäß § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII auch Ausländern – zu leisten, die ihren notwendigen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln, insbesondere aus ihrem Einkommen und Vermögen, bestreiten können. Diese Voraussetzungen erfüllt die Antragstellerin. Sie konnte im streitgegenständlichen Zeitraum ihren Lebensunterhalt nicht aus Einkommen oder Vermögen bestreiten und ist als Inhaberin einer Duldung gem. § 60a Abs. 4 AufenthG Leistungsberechtigte nach dem AsylbLG (§ 1 Abs. 1 Nr. 4 AsylbLG). Sie hält sich seit September 2018 und damit mehr als 18 Monate ohne wesentliche Unterbrechung im Bundesgebiet auf.

Allerdings hat die Antragstellerin die Dauer ihres Aufenthalts rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst, indem sie der ihr obliegenden Pflicht zu Beschaffung eines Passes, Passersatzes oder eines Ausweisersatzes bzw. der Beschaffung von Identitätspapieren nach § 48 Abs. 1 und 3 AufenthG nicht genügt hat (s.o.). Der Verstoß ist auch rechtsmissbräuchlich i. S. von § 2 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG. Der Begriff des Rechtsmissbrauchs wird im AsylbLG auch nach dessen umfassender Neugestaltung mit Wirkung vom 1. März 2015 mit dem Gesetz zur Änderung des AsylbLG und des SGG vom 10. Dezember 2014 (BGBl I 2187) und den folgenden Änderungen an keiner Stelle definiert. Nach der Rechtsprechung des BSG zu § 2 AsylbLG in der bis zum 28. Februar 2015 geltenden Fassung (vgl. § 2 Abs. 1 in der Fassung des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007, BGBl I 1970) beinhaltet er als vorwerfbares Fehlverhalten eine objektive – den Missbrauchstatbestand – und eine subjektive Komponente – das Verschulden. In objektiver Hinsicht setzt der Rechtsmissbrauch ein unredliches, von der Rechtsordnung missbilligtes Verhalten voraus. Art, Ausmaß und Folgen der Pflichtverletzung wogen im Anwendungsbereich des § 2 Abs. 1 AsylbLG in der Fassung des Gesetzes vom 19. August 2007 für den Ausländer so schwer, dass der Pflichtverletzung vor dem Hintergrund des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ein erhebliches Gewicht zukommen muss. Rechtsmissbräuchlich ist ein Verhalten danach nur, wenn es unter jeweiliger Berücksichtigung des Einzelfalls, der besonderen Situation eines Ausländers in der Bundesrepublik Deutschland und der besonderen Eigenheiten des AsylbLG unentschuldbar im Sinne von Sozialwidrigkeit ist (BSG, Urteil vom 24. Juni 2021 – B 7 AY 4/20 R –, BSGE 132, 232, Rn. 15). An dieser Rechtsprechung zu den Anforderungen an den objektiven Missbrauchstatbestand hat das BSG auch für § 2 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG in den seit dem 1. März 2015 geltenden, insoweit unverändert gebliebenen Fassungen festgehalten (BSG, Urteil vom 24. Juni 2021 – B 7 AY 4/20 R –, BSGE 132, 232, Rn. 17).

Die fehlende Mitwirkung der Antragstellerin an der Passbeschaffung – hier konkret der Pflicht zur Beschaffung von Nachweisen über ihre Staatsangehörigkeit – ist generell geeignet, die Aufenthaltsdauer zu beeinflussen, da vom Nachweis der Staatsangehörigkeit die Ausstellung eines Passes durch den Herkunftsstaat abhängig ist – wie sich an der Bescheinigung des äthiopischen Generalkonsulats Frankfurt am Main vom 1. November 2019 zeigt – und damit auch die Vollziehung der Abschiebung. Sie stellt sich auch als rechtsmissbräuchlich dar. Die Antragstellerin ist bereits am 29. Oktober 2018 zur Passbeschaffung und Beschaffung von Beweisen über ihre Staatsangehörigkeit aufgefordert worden. Diese Aufforderung ist hinreichend konkret, denn es werden die ausländerrechtlichen Pflichten der Antragstellerin deutlich mitgeteilt. Allein der Umstand, dass die Pflicht zur Mitwirkung an der Beschaffung von Beweisen über die Staatsangehörigkeit vom Fehlen eines Passes oder Identitätsnachweises nach der Belehrung (Dokument 83 AA) abhängig gemacht wird, führt nicht dazu, dass der Handlungsauftrag an die Antragstellerin nicht ausreichend konkretisiert war. Soweit die Antragstellerin darauf hinweist, dass der Hinweis auf ihre Mitwirkungspflichten nur in deutscher und englischer Sprache gegeben wurde, sie jedoch amharisch spreche, ist festzustellen, dass sie ausweislich des Auszugs aus dem Ausländerzentralregister (Dokument 3 AA) über muttersprachliche Sprachkenntnisse in Englisch verfügt. Dem entspricht es, dass die „Tabelle zur Dokumentation der Mitwirkung“ (Bl. 2747f VA) ebenfalls in englischer Sprache ausgefüllt wurde. Schließlich ergibt sich auch aus den von der Antragstellerin vorgenommenen Mitwirkungshandlungen, dass sie sich ihrer Verpflichtung zur Mitwirkung an der Passbeschaffung und Klärung der Staatsangehörigkeit bewusst war, wenn sie im Juli 2019 den Antrag auf Erteilung eines Passes bei dem äthiopischen Generalkonsulat stellte und hierüber Nachweis gegenüber dem Antragsgegner führte. Soweit die Antragstellerin im Juli 2020 und im Rahmen des Anhörungsschreibens vom 4. Februar 2021 – rechtlich fehlerhaft – auf Mitwirkungspflichten gem. § 60b Abs. 2 Satz 1 AufenthG hingewiesen wurde, führt dies nicht zur Unwirksamkeit der früheren Belehrung, denn ungeachtet der konkreten rechtlichen Ausgestaltung der Mitwirkungsverpflichtungen sind die von der Antragstellerin geforderten tatsächlichen Mitwirkungshandlungen nach § 60b Abs. 2 Satz1 AufenthG und § 48 Abs. 3 und 4 AufenthG insoweit deckungsgleich: Gefordert wird die Beschaffung von Nachweisen über ihre Staatsangehörigkeit und Passbeschaffung. Über den konkreten „Handlungsauftrag“ war sich die Antragstellerin offenkundig auch bewusst, denn in unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang nahm sie weitere Versuche zur Erfüllung ihrer

Mitwirkungspflichten vor. Indessen waren weder die Beantragung des äthiopischen Passes noch die misslungene Vorsprache beim äthiopischen Konsulat oder die drei E-Mails mit dem behaupteten Ziel der Kontaktaufnahme zu Vertrauensanwälten ausreichend, um im Zeitraum von Oktober 2018 bis heute der andauernden ausländerrechtlichen Mitwirkung zu genügen, nachdem die Antragstellerin weder vorgetragen hat noch sonst ersichtlich ist, dass sie seit Februar 2021 weitere, insbesondere erfolgsversprechende Maßnahmen zur Klärung (zunächst) ihrer Staatsangehörigkeit vorgenommen hat. Die demnach über Jahre anhaltende Pflichtverletzung, die nur ansatzweise durch punktuelle, aber wenig ergebnisorientierte Aktivität unterbrochen wurde, stellt sich am Maßstab des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens nach summarischer Prüfung als unentschuldbar im Sinne von Sozialwidrigkeit dar, zumal konkrete Umstände im Einzelfall weder ersichtlich sind, noch von der Antragstellerin vorgetragen wurden, die eine andere Beurteilung erlauben würden.

Angesichts des weiter anhaltenden Verstoßes gegen die Mitwirkungspflichten aus §§ 48, 49 AufenthG – die Antragstellerin hat weitere Mitwirkungshandlungen nicht vorgetragen – kann der Senat die Frage der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit einer dauerhaften, pauschalen Leistungsabsenkung unter das Leistungsniveau des SGB XII (vgl. hierzu Oppermann/Filges in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 3. Aufl., § 2 AsylbLG <Stand: 19. Dezember 2022>, Rn. 118) unter Gesichtspunkten der Verhältnismäßigkeit offenlassen.

Nach alledem hat die Antragstellerin für den Zeitraum ab 14. Juli 2021 bis 31. August 2021 einen Anordnungsanspruch für Leistungen nach §§ 3, 3a AsylbLG glaubhaft gemacht; weitere Zeiträume sind insoweit nach dem angenommenen Teilanerkenntnis nicht mehr im Streit. Diese stehen ihr, die in einer Gemeinschaftsunterkunft lebt, unter Berücksichtigung des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Oktober 2022 – 1 BvL 3/21 – im Umfang der Regelbedarfsstufe 1 zu. Mit diesem Beschluss hat das Bundesverfassungsgericht § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AsylbLG mit Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m. dem Sozialstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 1 GG unvereinbar erklärt, soweit für eine alleinstehende erwachsene Person ein Regelbedarf lediglich in Höhe der Regelbedarfsstufe 2 anerkannt wird, und hat bis zu einer Neuregelung angeordnet, dass auf Leistungsberechtigte nach § 2 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG § 28 SGB XII i. V. m. dem Regelbedarfsermittlungsgesetz und §§ 28a, 49 SGB XII mit der Maßgabe entsprechende Anwendung findet, dass bei der Unterbringung in einer Gemeinschaftsunterkunft i. S. v. § 53 Abs. 1 AsylG oder einer Aufnahmeeinrichtung nach § 44 Abs. 1 AsylG für jede alleinstehende erwachsene Person der Leistungsbemessung ein Regelbedarf in Höhe der jeweils aktuellen Regelbedarfsstufe 1 zugrunde gelegt wird. Soweit das Bundesverfassungsgericht seine Anordnung auf Leistungsberechtigte nach § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AsylbLG beschränkt hat und Leistungsberechtigte nach § 3, 3a Abs. 1 Nr. 2 Buchstabe b) und Abs. 2 Nr. 2 Buchstabe b) AsylbLG von der Anordnung nicht umfasst sind, stellt sich die verfassungsrechtliche Problematik der Regelungen in § 3a AsylbLG als vergleichbar dar, denn auch insoweit bestehen keine tragfähigen Anhaltspunkte dafür, dass in den Sammelunterkünften regelmäßig tatsächlich Einsparungen durch gemeinsames Wirtschaften erzielt werden oder werden können, die eine Absenkung der Leistungen um 10% rechtfertigen würden. Ebenso wie offenkundig nunmehr der Antragsgegner selbst ausweislich seines Teilanerkenntnisses geht der Senat daher davon aus, dass auch im Anwendungsbereich der Grundleistungen nach §§ 3, 3a AsylbLG die Anordnung des Bundesverfassungsgerichts entsprechend umzusetzen ist. Dies entspricht auch der für den Antragsgegner relevante Erlasslage des für ihn insoweit zuständigen Hessischen Ministeriums für Soziales und Integration, auf die der Senat mit Verfügung vom 12. Dezember 2022 hingewiesen hat.

Angesichts der monatlichen Differenz der der Antragstellerin bewilligten Leistungen nach § 1a AsylbLG in Höhe von 173 Euro (Bl. 154 VA) und den ihr vorläufig zustehenden Leistungen nach §§ 3, 3a AsylbLG in der Regelbedarfsstufe 1 i. H. v. 364 Euro, die 191 Euro beträgt, ist auch unter Berücksichtigung des vergleichsweise kurzen, noch relevanten Zeitraums von ca. 1 1⁄2 Monaten angesichts der Betroffenheit des verfassungsrechtlich geschützten Existenzminimums ein Anordnungsgrund zu bejahen, der Betrag i. H. v. fast 290 Euro übersteigt die Geringfügigkeitsgrenze.

Die Kostengrundentscheidung folgt aus entsprechender Anwendung von § 193 SGG und berücksichtigt auch das angenommene Teilanerkenntnis.

Der Beschwerde der Antragstellerin gegen die Ablehnung des Prozesskostenhilfegesuchs durch das Sozialgericht war stattzugeben. Hinreichende Erfolgsaussichten der erstinstanzlichen Rechtsverfolgung i. S. v. § 73a SGG i. V. m. § 114 ff ZPO waren nach alledem zu bejahen.

Gemäß § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 127 Abs. 4 ZPO sind die Kosten des Beschwerdeverfahrens nicht zu erstatten.

Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.