Sozialgericht Hildesheim – Beschluss vom 29.12.2022 – Az.: S 27 AY 4023/22 ER

BESCHLUSS

S 27 AY 4023/22 ER

In dem Rechtsstreit

xxx,

– Antragsteller –

Prozessbevollmächtigter:
Rechtsanwalt Sven Adam,
Lange Geismarstraße 55, 37073 Göttingen

gegen

Landkreis Göttingen,
vertreten durch den Landrat,
Reinhäuser Landstraße 4, 37083 Göttingen

– Antragsgegner –

hat die 27. Kammer des Sozialgerichts Hildesheim am 29. Dezember 2022 durch die Richterin xxx beschlossen:

Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig unter Vorbehalt der Rückforderung privilegierte Leistungen nach § 2 AsylbLG iVm. SGB XII analog für die Zeit ab 07.12.2022 bis zur Entscheidung in der Hauptsache, längstens jedoch bis zum 07.06.2023, unter Abrechnung für diesen Zeitraum bereits erbrachter Leistungen zu gewähren.

Der Antragsgegner hat dem Antragssteller seine notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Dem Antragsteller wird Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung unter Beiordnung von Rechtsanwalt Sven Adam, Göttingen, bewilligt.

GRÜNDE

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mit dem Ziel einer vorläufigen Gewährung von privilegierten Leistungen nach § 2 Absatz 1 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) in Verbindung mit dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) – Sozialhilfe – analog hat Erfolg.

Nach § 86b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetzes (SGG) kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Nach § 86b Abs. 2 S. 2 SGG sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes setzt in diesem Zusammenhang einen Anordnungsanspruch, also einen materiell-rechtlichen Anspruch auf die Leistung, zu der der Antragsgegner im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes errichtet werden soll, voraus, sowie einen Anordnungsgrund, nämlich einen Sachverhalt, der die Eilbedürftigkeit der Anordnung begründet. Nach § 86b Abs. 2 S. 4 SGG in Verbindung mit § 920 Abs. 2 ZPO sind der Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch glaubhaft zu machen. Dabei ist, soweit im Zusammenhang mit dem Anordnungsanspruch auf die Aussichten abgestellt wird, die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen (vgl. Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Beschluss vom 12. Mai 2005 – 1 BvR 569/05 –). Die Glaubhaftmachung bezieht sich im Übrigen lediglich auf die reduzierte Prüfungsdichte und die nur eine überwiegende Wahrscheinlichkeit erfordernde Überzeugungsgewissheit für die tatsächlichen Voraussetzungen des Anordnungsanspruches und des Anordnungs-grundes (vgl. Beschlüsse des Hessischen Landessozialgerichtes (LSG) vom 29. Juni 2005 – L 7 AS 1/05 ER -, und vom 12. Februar 1997 – L 7 AS 225/06 ER -; Berlit, info also 2005, 3, 8).

Im Rahmen der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gebotenen summarischen Prüfung hat der Antragsteller zur Überzeugung der Kammer einen Anspruch auf privilegierte Leistungen glaubhaft gemacht.

1.)
Die Leistungen des Antragstellers sind nach derzeitigem Sach- und Streitstand nach summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage zu Unrecht gemäß § 1a Abs. 3 AsylbLG gekürzt worden.

Nach § 1a Abs. 3 S. 1 AsylbLG (in der Fassung vom 15.8.2019) erhalten Leistungsberechtigte nach § 1 Abs. 1 Nr. 4 und 5 AsylbLG, also vollziehbar ausreisepflichtige Personen mit oder ohne Duldung, bei denen aus von ihnen zu vertretenden Gründen aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden können, nur Leistungen in entsprechender Anwendung des § 1a Abs. 1 AsylbLG mit dem auf die Vollziehbarkeit einer Abschiebungsandrohung oder Vollziehbarkeit einer Abschiebungsanordnung folgenden Tag. Das bedeutet, sie haben nur einen Anspruch auf deutlich reduzierte Leistungen; einen Anspruch auf Leistungen nach den §§ 2, 3 und 6 AsylbLG haben sie nicht. Ein leistungsmissbräuchliches Verhalten i.S. des § 1a Abs. 3 S. 1 AsylbLG stellt insbesondere der Verstoß gegen die in § 48 Abs. 3 AufenthG normierte Pflicht eines Ausländers ohne gültigen Pass oder Passersatz dar, an der Beschaffung eines Identitätspapiers und der Feststellung seiner Identität und Staatsangehörigkeit mitzuwirken (BSG, Urteil vom 12.5.2017 – B 7 AY 1/16 R – juris Rn. 15 m.w.N. zu der Vorgängervorschrift des § 1a Nr. 2 AsylbLG a.F.). Eine Anspruchseinschränkung nach § 1a Abs. 3 Satz 1 AsylbLG setzt ferner voraus, dass ein dem Ausländer vorwerfbares Verhalten vorliegt und dieses Verhalten ursächlich für die Nichtvollziehbarkeit aufenthaltsbeendender Maßnahmen ist, wobei das BSG bislang offengelassen hat, ob auch ein bloß fahrlässiges Verhalten den Tatbestand einer Anspruchseinschränkung erfüllen kann (BSG, a.a.O., juris Rn. 17). Zusätzlich muss ein ernsthaftes Bestreben der Ausländerstelle vorliegen, den Betroffenen in sein Heimatland zurückzuführen (BSG, a.a.O., juris Rn. 18 m.w.N.). Problematisch ist es, wenn nicht eine einzige Ursache im Sinne einer conditio sine qua non für die Nichtvollziehbarkeit der aufenthaltsbeendenden Maßnahmen in Betracht kommt, sondern mehrere Ursachen hierfür vorliegen. Dann ist zunächst zu prüfen, in wessen Verantwortungsbereich diese Ursachen fallen. Liegen mehrere Ursachen für die Unmöglichkeit der aufenthaltsbeendenden Maßnahmen vor, so dürfen den Leistungsberechtigten lediglich die Gründe zugerechnet werden, die sie nur selbst zu vertreten haben. Ursachen, die im Verantwortungsbereich der Ausländerbehörden, des Heimatlandes oder im politischen Raum anzusiedeln sind und die die Unmöglichkeit der Aufenthaltsbeendigung ebenfalls kausal beeinflussen, scheiden für eine Anspruchseinschränkung aus. Im Ergebnis bedeutet dies, dass die vom Leistungsberechtigten gesetzte Ursache die einzige und diejenige sein muss, die die Anspruchseinschränkung rechtfertigt (sog. Monokausalität). Die Leistungsberechtigten müssen sich hingegen keine außerhalb ihres Verantwortungsbereiches liegenden Risiken zurechnen lassen (Opperman in jurisPK-SGB XII, 3. Aufl. 2020, § 1a Rn. 86; BSG, Urteil vom 27.2.2019 – B 7 AY 1/17 R – juris Rn. 27).

Im hier vorliegenden Fall kann die Kammer dahingestellt lassen, ob dem Kläger ein leistungsmissbräuchliches Verhalten i.S.d. § 1a Abs. 3 Satz 1 AsylbLG vorgeworfen werden kann, weil es bereits an der nach § 1a Abs. 3 AsylbLG erforderlichen Monokausalität fehlt.

Die Kammer hat in Anbetracht der aktuellen Verhältnisse im Iran nach wie vor Zweifel, ob selbst bei der Abgabe der sog. Freiwilligkeitserklärung die Rückführung des Antragstellers möglich ist und sein Verhalten damit als „monokausal“ angesehen werden kann. Soweit der Antragsgegner darauf verweist, dass ein formaler Abschiebestopp für den Iran nicht bestehe, vermag dies im Hinblick auf die ausdrückliche Erklärung des Niedersächsischen Ministers für Inneres und Sport, Boris Pistorius vom 06.10.2022 derzeit nicht nachvollzogen zu werden. Dem vom Antragsgegner eingereichten Erlass des niedersächsischen Ministeriums für Inneres und Sport vom 13.10.2022 (Blatt 25 der Gerichtsakte) ist dabei zu entnehmen, dass zwar ein formaler Abschiebestopp nach § 60a Abs. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) für den Iran nicht bestehe. Eine Abschiebung – so der Erlass vom 13.10.2022 – kommt aber nur von Gefährdern, Straftätern und hartnäckigen Identitätsverweigerern in Betracht. Den Angaben des Erlasses zufolge handelt es sich bei hartnäckigen Identitätsverweigerern insbesondere um Personen, die eine Vielzahl von Alias-Identitäten verwenden oder Sozialleistungsbetrug unter Verwendung von alias-Identitäten begangen haben. Zusätzlich können eine anhaltende Mitwirkungsverweigerung bei der Pass- oder Passersatzpapierbeschaffung, nachweislich erfolgte Falschangaben bezüglich der Identität im Asylverfahren oder Handlungen von vergleichbarem Gewicht bei der Bewertung herangezogen werden.

Gemessen hieran erfüllt der Antragsteller diese Voraussetzungen nicht. Unstreitig handelt es sich bei dem Antragsteller weder um einen Gefährder noch um einen Straftäter. Zur Überzeugung der Kammer handelt es sich bei dem Antragsteller ebenfalls nicht um einen hartnäckigen Identitätsverweigerer im Sinne des o.g. Erlasses. Denn der Antragsteller hat gerade keine Vielzahl von Alias-Identitäten verwendet. Sofern der Antragsgegner geltend macht, der Antragsteller verweigere die Mitwirkung bei der Beschaffung von Pass- oder Passersatzpapieren, so wird unter Bezugnahme auf den o.g. Erlass vom 13.10.2022 darauf aufmerksam gemacht, dass diese Eigenschaft einer leistungsberechtigten Person zusätzlich zu der Verwendung einer Vielzahl von Alias- Identitäten vorliegen muss. Dies ist gerade nicht der Fall.

Mit Rücksicht auf die Bedeutung der Leistungseinschränkung für die Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums hält die Kammer daher vorliegend aufgrund bestehender Zweifel an einer Rückführungsmöglichkeit eine Folgenabwägung für geboten, die im Sinne der Sicherung des Existenzminimums zugunsten des Antragstellers ausfällt.

Dem Antragsteller stehen mithin privilegierte Leistungen nach § 2 Abs. 1 i.V.m. SGB XII analog zu.

2.)
Der Antragsteller hat einen Anordnungsgrund glaubhaft dargelegt. Eine besondere Eilbedürftigkeit ergibt sich aus dem existenzsichernden Charakter der erstrebten Leistungen.

3.)
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Absatz 1 SGG analog.

4.)
Aufgrund der Erfolgsaussicht war dem Antragsteller Prozesskostenhilfe gemäß §§ 73a SGG, 114 ff. ZPO zu bewilligen.

Es folgt die Rechtsmittelbelehrung.