Tacheles Rechtsprechungsticker KW 08/2023

1. Entscheidungen des Bundessozialgerichts zur Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem (SGB II) und zum Arbeitsförderungsrecht (SGB III)

1.1 – BSG, Urt. v. 15.02.2023 – B 4 AS 2/22 R

Grundsicherung für Arbeitsuchende – Regelbedarf – gemischte Bedarfsgemeinschaft – Leistungsbezug nach dem Asylbewerberleistungsgesetz

Hat eine volljährige Leistungsberechtigte, die mit ihren Kindern und einem volljährigen Partner in Bedarfsgemeinschaft lebt, der Grundleistungen nach § 3 AsylbLG bezieht, Anspruch auf Leistungen unter Berücksichtigung der Regelbedarfsstufe 1 und des Mehrbedarfs für Alleinerziehende?

Urteil: Beschränkte Leistungen bei Paaren mit Asylbewerberleistungen
Eine Ehefrau muss den geringeren Sozialleistungssatz für Verheiratete auch dann hinnehmen, wenn ihr Ehemann die bereits niedrigeren Leistungen für Asylbewerber bezieht.

weiter auf: www.evangelisch.de

Hinweis Redakteur:
Deutsche Ehefrau muss 50 EUR weniger Leistungen mtl. hinnehmen, weil AsylbLG-Ehemann in Haushalt kam – BSG sagt nun leider: das sei so hinzunehmen.

Mehr hier: www.ra-gerloff.de

1.2 – BSG, Urt. v. 15.02.2023 – B 11 AL 40/21 R

Arbeitslosenversicherung – Arbeitslosengeld – Arbeitslosmeldung – Dienstbereitschaft – Agentur für Arbeit

Orientierungshilfe Redakteur v. Tacheles e. V.
Im Wege der analogen Anwendung von § 141 Absatz 3 SGB III wirkt eine Arbeitslosmeldung auch dann zurück, wenn – wie hier – die Arbeitslosmeldung im Anschluss an eine Zeit der Arbeitsunfähigkeit erfolgt.

Der Gesetzgeber wollte bei der Neuregelung die Rückwirkung der Arbeitslosmeldung zum Zwecke der Verwaltungsvereinfachung nicht mehr allein vom Willen des Arbeitslosen abhängig machen, sich an einem Tag arbeitslos zu melden, an dem die Bundesagentur für Arbeit nicht dienstbereit ist. Dieser Gesichtspunkt ist aber nicht erheblich und die Fallgruppe planwidrig in den Anwendungsbereich des § 141 Absatz 3 SGB III nicht einbezogen, wenn – wie im vorliegenden Fall – das Auseinanderfallen des ersten Tags der Arbeitslosigkeit und des ersten Tags der Beschäftigungslosigkeit nicht auf dem freien Entschluss der Klägerin beruht, sondern auf ihrer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit.

Soweit der Senat in seinem Urteil vom 17. März 2015 (B 11 AL 12/14 R) die gegenteilige Auffassung vertreten hat, hält er daran nicht fest.

Quelle: www.bsg.bund.de

2. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung nach dem (SGB II)

2.1 – LSG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 11.08.2022 – L 5 AS 5/19

Leitsätze
1. Bei der Ermittlung des Gewinns eines Selbstständigen können nur die notwendigen Betriebsausgaben berücksichtigt werden, die nachgewiesen worden sind.

2. Erfolgte Tilgungszahlungen können nur als notwendige Betriebsausgaben anerkannt werden, wenn sie einem bestimmten Darlehensvertrag zugeordnet werden können, aus dem die Zahlungsverpflichtung folgt. Existieren verschiedene Versionen eines Darlehensvertrags und macht der Selbstständige zu den Umständen der Tilgungszahlungen und der vertraglichen Verpflichtungen widersprüchliche Angaben, geht dies zu seinen Lasten.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

2.2 – LSG Hamburg, Urt. v. 03.11.2022 – L 4 AS 190/21

Anspruch des Grundsicherungsberechtigten auf Übernahme der Kosten der Unterkunft gegenüber dem Leistungsträger bei Nachweis einer ernsthaften Mietzinsforderung des Vermieters

Orientierungssatz
Der Grundsicherungsberechtigte hat Anspruch auf Leistungen für die Unterkunft gegenüber dem Grundsicherungsträger nach § 22 SGB 2, wenn er nachweisen kann, dass er einer ernsthaften Mietzinsforderung des Vermieters ausgesetzt ist. Dies gilt auch dann, wenn die Bedarfsgemeinschaft mit ihm lebende Mitmieterin mit der Mietzahlung einspringt, um die von ihr genutzte Wohnung zu halten. Existieren keine Anhaltspunkte dafür, dass die Mitmieterin auf den Mietanteil des Mitbewohners verzichtet, so ist der Grundsicherungsträger zur Zahlung der Unterkunftskosten verpflichtet. (Rn.33)

Quelle: www.landesrecht-hamburg.de

2.3 – LSG NSB, Urt. v. 14.12.2022 – L 9 AS 272/19

Leitsätze
1. Ein wirksamer Mietvertrag zwischen Verwandten liegt nicht vor, wenn eine ernsthafte Mietzinsforderung nicht besteht und auch keine Zahlungen auf der Grundlage eines vorgelegten Vertrages erbracht worden sind.

2. Zur Umkehr der Beweislast für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 45 SGB X, wenn in der persönlichen Sphäre oder in der Verantwortungssphäre des Leistungsempfängers wurzelnde Vorgänge nicht aufklärbar sind und die zeitnahe Aufklärung des Sachverhalts durch unterlassene Angaben oder unzureichende Mitwirkung bei der Sachverhaltsaufklärung erschwert oder verhindert worden ist. Eine Beweislastumkehr kommt in Betracht bei der Frage, ob und in welchem Umfang Mietzahlungen erbracht worden sind.

3. Bei der Klagerhebung durch einen Rechtsanwalt ist davon auszugehen, dass er die Bezeichnung der Kläger bewusst und mit Bedacht vornimmt. Nur die innerhalb der Klagefrist von ihm benannten Kläger werden Beteiligte des sozialgerichtlichen Verfahrens. Nach Ablauf der Klagefrist können grundsätzlich keine weiteren Beteiligten in das Verfahren einbezogen werden, insbesondere ist für derartige Fälle der Anwendungsbereich des sog. Meistbegünstigungsgrundsatzes nicht eröffnet.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

2.4 – LSG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 13.07.2022 – L 4 AS 86/16

Leitsätze
1. Kanalanschlusskosten gehören bei selbstgenutzten Hausgrundstücken dem Grunde nach zu den berücksichtigungsfähigen Aufwendungen, die tatsächlich und untrennbar mit der Nutzung der Unterkunft verbunden sind. Daher ist ein Kanalanschlussbeitrag bei den KdUH zu berücksichtigen, wenn er während des Leistungsbezugs entstanden, d.h. erstmalig fällig geworden ist.

2. Bestehende (fällige) Verbindlichkeiten, die aus früheren Zeiten stammen und bereits vor dem SGB II-Leistungsbezug erstmalig fällig waren, sind Schulden und keine Aufwendungen iSv § 22 Abs 1 SGB II.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

2.5 – LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss v. – L 19 AS 929/22 B ER

Leitsätze
1. Eine ununterbrochene fünfjährige Meldung im Bundesgebiet nach dem Bundesmeldegesetz (BMG) ist keine gesetzliche Voraussetzung einer Leistungsberechtigung nach § 7 Abs. 1 Satz 4 und 5 SGB II.

2. Nach erstmaliger Anmeldung ist lediglich der Nachweis eines fünfjährigen gewöhnlichen Aufenthalts erforderlich.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

Hinweis Redakteur:
Erforderlich ist lediglich, dass nach einer erstmaligen Anmeldung, die länger als fünf Jahre zurückliegt, ein fünfjährige Aufenthalt nachgewiesen ist, ggf. auch mit nicht melderechtlich erfassten Zeiten (vgl. hierzu bereits die Entscheidung des Senates mit Beschluss vom 21. Oktober 2021 – L 19 AS 929/21 B ER; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 11. Mai 2020 – L 18 AS 1812/19; LSG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 9. Dezember 2019 – L 6 AS 152/19 B ER; LSG Hamburg, Beschluss vom 20. Juni 2019 – L 4 AS 34/19 B ER; Leopold, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl. Stand 29. November 2021; a. A. LSG Berlin-Brandenburg, Beschlüsse vom 31. Mai 2021 – L 5 AS 457/21 B ER –, und vom 4. Mai 2020 – L 31 AS 602/20 B ER ; Hessisches LSG, Beschluss vom 16. Oktober 2019 – L 7 AS 343/19 B ER).

2.6 – LSG NRW, Urt. v. 16.09.2022 – L 21 AS 1977/19

Leitsatz Redakteur v. Tacheles e. V.
Der Fahrkostenersatz des Arbeitgebers ist Einkommen aus Erwerbstätigkeit im Sinne des § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II (vgl. hierzu BSG am 11.11.2021 – B 14 AS 41/12 R).

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

3. Entscheidungen der Sozialgerichte zur Grundsicherung nach dem (SGB II)

3.1 – Sozialgericht Hannover, Urteil vom 17. Januar 2023 – S 39 AS 2739/20 – Autorin: Silke Clasvorbeck, Rechtsschutzsekretärin und Online-Redakteurin, Bielefeld

Wann war der Rückforderungsbescheid zugegangen?
Im April 2020 erhält die Klägerin eine Mahnung der Inkassostelle der Bundesagentur für Arbeit. Da sie die Forderung nicht nachvollziehen kann, wendet sie sich an die Arbeitsagentur. Man teilt ihr mit, es gehe um eine Überzahlung von Leistungen nach dem SGB II aus dem Jahr 2012. Einen Aufhebungs- und Erstattungsbescheid dazu müsse sie im September 2012 erhalten haben. Doch das hat sie nicht. Kann die Arbeitsagentur das Geld dennoch zurückverlangen?

weiter: www.dgbrechtsschutz.de

Anmerkung Redakteur:
Keine Rückforderung von ALG II, wenn das JobCenter nicht beweisen kann, dass der Rückforderungsbescheid mit der Post aufgegeben wurde, wenn der Hilfebedürftige glaubhaft versichert, diesen nie erhalten zu haben (Leitsatz Redakteur v. Tacheles e. V.)

Hinweis Redakteur:
Gemäß § 37 Abs. 2 Satz 3 Hs. 2 SGB X hat die Behörde im Zweifel den Zugang und den Zeitpunkt des Zugangs nachzuweisen. Die Drei-Tagesfiktion des § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X setzt voraus, dass der Sozialleistungsträger den Tag der Aufgabe des Schriftstückes zur Post in der Akte vermerkt hat (BSG vom 03.03.2009 – B 4 AS 37/08 R).

4. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Sozialhilfe (SGB XII)

4.1 – LSG NRW, Urt. v. 08.09.2022 – L 9 SO 160/19

Keine Bewilligung von Vorsorgeaufwendungen (freiwillige Beiträge zur Gesetzlichen Rentenversicherung)

Orientierungssatz Redakteur v. Tacheles e. V.
Eine Übernahme der Höchstbeiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung ist iSd § 33 Abs. 1 SGB XII unangemessen und war dem Sozialhilfeträger als Ermessensleistung nicht möglich.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

Hinweis Redakteur:
Beim BSG ist folgende Rechtsfrage anhängig: – B 8 SO 13/22 R – Zu den Voraussetzungen der Übernahme erforderlicher Aufwendungen für eine angemessene Alterssicherung nach § 33 Absatz 1 SGB XII.

4.2 – LSG Bayern, Beschluss v. 25.01.2023 – L 8 SO 343/22 B ER

Leitsätze
Kosten für eine behinderungsbedingt angeordnete Untersuchung der Eigung zum Führen eines Kfz können im Rahmen der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben oder zur Sozialen Teilhabe zu übernehmen sein. Voraussetzung ist dabei auch eine vorherige Antragstellung.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

5. Entscheidungen zum Asylrecht und AsylbLG

5.1 – Sozialgericht Stuttgart – Beschluss vom 27.01.2023 – Az.: S 20 AY 3898/22 ER

Normen: § 3 AsylbLG, § 3a AsylbLG, § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG – Schlagworte: Regelbedarfsstufe 1, Leistungen nach den §§ 3, 3a AsylbLG,

weiter bei RA Sven Adam

6. Verschiedenes zu Hartz IV, zur Sozialhilfe, zum Asylrecht, Wohngeldrecht und anderen Gesetzesbüchern

6.1 – Wichtige Rechtsprechung zum SGB II – Anspruch von Unionsbürger*innen: Verlängerung der Fortwirkung des Arbeitnehmerstatus bei Mutterschutz, weitere Anspuchsbegründung durch fiktives Aufenthaltsrecht nach AufenthG – Anmerkung vom Paritätischen Gesamtverband zu – LSG Sachsen, Urteil vom 6.12.2022 – L 4 AS 939/20

Das Landessozialgericht Sachsen (Urteil vom 6.12.2022; L 4 AS 939/20) hat eine wichtige Entscheidung zum Anspruch auf SGB II-Leistungen für Unionsbürger*innen in familiären Konstellationen getroffen:

Eine EU-Bürger*in hat mit einem geduldeten tunesischen Staatsbürger ein gemeinsames Kind, die Eltern sind nicht miteinander verheiratet, die Mutter ist während der Schwangerschaft „betriebsbedingt“ gekündigt worden.

Das LSG Sachsen hat darin zum einen festgestellt, dass in diesem Fall der fortwirkende Arbeitnehmer*innenstatus nicht nach sechs Monaten endet, sondern sich um die Zeit des Mutterschutzes verlängert.

Zum anderen führt der Schutz der Familie dazu, dass auch danach ein Anspruch auf SGB-II-Leistungen besteht, weil für die EU-Bürger*in ein fiktiver Anspruch auf ein humanitäres oder familiäres Aufenthaltsrecht nach dem AufenthG besteht.

Quelle: www.der-paritaetische.de

Hinweis Redakteur:
Volltext mit Leitsätzen veröffentlicht im Tacheles Rechtsprechungsticker KW 04/2023

Verfasser des Rechtsprechungstickers: Redakteur von Tacheles Detlef Brock
Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker