Sozialgericht Gießen – Gerichtsbescheid vom 23.01.2023 – Az.: S 18 AY 30/21

GERICHTSBESCHEID

In dem Rechtsstreit

xxx,

Kläger,

Prozessbevollm.:
Rechtsanwalt Sven Adam
Lange Geismarstraße 55, 37073 Göttingen,

gegen

Lahn-Dill-Kreis, vertreten durch den Kreisausschuss, Rechtsabteilung,
Karl-Kellner-Ring 51, 35576 Wetzlar,

Beklagter,

hat die 18. Kammer des Sozialgerichts Gießen ohne mündliche Verhandlung am 23. Januar 2023 durch den Vorsitzenden, Richter am Sozialgericht xxx, für Recht erkannt:

Der Bescheid vom 09.03.2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.07.2021 wird abgeändert.

Der Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger für die Zeit vom 01.04. bis 30.06.2021 Leistungen nach § 28 SGB XII in Verbindung mit dem Regelbedarfsermittlungsgesetz und §§ 28a, 40 SGB XII mit der Maßgabe abzüglich bereits gewährter Leistungen zu zahlen, dass bei der Unterbringung in einer Gemeinschaftsunterkunft im Sinne von § 53 Abs. 1 Asylgesetz oder in einer Aufnahmeeinrichtung nach § 44 Abs. 1 Asylgesetz für jede alleinstehende erwachsene Person der Leistungsbemessung ein Regelbedarf in Höhe der jeweils aktuellen Regelbedarfsstufe 1 zugrunde gelegt wird.

Der Beklagte hat dem Kläger die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung entstandenen notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Dem Kläger wird unter Beiordnung von Rechtsanwalt Adam Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung für den ersten Rechtszug ab 09.07.2021 bewilligt. Die Beiordnung erfolgt zu den Bedingungen eines im Bezirk des Prozessgerichts niedergelassenen Rechtsanwalts.

TATBESTAND

Im Streit ist die Höhe der dem Kläger zu zahlenden Leistungen.

Mit Bescheid vom 09.03.2021 zahlte der Beklagte dem Kläger ab 01.03.2021 Leistungen in Höhe von 328,00 EUR monatlich.

Der Widerspruch hatte keinen Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 05.07.2021).

Dagegen richtet sich die Klage vom 05.07.2021.

Der Kläger beantragt,
den Beklagten unter Abänderung der Leistungsgewährung im Zeitraum 01.04.2021 bis 30.06.2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.07.2021 zu verurteilen, dem Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts die beantragten Leistungen im Zeitraum 01.04.2021 bis 30.06.2021 in gesetzlicher Höhe zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Dem Gericht lagen die Akten des Beklagten vor.

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE

Das Gericht konnte gemäß § 105 Abs. 1 SGG ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden, da die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist; die Beteiligten wurden hierzu gehört.

Die Klage hat Erfolg.

Die angefochtenen Bescheide erweisen sich als rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten, § 54 Abs. 2 SGG.

Der Kläger hat einen Anspruch auf höhere Leistungen gegen den Beklagten. Dieser ergibt sich aus dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 19.10.2022. Mit seinem am 24.11.2022 veröffentlichten Beschluss vom 19.10.2022 (1 BvL 3/21) hat der 1. Senat des Bundesverfassungsgerichts entschieden, dass § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Artikel 1 Abs. 1 GG i. V. m. Artikel 20 Abs. 1 GG unvereinbar ist. Die Entscheidung betrifft alleinstehende Erwachsene, die in sogenannten Sammelunterkünften wohnen und sich seit mindestens 18 Monaten rechtmäßig in der Bundesrepublik aufhalten. Ihnen hat der Gesetzgeber ab 01.09.2019 einen um 10% geringeren Bedarf an existenzsichernden Leistungen zugeschrieben, in dem nicht mehr die Regelbedarfsstufe 1, sondern die in § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG neu geschaffene „Sonderbedarfsstufe“ der Regelbedarfsstufe 2 zugrunde gelegt wird. Dies ist, so das Bundesverfassungsgericht, mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums unvereinbar. Es sei nicht erkennbar, dass in den Sammelunterkünften regelmäßig tatsächlich Einsparungen durch gemeinsames Wirtschaften erzielt werden oder werden können, die eine Absenkung der Leistungen um 10% tragen würden. Daneben kann der Gesetzgeber zwar im Sinne des Nachrangs staatlicher Leistungen grundsätzlich auch eine von den Bedürftigen nicht genutzte, ihnen aber an sich tatsächlich eröffnete und zumutbare Möglichkeit von Einsparungen berücksichtigen. Doch fehle es an hinreichend tragfähigen Anhaltspunkten für die Annahme, dass die Voraussetzungen dafür in den Sammelunterkünften tatsächlich gegeben sind.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Da die Klage entsprechend der obigen Ausführungen Erfolg hat, war Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt Adam zu bewilligen, § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG i. V. m. § 114 Abs. 1 ZPO.

Es folgt die Rechtsmittelbelehrung.