Tacheles Rechtsprechungsticker KW 09/2023

1. Entscheidungen des Bundessozialgerichts zur Sozialhilfe nach dem (SGB XII) und zum Arbeitsförderungsrecht (SGB III)

1.1 – BSG, Urt. v. 15.02.2023 – B 11 AL 42/21 R

Arbeitslosenversicherung – Arbeitslosengeld – Nachzahlung – Verzinsung

Orientierungshilfe Redakteur v. Tacheles e. V.
1. Die Verzinsung der Sozialleistungsansprüche richtet sich nach deren Fälligkeit und diese nach deren Entstehen (§§ 40, 41 SGB I).

2. Die Fälligkeit der hier maßgeblichen Einzelansprüche auf höheres Arbeitslosengeld, die infolge einer nachträglichen Vertragserfüllung erst später ausgezahlt worden sind, tritt erst zum Ende desjenigen Monats ein, in dem die verspätet ausgezahlten Arbeitsentgelte tatsächlich zugeflossen sind.

Quelle: www.bsg.bund.de

1.2 – BSG, Urt. v. 23.02.2023 – B 8 SO 4/22 R

Sozialhilfe – Hilfe zur Pflege – Pflegegrad 0 – Hilfe zur Weiterführung des Haushalts – Pflegedienst – Angemessenheit

Zum Anspruch auf Übernahme der Kosten für hauswirtschaftliche Versorgung durch einen Pflegedienst bei sog Pflegestufe 0.

Urteil: Pflegedienst muss nicht als Haushaltshilfe einspringen

Alte und kranke, aber nicht pflegebedürftige Menschen, die eine Haushaltshilfe benötigen, können vom Sozialhilfeträger auf die Minijobzentrale verwiesen werden.

Dies gilt auch für Betroffene, die vor Einführung des Dritten Pflegestärkungsgesetzes am 1. Mai 2017 die Pflegestufe null aufgewiesen haben und bei denen bis dahin ein Pflegedienst die Haushaltshilfe erbracht hatte, betonten die Kasseler Richter.

weiter auf www.evangelisch.de

2. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung nach dem (SGB II)

2.1 – LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 26. Januar 2023 – L 11 AS 346/22

Keine Rückforderung von ALG 2 (51.000 Euro) nach Ausbildungsabbruch – Erhebliche Ersatzansprüche wegen “Jugendsünde” unverhältnismäßig

Leitsatz Redakteur v. Tacheles e. V.
1. Ein ungelernter Langzeitarbeitsloser, der jahrelang ALG II bezieht, muss trotz Ausbildungsabbruchs sein ALG II nicht zurückzahlen.

2. Der Ausbildungsabbruch stelle ein sozialwidriges Verhalten dar, jedoch sei er nach mehr als 3 ½ Jahren nicht mehr kausal für den Leistungsbezug.

3. Es widerspreche dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und dem Grundsatz des Forderns und Förderns, wenn eine typische „Jugendsünde“ eines damals 20-jährigen zu erheblichen Ersatzansprüchen führe, die jegliche Erwerbsperspektive zerstörten.

Quelle und Volltext hier: landessozialgericht.niedersachsen.de

2.2 – LSG Bayern, Urt. v. 18.01.2023 – L 11 AS 24/22

Leitsätze
Die Bekanntgabefiktion gemäß § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X greift nur bei einem Vermerk des Zeitpunktes, zu dem ein Verwaltungsakt dem Postdienstleistungsunternehmen übergeben wird.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

2.3 – LSG Bayern, Urt. v. 18.01.2023 – L 11 AS 95/21

Leitsätze
1. Es existiert kein gesonderter grundsicherungsrechtlicher Begriff der Förderungsfähigkeit eines Studiums im Sinne des § 7 Abs. 5 SGB II; die Frage, ob die Ausbildung eines Studierenden im Rahmen des Bundesausbildungsförderungsgesetzes förderungsfähig ist, ist auch im Anwendungsbereich des SGB II einheitlich nach 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 BAföG zu bestimmen und setzt den Besuch der Hochschule, d.h. die förmliche Immatrikulation, und kumulativ das Betreiben des Studiums voraus.

2. Die Immatrikulation stellt auch grundsicherungsrechtlich ein widerlegliches Indiz für das tatsächliche Betreiben des Studiums dar.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

2.4 – LSG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 06.10.2021 – L 5 AS 571/20

Leitsätze
1. Eine nach Antragstellung im laufenden Leistungsbezug zugeflossene Zahlung aus einem Zugewinnausgleich ist als einmalige Einnahme auf den Hilfebedarf nach § 11 Abs 3 SGB II anzurechnen. Dabei ist es unerheblich, ob die Scheidung und/oder die Entscheidung über den Zugewinnausgleich durch das Familiengericht vor oder nach Beginn des Leistungsbezuges erfolgt ist.

2. Der Anspruch auf Zugewinn stellt einen schuldrechtlichen Anspruch dar. In der Begleichung einer bereits vor Antragstellung bestehenden Forderung liegt keine bloße Vermögensumschichtung (Anschluss an die stdg Rspr d BSG, zB Urt v 16.05.2012, Az B 4 AS 154/11 R, zur Gehaltsnachzahlung).

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

Hinweis Redakteur:
ebenso LSG Baden-Württemberg, 27.06.2019 – L 7 AS 1391/17

2.5 – LSG Hamburg, Urt. v. 26.01.2023 – L 4 AS 209/22 D

Leitsatz
1. Es handelt sich um den bloßen Austausch der Rechtsgrundlage und nicht um eine Umdeutung, wenn eine Erstattungsforderung zunächst auf § 41a Abs. 6 SGB II und erst im Widerspruchsbescheid auf §§ 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II, 50 Abs. 1, Abs. 3 SGB X gestützt wird. Das gilt auch, wenn die Rechtsgrundlage im Verfügungssatz des Ausgangsbescheides in einem Klammerzusatz genannt wurde (Abgrenzung zu BSG, Urteil vom 7.4.2016 – B 5 R 26/15 R).

2. § 40 Abs. 9 SGB II in der bis 31.12.2016 geltenden Fassung (vom 26. Juli 2016) findet – grundsätzlich unabhängig vom Erlasszeitpunkt des Aufhebungsbescheides – keine Anwendung auf Erstattungsbescheide, die nach dem 1.1.2017 ergangen sind.

Quelle: www.landesrecht-hamburg.de

2.6 – LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 24.11.2022 – L 34 AS 1588/18

Leitsätze
Sofern die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel unmöglich oder unzumutbar ist, sind im Rahmen des Anspruchs auf Leistungen der Schülerbeförderung nach § 28 Abs. 4 SGB II auch die Aufwendungen für Pkw-Fahrten zu berücksichtigen.

Die Aufwendungen, die durch Fahrten mit dem Pkw von der Wohnung eines Elternteils zur Schule und von der Schule zurück entstehen, sind unabhängig von den Eigentumsverhältnissen am Fahrzeug grundsicherungsrechtlich dem Bedarf des Schülers zuzuordnen.

Fahrtkosten bei Nutzung eines Kraftfahrzeugs sind im Rahmen des § 28 Abs. 4 SGB II durch Rückgriff auf Kilometerpauschalen zu bestimmen. In Anlehnung an § 5 Abs. 1 BRKG sind 0,20 € pro Kilometer zugrunde zu legen.

Es sind nicht lediglich die Aufwendungen für solche Fahrten zu berücksichtigen, in denen sich der zu befördernde Schüler in dem von dem Elternteil geführten Pkw befindet. Vielmehr umfasst der Anspruch nach § 28 Abs. 4 SGB II auch solche weiteren Fahrten, die zwingend oder zumindest vernünftigerweise mit der Beförderung zur Schule und / oder von der Schule zurück einhergehen; dies sind namentlich Fahrten, welche der befördernde Elternteil alleine zurücklegen muss, um nach dem Absetzen des Schülers an der Schule wieder nach Hause zu gelangen oder um den Schüler nach Beendigung des Unterrichts dort abzuholen.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

3. Entscheidungen der Sozialgerichte zum Arbeitsförderungsrecht (SGB III)

3.1 – SG Gießen, Urteil vom 28. Juli 2022 – S 20 AL 6/22 Anmerkung zu d. Urt. v. Dominik Stein, Rechtsschutzsekretär, Büro Osnabrück

„Verfügbarkeit“ für Arbeitslosengeldbezug auch bei Besuch freiwilliger Kurse

Der Besuch von Kursen, etwa Vorschaltkursen zu einem Studium, steht dem Bezug von Arbeitslosengeld nicht im Weg. Leistungsbezieher gelten auch dann als „arbeitslos“ und stehen den Vermittlungsbemühungen der Bundesagentur für Arbeit zur Verfügung, wenn die Kursteilnahme freiwillig ist und jederzeit zur Mitwirkung an Maßnahmen unterbrochen werden kann.

Quelle: www.dgbrechtsschutz.de

3.2 – SG Landshut, Urteil vom 24. März 2022 – S 16 AL 123/20 – Anmerkung zu d. Urt. v. Dominik Stein, Rechtsschutzsekretär, Büro Osnabrück

Keine Sperrzeit beim Arbeitslosengeld wegen unvorhersehbarer Corona-Pandemie

Beschäftigte verursachen ihre Arbeitslosigkeit nicht vorsätzlich oder grob fahrlässig, wenn eine Anschlussbeschäftigung wegen einer pandemiebedingten Schließung einer Klinik nicht zustande kommt. Eine deshalb verhängte Sperrzeit ist rechtswidrig.

Quelle: www.dgbrechtsschutz.de

4. Entscheidungen der Sozialgerichte zur Sozialhilfe (SGB XII)

4.1 – SG Augsburg, Urt. v. 09.02.2023 – S 6 SO 126/21

Leitsätze
1. Während eines Krankhausaufenthaltes besteht auch bei einer 24-Stunden-Assistenz kein Anspruch auf Übernahme der Kosten für die nicht im Arbeitgebermodell beschäftigten Assistenzkräfte.

2. Dies gilt sowohl für die Leistungen der Hilfe zur Pflege als auch die Leistungen der Eingliederungshilfe außerhalb des Anwendungsbereichs von § 113 Abs. 6 SGB IX.

3. Die Aufrechnung danach überzahlter Leistungen mit bereits bewilligten Leistungen aus dem persönlichen Budget ist regelmäßig nicht zulässig.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

5. Entscheidungen zum Asylrecht und AsylbLG

5.1 – Sozialgericht Gießen – Gerichtsbescheid vom 23.01.2023 – Az.: S 18 AY 30/21

Normen: § 2 AsylbLG – Schlagworte: Regelbedarfsstufe 1, Leistungen nach § 2 AsylbLG, Sammelunterkunft, Gerichtsbescheid, Sozialgericht Gießen

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6. Verschiedenes zu Hartz IV, zur Sozialhilfe, zum Asylrecht, Wohngeldrecht und anderen Gesetzesbüchern

6.1 – Landessozialgericht besteht auf eindeutige Zweckbindung bei der Bestattungsvorsorge – LSG Baden-Württemberg, Urteil v. 17.11.2022, Az. L 7 SO 619/21

Sozialhilfeträger muss Beiträge einer Sterbegeldversicherung nicht anrechnen

Aeternitas-Hinweis:
Nur wenn der Sozialhilfebedürftige die für die Bestattung vorgesehenen Mittel aus seinem übrigen Vermögen ausgeschieden und mit einer entsprechenden Zweckbindung verbindlich festgelegt hat, stellt der Einsatz dieser Mittel für den Lebensunterhalt für ihn eine unzumutbare Härte i.S.v. § 90 Abs. 3 Satz 1 SGB XII dar (vgl. BGH, Beschluss vom 30.04.2014, Az. XII ZB 632/13; LSG Baden-Württemberg, Urteil v. 22.06.2022, Az. L 2 SO 126/20) und ist eine Förderung durch Übernahme der Beiträge als Bedarf oder deren Absetzung vom Einkommen gerechtfertigt.

weiter: www.aeternitas.de

Hinweis Redakteur:
Volltext mit Leitsätzen im Tacheles Rechtsprechungsticker KW 51/2022

6.2 – Arbeitslos und Reha… – geht das überhaupt? Ein Beitrag von Marianne Schörnig

Wenn bei einem Arbeitnehmer eine ambulante oder stationäre Reha nötig wird, hat er einen Anspruch gegenüber der Deutschen Rentenversicherung, seiner Krankenkasse oder der Unfallversicherung auf Kostenübernahme. Aber wie ist das bei Arbeitslosigkeit geregelt? “Dürfen” Arbeitslose überhaupt in Reha? Wer zahlt? Bekommen sie weiterhin Arbeitslosengeld?

Arbeitslose haben grds. ebenfalls unter den gleichen Voraussetzungen wie Arbeitnehmer Anspruch auf Rehaleistungen: Die Rehamaßnahme muss notwendig sein, sie muss von einem Arzt verordnet und vorab von einem Kostenträger genehmigt sein.

Wer zahlt?

weiter: www.anwalt.de

6.3 – LSG Bayern: Eine Nachzahlung von Wohngeld ist als Einkommen zu bewerten – Beschluss des LSG Bayern vom 23.12.2022 – L 16 AS 339/22

Wie sieht nun die Rechtslage aus, wenn während des Leistungsbezugs nach dem SGB II eine Wohngeldzahlung für Zeiten vor dem SGB II-Leistungsbezug erfolgte?

Diese Frage musste das LSG Bayern für den Rechtsbereich des SGB II klären. Sie lässt sich jedoch auf das Rechtssystem des SGB XII übertragen, da Leistungen nach dem SGB XII ebenfalls zum Schutzbereich des grundgesetzlich garantierten Existenzminimums gehören.

Der Fall

weiter: www.wolterskluwer.com

Hinweis Redakteur:
Entscheidung veröffentlicht im Tacheles Rechtsprechungsticker KW 04/2023

Verfasser des Rechtsprechungstickers: Redakteur von Tacheles Detlef Brock
Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker