Sozialgericht Stuttgart – Beschluss vom 16.02.2023 – Az.: S 11 AY 3725/22 ER

BESCHLUSS

in dem Verfahren

xxx,

– Antragsteller –

Proz.-Bev.: Rechtsanwalt Sven Adam
Lange-Geismar-Str. 55, 37073 Göttingen

gegen

Landeshauptstadt Stuttgart – Sozialamt
vertreten durch den Oberbürgermeister
Eberhardstr. 33, 70173 Stuttgart

– Antragsgegnerin –

Die 11. Kammer des Sozialgerichts Stuttgart hat am 16.02.2023 in Stuttgart durch die Richterin am Sozialgericht xxx ohne mündliche Verhandlung beschlossen:

Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig und unter dem Vorbehalt der Rückforderung ab dem 29.11.2022 bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung über den Widerspruch des Antragstellers vom 29.11.2022 Leistungen gemäß §§ 3, 3a AsylbLG in der Regelbedarfsstufe 1 zu gewähren

Die Antragsgegnerin trägt die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers.

GRÜNDE
I.

Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung von Grundleistungen nach den §§ 3, 3a AsylbLG in der Regelbedarfsstufe 1 streitig.

Der Antragsteller ist guineischer Staatsangehöriger und ist am 25.09.2018 erstmals in die Bundesrepublik Deutschland eingereist und stellte am 25.09.2018 einen Asylantrag. Der Asylantrag wurde mit Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 01.02.2021 als unbegründet abgelehnt. Der Antragsteller ist seit dem 04.08.2021 im Besitz einer Bescheinigung über die Aussetzung der Abschiebung (Duldung) nach § 60b Abs. 1 AufenthG für Personen mit ungeklärter Identität, gültig bis 20.01.2023.

Nach der Zuweisung zur Antragsgegnerin am 14.05.2019, hat der Antragsteller unmittelbar nach Ankunft in Stuttgart einen Antrag auf Leistungen nach dem AsylbLG gestellt. Mit Bescheid vom 15.06.2021 bewilligte die Antragsgegnerin dem Antragsteller eingeschränkte Leistungen nach § 1a Abs. 2 AsylbLG i.V.m. § 3 AsylbLG für die Zeit vom 01.07.2021 bis 31.12.2021. Den hiergegen eingelegten Widerspruch wies die Antragsgegnerin mit Widerspruchsbescheid vom 17.07.2021 zurück. Die anschließend beim Sozialgericht Stuttgart erhobene Klage ist unter dem Az. S 11 AY 3147/21 anhängig.

Mit Bescheid vom 22.11.2022 bewilligte die Antragsgegnerin dem Antragsteller Leistungen gemäß §§ 1, 3 AsylbLG für den Monat November 2022.

Hiergegen legte der Antragsteller am 29.11.2022 Widerspruch und stellte am selben Tag den hiesigen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz.

Der Antragsteller meint, dass ihm Leistungen in verfassungsmäßiger Höhe in der Regelbedarfsstufe 1 zustünden.

Der Antragsteller beantragt,
die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, dem Antragsteller vorläufig und unter dem Vorbehalt der Rückforderung bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung über den Widerspruch des Antragstellers vom 29.11.2022 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 22.11.2022 (Az.: 2635.730975) unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts die beantragten Leistungen in gesetzlicher Höhe ab Eingang dieses Antrages bei Gericht zu gewähren.

Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzuweisen.

Die Antragsgegnerin trägt vor, dass kein Anspruch auf höhere Leistungen bestünde und der Antragsteller auch keinen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht habe.

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten und der Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die beigezogene Verwaltungsakte der Antragsgegnerin und die Prozessakte Bezug genommen.

II.

Der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz ist zulässig und begründet.

Der einstweilige Rechtschutz richtet sich im Streitfall nach § 86 Absatz 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Danach kann das Gericht der Hauptsache zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn die Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Dies ist der Fall, wenn dem Antragsteller bei summarischer Prüfung ein Anspruch auf die begehrte Leistung zusteht (Anordnungsanspruch) und die Durchsetzung des Anspruchs wegen besonderer Eilbedürftigkeit nicht bis zur Entscheidung in der Hauptsache warten kann (Anordnungsgrund). Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind glaubhaft zu machen (§ 86b Absatz 2 Satz 4 SGG i. V. m. § 920 Absatz 2 Zivilprozessordnung – ZPO). Dabei darf die einstweilige Anordnung mit Rücksicht auf ihren vorläufigen Charakter die endgültige Entscheidung in der Hauptsache grundsätzlich nicht vorwegnehmen (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen vom 26. Januar 2015 – L 7 AS 617/14 B; LSG Sachsen vom 19. Dezember 2016 – L 7 AS 1001/16 B ER; HK- SGG/Binder § 86b Rn. 45).

Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund stehen dabei nicht isoliert nebeneinander; es besteht vielmehr eine Wechselbeziehung der Art, dass die Anforderungen an den Anordnungsanspruch mit zunehmender Eilbedürftigkeit bzw. Schwere des drohenden Nachteils (dem Anordnungsgrund) zu verringern sind und umgekehrt. Ist die Klage in der Hauptsache offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist der Antrag auf einstweilige Anordnung ohne Rücksicht auf den Anordnungsgrund grundsätzlich abzulehnen, weil ein schützenswertes Recht nicht vorhanden ist. Ist die Klage in der Hauptsache dagegen offensichtlich begründet, so vermindern sich die Anforderungen an den Anordnungsgrund. Auch dann kann aber nicht gänzlich auf einen Anordnungsgrund verzichtet werden (LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 15. November 2013 – L 15 AS 365/13 B ER, Rn. 18, juris; Hessisches LSG, Beschluss vom 5. Februar 2007 – L 9 AS 254/06 ER, Rn. 4, juris). Der Erlass einer einstweiligen Anordnung muss vielmehr für die Abwendung wesentlicher Nachteile nötig sein; das heißt es muss eine dringliche Notlage vorliegen, die eine sofortige Entscheidung erfordert. Eine solche Notlage ist bei einer Gefährdung der Existenz oder erheblichen wirtschaftlichen Nachteilen zu bejahen (Keller in: MeyerLadewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl. 2020, § 86b Rn. 29a; Burkiczak in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl., § 86b SGG (Stand: 03.02.2023), Rn. 412).

Nach Überzeugung der Kammer hat der Antragsteller einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht.

Dem Antragsteller ist in einer Gemeinschaftsunterkunft i. S. v. § 53 Abs. 1 AsylG untergebracht und hat unstreitig Anspruch auf Grundleistungen nach §§ 3, 3a AsylbLG. Diese stehen ihm nach Auffassung der Kammer unter Berücksichtigung des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 19. Oktober 2022 (Az. 1 BvL 3/21) im Umfang der Regelbedarfsstufe 1 zu. Mit diesem Beschluss hat das BVerfG § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AsylbLG mit Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m. dem Sozialstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 1 GG für unvereinbar erklärt, soweit für eine alleinstehende erwachsene Person ein Regelbedarf lediglich in Höhe der Regelbedarfsstufe 2 anerkannt wird, und hat bis zu einer Neuregelung angeordnet, dass auf Leistungsberechtigte nach § 2 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG § 28 SGB XII i. V. m. dem Regelbedarfsermittlungsgesetz und §§ 28a, 49 SGB XII mit der Maßgabe entsprechende Anwendung findet, dass bei der Unterbringung in einer Gemeinschaftsunterkunft i. S. v. § 53 Abs. 1 AsylG oder einer Aufnahmeeinrichtung nach § 44 Abs. 1 AsylG für jede alleinstehende erwachsene Person der Leistungsbemessung ein Regelbedarf in Höhe der jeweils aktuellen Regelbedarfsstufe 1 zugrunde gelegt wird. Aus der genannten Entscheidung des BVerfG ergibt sich nach Auffassung der Kammer ohne Zweifel auch die Verfassungswidrigkeit der Parallelregelung des § 3a Abs. 1 Nr. 2 lit. b AsylbLG bzw. § 3a Abs. 2 Nr. 2 lit. B AsylbLG (so auch: Hessisches LSG, Beschluss vom 20. Dezember 2022 – L 4 AY 28/22 B ER; Frerichs in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 3. Aufl., § 3a AsylbLG (Stand: 28.12.2022), Rn. 44_18). Soweit das BVerfG seine Anordnung auf Leistungsberechtigte nach § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AsylbLG beschränkt hat und Leistungsberechtigte nach § 3, 3a Abs. 1 Nr. 2 Buchstabe b) und Abs. 2 Nr. 2 Buchstabe b) AsylbLG von der Anordnung nicht umfasst sind, stellt sich die verfassungsrechtliche Problematik der Regelungen in § 3a AsylbLG als vergleichbar dar, denn auch insoweit bestehen keine tragfähigen Anhaltspunkte dafür, dass in den Sammelunterkünften regelmäßig tatsächlich Einsparungen durch gemeinsames Wirtschaften erzielt werden oder werden können, die eine Absenkung der Leistungen um 10 % rechtfertigen würden (vgl. Hessisches LSG, Beschluss vom 20. Dezember 2022 – L 4 AY 28/22 B ER).

In diesem Zusammenhang geht die Kammer davon aus, dass sich die infolge der Entscheidung des BVerfG zu erwartende Neuregelung des Gesetzgebers auch auf die Sonderbedarfsstufe nach § 3a Abs. 1 Nr. 2 lit. b AsylbLG bzw. § 3a Abs. 2 Nr. 2 lit. b AsylbLG erstrecken wird. Insofern ist auch dem Internetauftritt des Städte- und Gemeindebundes Nordrhein-Westfalens (vgl. StGB NRW-Mitteilung 690/2022 vom 21.12.2022) zu entnehmen, dass das BMAS aufgrund einer Anfrage der Länderarbeitsgemeinschaft für Migration und Flüchtlingsfragen (ArgeFlü) zur Frage, ob der Beschluss des BVerfG (Az. 1 BvL 3/21) auch auf Leistungen nach §§ 3, 3a AsylbLG Anwendung finden soll, ausgeführt habe, „dass der o.g. Beschluss zur Verfassungswidrigkeit der Regelung nach § 2 Absatz 1 Satz 4 Nummer 1 AsylbLG auch bei der Gewährung von Grundleistungen nach §§ 3 bzw. 3a AsylbLG angewandt werden sollte“. Die der Verfassungswidrigkeit der Norm zugrundeliegende Begründung, es gäbe keine tragfähigen Anhaltspunkte dafür, dass in den Sammelunterkünften regelmäßig tatsächlich Einsparungen durch gemeinsames Wirtschaften erzielt werden oder werden können, die eine Absenkung der Leistungen um 10 % rechtfertigen würden, sei von grundsätzlicher Natur. Das BMAS gehe daher von einer Anwendbarkeit des Beschlusses auch auf die Parallelregelungen in § 3a Absatz 1 Nummer 2 und Absatz 2 Nummer 2 AsylbLG für Leistungen im Grundleistungsbezug aus (vgl. https://www.kommunen.nrw/en/information/bulletins/database/detailansicht/dokument/hinweise-des-ministeriums-fuer-kinder-jugend-familie-gleichstellung-flucht-und-integration-zum-as.html; zuletzt abgerufen am 15.02.2023).

Auch ein Anordnungsgrund ist gegeben. Allein der Umstand, dass Grundleistungen der sozialen Sicherung betroffen sind, genügt zwar nicht, um generell einen im Hauptsacheverfahren nicht mehr korrigierbaren, irreparablen Nachteil anzunehmen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 19. September 2017 – 1 BvR 1719/17, juris, Rn. 8); Landessozialgericht Baden-Württemberg, Beschluss vom 28. August 2019 – L 7 AY 2735/19 ER-B, Rn. 8, juris). Angesichts der dargestellten überwiegenden Erfolgsaussichten in der Hauptsache unter Verweis auf die Entscheidung des BVerfG 19. Oktober 2022 (Az. 1 BvL 3/21) ist nach Auffassung der Kammer vorliegend jedoch eine restriktive, an der Glaubhaftmachung der Eilbedürftigkeit ausgerichtete Rechtsprechung (vgl. Burkiczak in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl., § 86b SGG (Stand: 03.02.2023), Rn. 425 m.w.N.), nicht angezeigt. Die Kammer erachtet vor diesem Hintergrund die Behauptung des Antragstellers, dass die derzeitigen Leistungen zur Deckung seines Existenzminimums nicht genügen, zur Begründung eines Anordnungsgrundes ausnahmsweise als ausreichend.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Da der Rechtsstreit wegen der Höhe der geltend gemachten Leistungen in der Hauptsache der Berufung bedarf, findet eine Beschwerde vorliegend nicht statt, §§ 172 Abs. 3 Nr. 1, 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG.