Sozialgericht Hildesheim – Urteil vom 07.12.2022 – Az.: S 27 AY 95/21

URTEIL

S 27 AY 95/21

In dem Rechtsstreit

xxx,

– Kläger –

Prozessbevollmächtigter:
Rechtsanwalt Sven Adam,
Lange Geismarstraße 55, 37073 Göttingen

gegen

Landkreis Göttingen,
vertreten durch den Landrat,
Reinhäuser Landstraße 4, 37083 Göttingen

– Beklagter –

hat die 27. Kammer des Sozialgerichts Hildesheim auf die mündliche Verhandlung vom 7. Dezember 2022 durch die Richterin xxx sowie die ehrenamtliche Richterin xxx und den ehrenamtlichen Richter xxx für Recht erkannt:

1. Die Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides vom 30.12.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.05.2021 verurteilt, dem Kläger privilegierte Leistungen gem. § 2 AsylbLG iVm SGB XII analog für den Zeitraum 01.02.2021-31.07.2021 abzüglich bereits für diese Zeit erbrachter Leistungen zu gewähren.

2. Der Beklagte hat dem Kläger seine notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

3. Die Berufung wird zugelassen.

TATBESTAND

Der Kläger erstrebt die Gewährung höherer Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) für den Zeitraum vom 01.02.2021-31.07.2021.

Der 19xx in Göttingen geborene Kläger besitzt die libanesische Staatsangehörigkeit. Nach einer Abschiebung im Jahr 1999, reiste er seinen eigenen Angaben zufolge am 26.10.2015 erneut in das Bundesgebiet ein. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) lehnte mit Bescheid vom 18.08.2017 den Asylantrag des Klägers ab. Die hiergegen gerichtete Klage wurde mit Urteil des Verwaltungsgerichts (VG) Göttingen abgewiesen (VG Göttingen, Urteil vom 10.06.2020 – 1 A 67/18). Der Kläger ist Inhaber einer Duldung für Personen mit ungeklärter Identität.

Er wurde mit Schreiben vom 28.10.2015 dem örtlichen Zuständigkeitsbereich des Beklagten zugewiesen, der dem Kläger zunächst Grundleistungen gem. §§ 3, 3a AsylbLG bewilligte. Er verfügte im streitigen Zeitraum weder über einsetzbares Einkommen noch über verwertbares Vermögen.

Mit Bescheid vom 30.12.2020 bewilligte der Beklagte dem Kläger Grundleistungen nach §§ 3, 3a AsylbLG für den streitgegenständlichen Zeitraum vom 01.02.2021-31.07.2021. Mit Widerspruchsbescheid vom 04.05.2021 wies der Beklagte den Widerspruch des Klägers vom 01.02.2021 als unbegründet zurück. Zur Begründung führte der Beklagte aus, der Kläger habe an der Beschaffung seiner Pass- bzw. Passersatzpapiere (sog. Laissez-Passer) nicht mitgewirkt. Die konsequente Weigerungshaltung des Klägers zur Beantragung eines Passersatzpapieres stelle den einzigen Grund für seinen andauernden Aufenthalt im Bundesgebiet dar.

Hiergegen richtet sich die am 07.06.2021 erhobene Klage vor dem Sozialgericht Hildesheim. Der Kläger macht geltend, er habe die Dauer seines Aufenthalts im Bundesgebiet nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst. Als Voraussetzung für die Ausstellung eines Nationalpasses sei u.a. die Vorlage eines gültigen Aufenthaltstitels für die Bundesrepublik Deutschland bzw. eine Bescheinigung der Ausländerbehörde, dass ein Aufenthaltstitel vorliegt bzw. erteilt werden kann, aufgeführt.

Der Kläger beantragt,
den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 30.12.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.05.2021 zu verurteilen, dem Kläger privilegierte Leistungen gem. § 2 AsylbLG iVm SGB XII analog im Zeitraum vom 01.02.2021-31.07.2021 zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Er macht geltend, aufenthaltsbeendende Maßnahmen scheitern an der Passlosigkeit des Klägers und dessen Weigerung, bei der Beschaffung eines Passes bzw. Passersatzpapieres mitzuwirken. Die Ausländerbehörde des Beklagten habe den Kläger mehrfach über seine Passpflicht belehrt. Die Passbeschaffung werde zwar dadurch erschwert, dass seitens der Botschaft des Libanon für die Beantragung eines Passes ein Aufenthaltstitel gefordert werde. Mit Schreiben vom 02.12.2019 sei der Kläger aufgefordert worden, sich bei einer gesonderten Stelle bei der Botschaft des Libanon um das Formular „Beantragung eines Rückreisedokuments für sich illegal in Deutschland aufhaltende Personen“ zu bemühen, für das es weder eines Aufenthaltstitels noch einer Bescheinigung zur Zusage eines Aufenthaltstitels bedürfe. Der Kläger habe die Entgegennahme der Bescheinigung zur Vorlage in der Botschaft des Libanon verweigert.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie den beigezogenen Verwaltungs- und Ausländerakten des Beklagten Bezug genommen.

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE

Die Klage hat Erfolg. Die statthafte und auch im Übrigen zulässige – insbesondere fristgerecht erhobene – kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage gem. § 54 Abs. 1 Satz 1 Var. 1, Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ist begründet.

Der angefochtene Bescheid vom 30.12.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.05.2021 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 54 Abs. 2 SGG.

Der Kläger hat zur Überzeugung des Gerichts für den streitigen Zeitraum vom 01.02.2021-31.07.2021 einen Anspruch auf privilegierte Leistungen gemäß § 2 Abs. 1 AsylbLG i.V.m. SGB XII analog unter Anrechnung bereits erbrachter Leistungen nach dem AsylbLG.

1.
Nach § 2 Abs. 1 AsylbLG in der seit dem 01.01.2020 geltenden Fassung des Artikel 5 Nr. 3 des zweiten Gesetzes zur Durchsetzung der Ausreisepflicht vom 15.8.2019 (BGBl I S. 1294) ist das SGB XII abweichend von den §§ 3 und 4 bis 6 bis 7 auf diejenigen Leistungsberechtigten entsprechend anzuwenden, die sich seit 18 Monaten ohne wesentliche Unterbrechung im Bundesgebiet aufhalten und die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben.

Abgesehen von der Frage, ob der Kläger die Dauer seines Aufenthalts im Bundesgebiet rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst hat, ist das Gericht zu der Überzeugung gelangt, dass die sonstigen Voraussetzungen für einen Anspruch auf lebensunterhaltssichernde Analog-Leistungen vorliegen:

a.
Der Kläger ist gem. § 1 Abs. 1 Nr. 4 AsylbLG als geduldete Person leistungsberechtigt nach dem AsylbLG. Eine Duldung für Personen mit ungeklärter Identität nach § 60b Aufenthaltsgesetz (AufenthG) ist zwar nicht ausdrücklich in § 1 Abs. 1 Nr. 4 AsylbLG genannt; sie fällt aber gleichwohl unter diese Norm, weil es sich bei dieser Duldung (auch) um eine i.S.d. § 60a AufenthG „für Personen mit ungeklärter Identität“ handelt. Dies ergibt sich unmittelbar aus § 60b Abs. 1 S. 1 AufenthG (Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 09.07.2020 – L 8 AY 52/20 B ER – juris Rn. 22; vgl. auch Frerichs in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 3. Aufl., § 1 AsylbLG (Stand: 19.12.2022), Rn. 136).

b.
Der Kläger hält sich auch lange genug ununterbrochen im Bundegebiet auf seit seiner Einreise im Oktober 2015. Es kann daher dahinstehen, ob ein ununterbrochener Aufenthalt von 18 Monaten oder wegen der Übergangsvorschrift des § 15 AsylbLG noch die davor geltende Aufenthaltsdauer von 15 Monaten Anwendung findet (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 28.09.2021 – L 8 AY 19/21 B ER).

c.
Zur Überzeugung des Gerichts hat der Kläger die Dauer seines Aufenthalts im Bundesgebiet bis zum Ende des streitigen Zeitraums nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst.

Bei der Beurteilung der Frage der Rechtsmissbräuchlichkeit ist auf die gesamte Dauer des Aufenthaltes im Bundesgebiet abzustellen (vgl. Grube/Wahrendorf/Flint/Leopold, 7. Aufl. 2020, AsylbLG § 2 Rn. 27). Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) (grundlegend: Urteil vom 17. Juni 2008 – B 8/9b AY 1/07 R – juris Rn. 32 ff.) setzt ein rechtsmissbräuchliches Verhalten im Sinne des § 2 Abs. 1 AsylbLG in objektiver Hinsicht ein unredliches, von der Rechtsordnung missbilligtes Verhalten voraus, das in subjektiver Hinsicht vorsätzlich im Bewusstsein der objektiv möglichen Aufenthaltsbeeinflussung getragen ist. Dabei genügt angesichts des Sanktionscharakters des § 2 AsylbLG nicht schon jedes irgendwie zu missbilligende Verhalten. Art, Ausmaß und Folgen der Pflichtverletzung wiegen für den Ausländer so schwer, dass auch der Pflichtverletzung im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ein erhebliches Gewicht zukommen muss. Daher kann nur ein Verhalten, das unter jeweiliger Berücksichtigung des Einzelfalls, der besonderen Situation eines Ausländers in der Bundesrepublik Deutschland und der besonderen Eigenheiten des AsylbLG unentschuldbar ist (Sozialwidrigkeit), zum Ausschluss von Analog-Leistungen führen. Eine Ausnahme ist zu machen, wenn eine etwaige Ausreisepflicht des betroffenen Ausländers unabhängig von seinem Verhalten ohnehin in dem gesamten Zeitraum des Rechtsmissbrauchs nicht hätte vollzogen werden können (BSG, a.a.O., Rn. 44).

Dabei dürfe sich der Leistungsberechtigte nicht auf einen Umstand berufen, welchen er selbst treuwidrig herbeigeführt habe. Der Pflichtverletzung muss in diesem Kontext im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsprinzipes unter Berücksichtigung des Einzelfalles ein erhebliches Gewicht zukommen. Dabei stellt das BSG klar, dass auch ein einmaliges Verhalten diese Rechtsfolge zeitigen könne. Auf der subjektiven Seite setzt nach der zitierten höchstrichterlichen Rechtsprechung der Vorwurf der rechtsmissbräuchlichen Selbstbeeinflussung der Dauer des Aufenthaltes im Bundesgebiet Vorsatz voraus.

Gemessen hieran hat der Kläger zur Überzeugung des Gerichts die Dauer seines Aufenthaltes im Bundesgebiet nicht im Sinne des § 2 Absatz 1 AsylbLG durch eigenes Verhalten rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst.

Nach § 48 Abs. 3 AufenthG ist ein Ausländer, der keinen gültigen Pass oder Passersatz besitzt, verpflichtet, an der Beschaffung von Identitätspapieren mitzuwirken sowie alle Urkunden, sonstigen Unterlagen und Datenträger, die für die Feststellung seiner Identität und Staatsangehörigkeit und für die Feststellung und Geltendmachung einer Rückführungsmöglichkeit in einen anderen Staat von Bedeutung sein können und in deren Besitz er ist, den mit der Ausführung dieses Gesetzes betrauten Behörden auf Verlangen vorzulegen, auszuhändigen und zu überlassen (vgl. Oberverwaltungsgericht (OVG) Berlin-Brandenburg, Urteil vom 16.10.2018 – OVG 3 B 4.18 – juris Rn. 22; VG München, Beschluss vom 5.9.2018 – M 25 S 18.2249 – juris Rn. 17; VG Hamburg, Urteil vom 2.11.2010 – 8 K 1605/10 – juris Rn. 20). Nach der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung ist der Ausländer damit verpflichtet, es nicht nur bei der Einreichung der erforderlichen Unterlagen und einer Vorsprache bei der Auslandsvertretung seines Heimatstaates zu belassen, sondern darüber hinaus, falls ihm das Identitätspapier nicht in angemessener Zeit ausgestellt wird, regelmäßig nachzufragen, sich nach den Gründen für die Bearbeitungsdauer zu erkundigen und beharrlich, um die Ausstellung des Papiers nachzusuchen (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 16.10.2018 – OVG 3 B 4.18 – juris Rn. 22; VG München, Beschluss vom 5.9.2018 – M 25 S 18.2249 – juris Rn. 17; VG Hamburg, Urteil vom 2.11.2010 – 8 K 1605/10 – juris Rn. 20). Allerdings muss die Ausländerbehörde gesetzliche Mitwirkungspflichten z.B. zur Beschaffung von Identitätspapieren (§ 48 Abs. 3 AufenthG) konkret gegenüber dem Betroffenen aktualisiert haben, um aus der mangelnden Mitwirkung negative aufenthaltsrechtliche Folgen ziehen zu können (Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Urteil vom 26.10.2010 – 1 C 18/09 – juris Rn. 17; SG München, Beschluss vom 31.1.2017 – S 51 AY 122/16 ER – juris Rn. 40). Ferner folgt aus §§ 82 Abs. 3 Satz 1, 71 Abs. 1 AufenthG eine Hinweispflicht für die Ausländerbehörde, die in aller Regel über bessere Kontakte und Kenntnisse hinsichtlich der bestehenden Möglichkeiten zur Beschaffung von Heimreisepapieren verfügt (OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 21.2.2017 – OVG 3 B 14.16 – juris Rn. 24 m.w.N.).

Nach diesen Maßgaben spricht der Umstand, dass der Kläger in der Vergangenheit seine Mitwirkung bei der Beschaffung von einem Passersatzpapier nicht erfüllt hat, im Grundsatz zwar für die Verletzung von ausweisrechtlichen Pflichten nach § 48 AufenthG. Schließlich gab der Kläger in der mündlichen Verhandlung vom 07.12.2022 zu, nie ein Passersatzpapier bei der Botschaft des Libanon beantragt zu haben. Zur Überzeugung des Gerichts führt dieser Verstoß gegen die aufenthaltsrechtlichen Pflichten allerdings nicht zu einem Ausschluss der privilegierten Leistungen gem. § 2 Abs. 1 AsylbLG. Denn der Beklagte hat den Kläger zunächst nicht in hinreichender Weise auf die ihm im Einzelfall zumutbaren Mitwirkungshandlungen hingewiesen. Die Ausländerbehörde des Beklagten hat den Kläger in der Vergangenheit zwar mehrfach und eindeutig auf seine insoweit bestehende Mitwirkungspflicht bezüglich der Beschaffung der Pass- oder Passersatzpapiere mündlich hingewiesen (so etwa am 13.09.2018,17.06.2019,12.09.2019,15.10.2019). Jedoch machte die Ausländerstelle des Beklagten den Kläger nicht darauf aufmerksam, dass Bemühungen bei der Botschaft des Libanon um Passpapiere nicht erfolgsversprechend sein werden, da der Kläger nicht im Besitz eines Aufenthaltstitels war. Zur Überzeugung des Gerichts sind maßgeblich in diesem Einzelfall die besonderen Verhältnisse, die sich aus der Staatsangehörigkeit des Klägers ergeben. Hierzu hat das LSG Niedersachsen-Bremen bereits wie folgt ausgeführt (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 15.03.2021 – L 8 AY 102/20 B ER, Beschluss vom 15.06.2021 – L 8 AY 12/21 B ER; Beschluss vom 01.11.2022 – L 8 AY 24/22 B ER):

„Dem Senat ist auch aus anderen Gerichtsverfahren bekannt (vgl. Senatsbeschluss vom 9.7.2019 – L 8 SO 7/19 B ER -), dass die Botschaft des Libanon die Ausstellung eines Heimatpasses entsprechend dem von den Antragstellern vorgelegten Hinweisblatt von dem Nachweis eines gültigen Aufenthaltstitels bzw. der Versicherung der Ausländerstelle abhängig macht, dass der Pass zur Ausstellung oder Verlängerung eines Titels benötigt wird.
(…)
Diese besonderen Umstände führen nach Auffassung des Senats zu erhöhten Anforderungen an die Konkretisierung der von den Antragstellern zu erfüllenden Mitwirkungspflichten durch die Ausländerstelle, insbesondere bei der (grundsätzlich zumutbaren) Beschaffung von Geburtsurkunden, Personenstandsauszügen oder anderen Auszügen aus den im Heimatland geführten Registern unter Einschaltung von im Ausland lebenden Verwandten oder über Vertrauensanwälte.“

Eine Konkretisierung zu erfüllenden Mitwirkungspflichten wie in § 60 AufenthG normiert, erfolgte aus Sicht des Gerichts daher nicht. Eine Mitwirkungshandlung, die von vornherein erkennbar aussichtslos ist, kann allerdings Ausländern nicht abverlangt werden (Oppermann/Filges in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 3. Aufl., § 2 AsylbLG (Stand: 21.12.2022), Rn. 88). Zu berücksichtigen ist dabei, dass auch dem Verhalten der Behörde eine Bedeutung zukommt, insbesondere ob sie den Ausländern klar und unmissverständlich mitgeteilt hat, welche Mitwirkungshandlungen konkret abverlangt werden. Erst unter Berücksichtigung der aufgezeigten Kriterien kann letztendlich beurteilt werden, ob ein Verstoß gegen Mitwirkungspflichten objektiv den Vorwurf der Rechtsmissbräuchlichkeit begründet. Berücksichtigt man die gravierenden Folgen eines dauerhaften Leistungsausschlusses von privilegierten Leistungen im Fall des Rechtsmissbrauches, so werden an die Feststellung von rechtsmissbräuchlichen Verhaltensweisen bei Mitwirkungshandlungen strenge Anforderungen zu stellen sein (Oppermann/Filges in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 3. Aufl., § 2 AsylbLG (Stand: 21.12.2022), Rn. 89).

Gemessen hieran belegen die vom Kläger vorgelegten Merkblätter, auf denen seine Vorsprache bei der Botschaft des Libanon in Berlin vermerkt ist, zwar, dass er zur Erlangung eines Passes bei der Botschaft vorstellig geworden ist. Allerdings hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung vom 07.12.2022 glaubhaft dargelegt, dass ihm die Differenzierung zwischen „Passpapier“ und „Passersatzpapier“ in der Vergangenheit – und somit im streitgegenständlichen Zeitraum – nicht bekannt war. Der Kläger hat unstreitig die Botschaft des Libanon mehrfach aufgesucht und bei der Ausländerstelle des Beklagten erfragt, welche weitere Maßnahmen er vornehmen könne (vgl. Email vom 08.10.2019, Bl. 174 der Ausländerakte). Auf die Antwort der Ausländerbehörde des Beklagten vom 10.10.2019 (Bl. 175 der Ausländerakte) legte er einen Registerauszug vor (Bl. 185 ff. der Ausländerakte). Schließlich ist zu berücksichtigen, dass die Ausländerbehörde des Beklagten den Kläger erst ab dem Schreiben vom 11.03.2020 schriftlich auf seine ihm zumutbaren Mitwirkungshandlungen nach § 60b Abs. 3 AufenthG hingewiesen hat. Der Verweis auf die aussichtslose Beantragung eines Passes bei der Botschaft des Libanon aufgrund fehlender Aufenthaltsberechtigung erfolgte aber auch hier nicht. Unter Berücksichtigung der o.g. Rechtsprechung des LSG Niedersachsen-Bremen hätte die Ausländerbehörde des Beklagten den Kläger auf die in seinem Einzelfall konkreten Mitwirkungshandlungen – hier insbesondere die in Frage kommende Beantragung eines Passersatzpapiers bei der gesonderten Stelle der Botschaft des Libanon – hinweisen müssen. Dieser Hinweis ist aber gerade nicht erfolgt. Vielmehr hat die Ausländerbehörde des Beklagten den Kläger auf die allgemeinen Mitwirkungshandlungen gem. § 60b Abs. 3 AufenthG hingewiesen.

Soweit der Beklagte geltend macht, den Kläger darüber aufgeklärt zu haben, welche Maßnahmen er zur Beschaffung der Passersatzpapiere konkret zu ergreifen habe – nämlich durch Vorsprache bei der speziellen Stelle der Botschaft unter Aushändigenlassen des Antragsformulars „Beantragung eines Rückreisedokuments für eine sich illegal in Deutschland aufhaltende Person“, so wird dies vom Kläger unter Hinweis auf sprachliche Schwierigkeiten bestritten. Da bei den persönlichen Vorsprachen bei der Ausländerbehörde nie ein Dolmetscher zugegen war, gehen diese Beweisunsicherheiten zu Lasten des Beklagten (dazu LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 08.12.2016 – L 8 AY 33/13). Zur Überzeugung des Gerichts durfte der Kläger zwar verstanden haben, dass er einen Pass vorzulegen habe. Nach der mündlichen Verhandlung am 07.12.2022 ist das Gericht jedoch zu der Überzeugung gelangt, dass der Kläger nicht in der Lage war eine Differenzierung zwischen dem Beschaffen von Passpapieren und Passersatzpapieren vorzunehmen (so auch LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 15.03.2021 – L ist 8 AY 102/20 B ER). Dafür spricht auch die Tatsache, dass der Kläger erst durch die Mithilfe seiner Verlobten die Bescheinigung bei der Ausländerbehörde entgegengenommen hat.

Der Beklagte hat zwar zutreffend ausgeführt, der Kläger sei bereits mit Schreiben der Leistungsbehörde – und gerade nicht durch die Ausländerbehörde des Beklagten gem. §§ 82 Abs. 3, 71 Abs. 1 AufenthG – vom 02.12.2019 (Bl. 216 der Verwaltungsakte) darauf aufmerksam gemacht worden, bei der Botschaft des Libanon die Ausstellung eines Passersatzpapieres beantragen zu können. Allerdings wurde auch mit diesem Schreiben nicht darauf aufmerksam gemacht, dass dortige Bemühungen um Passpapiere für den Kläger nicht erfolgsversprechend sein werden.

Entscheidend ist letztlich, dass – entgegen der Auffassung des Beklagten – auch zur Ausstellung eines Passersatzpapiers eine Bescheinigung der Ausländerbehörde, dass bei Vorlage eines gültigen Passersatzpapiers ein Aufenthaltstitel erteilt wird, erforderlich wäre. Dies ergibt sich bereits aus dem Merkblatt der Botschaft des Libanon zur Beantragung oder Verlängerung eines Laissez-Passer für Personen deren Staatsangehörigkeit “à l’étude“ (mit ungeklärter Identität) ist. Der Vorwand des Beklagten, die Staatsangehörigkeit des Klägers sei gerade nicht ungeklärt, vermag das Gericht nicht zu überzeugen. Denn schließlich ist der Kläger – trotz Vorlage einer von der Stadt Göttingen ausgestellten Abstammungsurkunde aus dem Jahr 1994 – Inhaber einer Duldung für „Personen mit ungeklärter Identität“ nach § 60b AufenthG.

Eine rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Aufenthaltsdauer vermag das Gericht daher nicht zu erkennen. Insbesondere liegen keine Anhaltspunkte für ein vorsätzliches Handeln des Klägers vor.

2.
Mithin stehen dem Kläger privilegierte Leistungen gem. § 2 Abs. 1 AsylbLG i.V.m. SGB XII analog zu.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Absatz 1 SGG.

Es folgt die Rechtsmittelbelehrung.