Sozialgericht Kassel – Urteil vom 12.01.2023 – Az.: S 11 SO 45/21

URTEIL

In dem Rechtsstreit

xxx,

Kläger,

Prozessbevollm.: Rechtsanwalt Sven Adam
Lange Geismarstraße 55, 37073 Göttingen,

gegen

Werra-Meißner-Kreis, vertreten durch den Kreisausschuss,
Fachdienst Recht 3.1, Schlossplatz 1, 37269 Eschwege,

Beklagte,

hat die 11. Kammer des Sozialgerichts Kassel auf die mündliche Verhandlung vom 12. Januar 2023 durch die Richterin am Sozialgericht xxx als Vorsitzende und die ehrenamtliche Richterin Frau xxx und den ehrenamtlichen Richter Herr xxx für Recht erkannt:

Der Bescheid vom 28.10.2020 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 21.05.2021,
der Bescheid vom 29.01.2021 und vom 04.02.2021 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 25.05.2021
und der Bescheid vom 07.04.2021 im Hinblick auf den Bescheid vom 15.01.2020 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 28.05.2021
werden abgeändert und der Beklagte wird verurteilt, dem Kläger vom 01.03.2020 bis 31.12.2021 Grundsicherungsleistungen nach dem Vierten Kapitel Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch unter Berücksichtigung der tatsächlichen Unterkunftskosten zu gewähren.

Der Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers zu tragen.

TATBESTAND

Der Kläger begehrt in den Zeiträumen vom 1.3.2020 bis 31.10.2020 (hier im Rahmen einer Überprüfungsentscheidung nach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch – SGB X -), vom 1.11.2020 bis 31.1.2021 und vom 1.2.2021 bis 31.1.2022 höhere Grundsicherungsleistungen nach dem Vierten Kapitel Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII – Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung) unter Berücksichtigung von Unterkunftskosten in Höhe der Wohngeldtabelle zuzüglich eines zehnprozentigen Sicherheitszuschlages bzw. unter Berücksichtigung der tatsächlichen Unterkunftskosten. Damit geht es um die Schlüssigkeit des zur Angemessenheit der Unterkunftskosten von dem Beklagten angewandten Konzepts der Firma Analyse und Konzepte, Hamburg, in der Fassung vom 18.5.2018 (und den Nachbesserungen) und um die Anwendung der pandemiebedingt eingeführten Bestimmung des § 141 Abs. 3 SGB XII.

Der am xxx geborene Kläger erhält seit 13.2.2012 eine zunächst befristete Rente wegen Erwerbsminderung aus der gesetzlichen Rentenversicherung, die seit Ende 2019 als Dauerrente gewährt wird. Aufstockend zur Erwerbsminderungsrente und zum zeitweilig aus einer Beschäftigung in einer Werkstatt für behinderte Menschen erzielten Entgelt hat der Kläger vom Beklagten zunächst Hilfe zum Lebensunterhalt und ab 1.2.2020 Grundsicherungsleistungen nach dem Vierten Kapitel SGB XII erhalten.

Vom 1.5.2016 bis 29.2.2020 hat der Kläger eine 62 m2 große 3-Zimmer-Wohnung in der xxx in Witzenhausen bewohnt (Wohnung 1, Anmerkung). Hier hatte der Beklagte stets die tatsächlichen Unterkunftskosten bei der Leistungsberechnung berücksichtigt.

Zum 1.3.2020 bezog der Kläger eine 75 m2 große 3-Zimmerwohnung in der xxx in Witzenhausen (Wohnung 2, Anmerkung). Die monatliche Grundmiete betrug 350 €, die Betriebs- und Heizkostenvorauszahlungen waren mit jeweils 75 € angegeben. Nach Hinweis an den Kläger vor Umzug zur Unangemessenheit der Wohnungskosten berücksichtigte der Beklagte ab März 2020 Unterkunftskosten im Rahmen der Angemessenheitsgrenze nach dem Konzept der Firma Analyse und Konzepte i. H. v. 305,76 € (Grundmiete nebst kalte Nebenkosten für einen Ein-Personen-Haushalt) sowie 65 € für tatsächliche Heizkosten. Dabei richtete sich die Angemessenheitsgrenze für die Monate März und April 2020 nach  dem von der Firma Analyse und Konzepte erstellten Konzept zur Ermittlung der Angemessenheit der Unterkunftskosten im Werra-Meißner-Kreis mit Gültigkeit ab Mai 2018. Von Mai 2020 an erhöhten sich die Werte aufgrund einer Fortschreibung des Konzepts in 2020 auf 316,76 € (Grundmiete und kalte Nebenkosten für einen Ein-Personen-Haushalt).

Ab dem 1.11.2020 bewohnte der Kläger eine 49 m2 große 3-Zimmer-Wohnung im xxx in Witzenhausen (Wohnung 3, Anmerkung). Hier betrug die monatliche Grundmiete 280 €, die Betriebs- und Heizkostenvorauszahlungen je 65 €. Nach dem erneuten Umzug des Klägers berücksichtigte der Beklagte ab 1.11.2020 als Grundmiete und kalte Betriebskosten 316,76 € monatlich, die Heizkosten wurden (wie bisher) in voller Höhe berücksichtigt.

Ab Januar 2022 erfolgte eine weitere Anpassung der Angemessenheitsgrenzen, sodass ab 1.1.2022 die Unterkunftskosten des Klägers im tatsächlichen Umfang berücksichtigt werden.

Mit Bescheid vom 15.1.2020 bewilligte der Beklagte dem Kläger ab 1.2.2020 Grundsicherung nach dem Vierten Kapitel SGB XII für den Leistungszeitraum vom 1.2.2020 bis 31.1.2021. Auf den vom Prozessbevollmächtigten des Klägers am 26.2.2021 gestellten Überprüfungsantrag hinsichtlich der bei der Leistungsberechnung berücksichtigten Unterkunftskosten für den Zeitraum von März 2020 bis Oktober 2020 wurde dieser vom Beklagten mit Bescheid vom 7.4.2021 zurückgewiesen. Dazu führte der Beklagte aus, trotz mündlicher und schriftlicher Belehrung über die Unangemessenheit der Unterkunfts- und Heizungskosten für die Wohnung in der xxx in Witzenhausen (Wohnung 2, Anmerkung) und einer daher nicht erteilten Zustimmung des Sozialhilfeträgers zur Anmietung sei der Kläger zum 1.3.2020 in diese Wohnung eingezogen. Die Bedarfe für Unterkunft und Heizung für die Wohnung xxx in Witzenhausen (Wohnung 2, Anmerkung) seien daher im Zeitraum vom 1. 3.2020 bis 30.4.2020 auf Grundlage der bisherigen Richtlinie des Werra-Meißner-Kreises vom 1.5.2018 zu der Angemessenheit der Unterkunft- und Heizungskosten im Sinne des § 42 i. V. m. § 35 SGB XII i. H. v. 305,76 € berücksichtigt worden. Ab 1.5.2020 bis 31.10.2020 seien nach Anpassung der Unterkunftskosten 316,76 € für Grundmiete und Nebenkosten entsprechend der ab 1.5.2020 gültigen Angemessenheitsbestimmungen berücksichtigt worden. Der Werra-Meißner-Kreis verfüge ab Mai 2018 über ein „schlüssiges Konzept“ im Sinne der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts. Eine Abweichung von den aufgrund des Konzepts festgelegten Angemessenheitswerten sei vorliegend nicht geboten, da hierfür keine hinreichenden Anhaltspunkte vorliegen würden. Die Heizkosten seien im Streitzeitraum in tatsächlicher Höhe von monatlich 65 € berücksichtigt worden.

Hiergegen legte der Prozessbevollmächtigte des Klägers am 9.4.2021 Widerspruch ein und beanstandete die der Berechnung der Unterkunftskosten zu Grunde liegenden Ermittlungen zur Angemessenheit der Unterkunftskosten im Konzept der Firma Analyse und Konzepte.

Mit Widerspruchsbescheid vom 28.5.2021 wies der Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Dazu führte er aus, der Kläger habe keinen Anspruch auf Berücksichtigung höherer Kosten der Unterkunft. Die tatsächlichen Unterkunftskosten würden nach § 35 Abs. 1 S. 1 SGB XII in voller Höhe übernommen, jedoch nur, soweit sie angemessen seien. Der Beklagte setze als Angemessenheitsgrenze für Unterkunftskosten seit Mai 2018 für einen Ein-Personen-Haushalt in Witzenhausen einen Betrag in Höhe von monatlich 305,76 € fest. Diese Angemessenheitsgrenze beruhe auf einem von der Firma Analyse und Konzepte Beratungsgesellschaft für Wohnen, Immobilien, Stadtentwicklung mbH erstelltem Konzept zur Ermittlung der Angemessenheit der Unterkunftskosten im Werra-Meißner-Kreis. Seit Mai 2020 würden die Werte der Fortschreibung 2020 des Konzepts 2018 zur Anwendung kommen mit dem Ansatz von 316,76 € für Grundmiete einschließlich „kalte“ Nebenkosten. An der Schlüssigkeit des zur Anwendung gebrachten Konzepts würden seitens des Beklagten keinerlei Zweifel bestehen, nachdem es sich nunmehr für das Kreisgebiet an vier Vergleichsräumen orientieren würde, die auch den Regionalplanungsmaßstäben entsprechen würden. Für jeden Vergleichsraum sei mittlerweile auch eine ausreichende Datengrundlage vorhanden. Die abstrakt angemessene Bruttokaltmiete für eine 50 m2 große Wohnung betrage im Gebiet des Beklagten im streitbefangenen Zeitraum für den Vergleichsraum 1, wozu auch Witzenhausen gehöre, 305,76 € bzw. 316,76 €. Die tatsächlichen Unterkunftskosten des Klägers i. H. v. 345 € seien demnach unangemessen gewesen. Mit Schreiben vom 14.1.2020 sei der Kläger darüber informiert worden, dass die Kosten der Wohnung ab der geplanten Wohnungsübernahme lediglich im Umfang von 380,26 € (305,76 € für Grundmiete einschließlich kalter Nebenkosten und 74,50 € für Heizkosten) übernommen werden könnten und dass gegen den geplanten Umzug Bedenken bestehen würden und diesem daher nicht zugestimmt werden könne. Hierzu habe es auch bereits im September 2019 ein persönliches Gespräch mit dem Kläger gegeben. Trotz bekannter Überschreitung der Angemessenheitsgrenze habe er die Wohnung angemietet. Auch gehe der Beklagte davon aus, dass es in ausreichendem Maße Wohnungen zu der abstrakt angemessenen Bruttokaltmiete im örtlichen Vergleichsraum gebe, die der Kläger hätte anmieten können.

Hiergegen richtet sich die am 9.6.2021 beim Sozialgericht Kassel eingegangene Klage, die unter dem Aktenzeichen S 11 SO 45/21 geführt wird. Mit der Klage wird für den Zeitraum vom 1.3.2020 bis 31.10.2020 die Berücksichtigung höherer Unterkunftskosten (zumindest nach der Wohngeldtabelle nebst zehnprozentigem Sicherheitszuschlag) unter Hinweis auf die Unschlüssigkeit des vom Beklagten angewandten Konzepts geltend gemacht.

Nach Umzug des Klägers in den xxx in Witzenhausen (Wohnung 3, Anmerkung) berechnete der Beklagte mit Bescheid vom 28.10.2020 die Grundsicherungsleistungen des Klägers ab 1.11.2020 neu. Als angemessene Kosten der Unterkunft berücksichtigte er monatlich 316,76 € sowie Heizkosten i. H. v. 65 €. Dazu führte er aus, die monatlich anfallende Grundmiete und die Betriebskosten in Höhe von insgesamt 345 € seien für einen Ein-Personen-Haushalt nicht angemessen. Die monatliche Differenz i. H. v. 28,24 € sei vom Kläger selbst zu tragen.

Hiergegen wandte sich der Prozessbevollmächtigte des Klägers mit Widerspruch vom 25.11.2020 und verwies zum einen auf die Bestimmung des § 141 Abs. 3 SGB XII und die pandemiebedingten Vergünstigungen, ferner bemängelte er grundsätzlich die Erhebungen zur Bestimmung der Angemessenheit der Unterkunftskosten in dem vom Beklagten angewandten Konzept.

Mit Widerspruchsbescheid vom 21.5.2021 wies der Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Dazu führte er aus, der Kläger habe keinen Anspruch auf Berücksichtigung höherer Kosten der Unterkunft. Er verwies auf die Angemessenheitsgrenzen in dem von ihm angewandten Konzept der Firma Analyse und Konzepte. Hiernach sei entsprechend der Fortschreibung 2020 des Konzepts 2018 seit Mai 2020 für einen Ein-Personen-Haushalt in Witzenhausen ein Betrag in Höhe von monatlich 316,76 € maßgeblich. Von der Schlüssigkeit des zur Anwendung gebrachten Konzepts gehe der Beklagte weiterhin aus. Der Verweis auf § 141 SGB XII ändere nichts an der Einschätzung des Sachverhalts. Die Bestimmung sei für einen vergleichsweise kurzen Zeitraum aus Anlass der Covid-19-Pandemie konzipiert worden. Zwar würden nach § 141 Abs. 3 S. 1 SGB XII die tatsächlichen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung für die Dauer von 6 Monaten als angemessen abweichend von § 35 und § 42a Abs. 1 SGB XII gelten. Dies gelte nach § 141 Abs. 1 SGB XII jedoch nur für Bewilligungszeiträume, die in der Zeit vom 1.3.2020 bis 31.12.2021 beginnen würden. Im vorliegenden Fall erstrecke sich der Bewilligungszeitraum auf Grundlage des Ursprungsbescheides vom 15.1.2020 vom 1.2.2020 bis 31.1.2021. In der Grundsicherung nach dem Vierten Kapitel SGB XII würden die Leistungen in der Regel für einen Bewilligungszeitraum von 12 Monaten bewilligt (§ 44 Abs. 3 S. 1 SGB XII). Aufgrund des Beginns des Leistungszeitraums am 1.2.2020 finde § 141 Abs. 3 S. 1 SGB XII keine Anwendung.

Hiergegen richtet sich die am 29.5.2021 beim Sozialgericht Kassel unter dem Aktenzeichen S 11 SO 42/21 eingegangene Klage.

Mit Bescheid vom 29.1.2021 berechnete der Beklagte die Grundsicherung für den Zeitraum vom 1.2.2021 bis 31.1.2022 unter Berücksichtigung der Unterkunftskosten in Höhe von monatlich 316,76 € (für Grundmiete und kalte Betriebskosten) neu. Da der Kläger bereits seit 31.10.2020 kein zu berücksichtigendes Werkstatteinkommen mehr erzielte, erließ der Beklagte unter dem 4.2.2021 einen entsprechenden Korrekturbescheid unter Berücksichtigung der bisher anerkannten Wohnkosten.

Mit Schreiben seines Prozessbevollmächtigten vom 17.2.2021 legte der Kläger Widerspruch ein, verwies auf die pandemiebedingte Vorschrift des § 141 Abs. 3 SGB XII und verneinte erneut die Schlüssigkeit des vom Beklagten angewandten Konzepts zur Bestimmung der Angemessenheitsgrenzen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 25.5.2021 wies der Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Dazu führte er im Hinblick auf das von ihm angewandte Konzept aus, er gehe weiterhin von dessen Schlüssigkeit aus. Auch § 141 SGB XII ändere nichts an den bisher vom Beklagten berücksichtigten Unterkunftskosten. Keine Geltung beanspruche § 141 Abs. 3 S. 1 SGB XII in laufenden Leistungsfällen, in denen die Kosten der Unterkunft und/oder Heizung bereits während des vorangegangenen Bewilligungszeitraums auf das angemessene Maß abgesenkt worden seien. Dies sei nach der Gesetzesbegründung auch konsequent, weil die Sorgen um den Erhalt der Wohnung in diesem Fall nicht pandemiebedingt seien. Im vorliegenden Fall erstrecke sich der Bewilligungszeitraum auf Grundlage des Ursprungsbescheides vom 29.1.2021 vom 1.2.2021 bis 31.1.2022. In der Grundsicherung nach dem Vierten Kapitel SGB XII würden die Leistungen in der Regel für einen Bewilligungszeitraum von 12 Monaten nach § 44 Abs. 3 S. 1 SGB XII bewilligt. Im vorhergehenden Bewilligungszeitraum vom 1.2.2020 bis 31.1.2021 (Bescheid vom 15.1.2020) seien die Kosten der Unterkunft bereits seit März 2020 auf das angemessene Maß abgesenkt worden.

Hiergegen richtet sich die am 29.5.2021 unter dem Aktenzeichen S 11 SO 43/21 beim Sozialgericht Kassel eingegangene Klage ebenso mit dem Ziel der Berücksichtigung höherer Unterkunftskosten.

Mit Beschluss vom 10.10.2022 hat das Gericht die Verfahren des Klägers S 11 SO 42/21, S 11 SO 43/21 und S 11 SO 45/21 unter dem Aktenzeichen S 11 SO 45/21 zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden.

Der Prozessbevollmächtigte des Klägers erachtet die Schlüssigkeit des vom Beklagten zur Bestimmung der Angemessenheitsgrenzen der Unterkunftskosten angewandten Konzepts weiterhin nicht als gegeben an. Soweit das Hessische Landessozialgericht in dem Berufungsverfahren L 11 SO 129/20 mit Urteil vom 23.11.2022 die Schlüssigkeit des vom Beklagten angewandten Konzepts in der Fassung ab Mai 2018 bestätigt habe, verweise er darauf, dass er Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt habe. Unabhängig von der Schlüssigkeit des vom Beklagten zur Bestimmung der angemessenen Wohnkosten angewandten Konzepts hätte der Beklagte im streitigen Zeitraum aller drei Verfahren, nämlich vom 1.3.2020 bis 31.1.2022 unter Berücksichtigung der pandemiebedingt eingeführten Bestimmung des § 141 Abs. 3 SGB XII bei der Berechnung der Grundsicherung des Klägers dessen tatsächliche Unterkunftskosten berücksichtigen müssen. Die gesetzliche Bestimmung sehe für Zeiträume ab 1.3.2020 die Berücksichtigung der tatsächlichen Mietkosten vor. Dies gelte für den Kläger für die Zeit ab 1.3.2020, seitdem er die Wohnung in der xxx in Witzenhausen (Wohnung 2, Anmerkung) bewohne. Aus der Wohnung in der xxx (Wohnung 1, Anmerkung), für die vom Beklagten die tatsächlichen Mietkosten berücksichtigt worden seien, habe er aus gesundheitlichen Gründen ausziehen müssen. Hierzu sei auf eine fachärztliche Bescheinigung des Klinikums Werra-Meißner auf Bl. 664 der Beklagtenakte zu verweisen. Unter Anwendung der Übergangsregelung des § 141 Abs. 3 SGB XII habe der Beklagte im gesamten streitigen Zeitraum bei der Berechnung der Grundsicherungsleistungen die tatsächlichen Mietkosten des Klägers zu berücksichtigen. Ab 1.1.2022 berücksichtige der Beklagte ohnehin die tatsächlichen Mietkosten, sodass sich insoweit das Klageverfahren erledigt habe.

Der Kläger beantragt,
den Bescheid vom 28.10.2020 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 21.5.2021,
den Bescheid vom 29.1.2021 und vom 4.2.2021 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 25.5.2021
und den Bescheid vom 7.4.2021 im Hinblick auf den Bescheid vom 15.1.2020 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 28.5.2021
abzuändern und den Beklagten zu verurteilen, ihm vom 1.3.2020 bis 31.12.2021 Grundsicherungsleistungen nach dem Vierten Kapitel Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch unter Berücksichtigung der tatsächlichen Unterkunftskosten zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,
die Klagen abzuweisen.

Dazu führt der Beklagte aus, die Berücksichtigung höherer Unterkunftskosten während des Streitzeitraums auf Grundlage des angewandten Konzepts zur Bestimmung der Angemessenheitsgrenze komme nicht in Betracht. Im Hinblick auf die Schlüssigkeit des angewandten Konzepts verweise der Beklagte auf das im Verfahren L 4 SO 129/20 ergangene Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 23.11.2022. Mit dieser Entscheidung habe das Hessische Landessozialgericht das vom Werra-Meißner-Kreis angewandte Konzept in der Fassung vom 18.5.2018 als schlüssig bewertet. Daran ändere auch nichts die vom Prozessbevollmächtigten des Klägers im genannten Berufungsverfahren eingelegte Nichtzulassungsbeschwerde. Die in der mündlichen Verhandlung vom 12.1.2023 vertretene Auffassung der erkennenden Kammer zur Berücksichtigung der tatsächlichen Unterkunftskosten des Klägers im gesamten Streitzeitraum auf Grundlage von § 141 Abs. 3 SGB XII werde nicht geteilt. Aus Sicht des Beklagten sei zu berücksichtigen, dass der Kläger sowohl in die Wohnung in der xxx in Witzenhausen (Wohnung 2, Anmerkung) als auch in die Wohnung im xxx in Witzenhausen (Wohnung 3, Anmerkung) eingezogen sei, obwohl der Beklagte den Kläger auf die Unangemessenheit der Mietkosten vor Umzug hingewiesen und der Kläger dennoch die Wohnung angemietet habe. Zum einen würden aus Sicht des Beklagten die tatbestandlichen Voraussetzungen der in § 141 SGB XII getroffenen Übergangsregelung schon ab 1.3.2020 nicht vorliegen, jedenfalls aber nach Ablauf des 6-Monats-Zeitraums auch die generellen Angemessenheitskriterien wieder gelten und im Übrigen sehe der Beklagte den gesetzgeberischen Sinn und Zweck der Übergangsregelung im Falle des Klägers nicht als erfüllt an. Trotz der Hinweise des Beklagten auf die unangemessen hohen Mietkosten habe der Kläger sowohl die Wohnung in der xxx (Wohnung 2, Anmerkung) als auch später im xxx (Wohnung 3, Anmerkung) jeweils in Witzenhausen angemietet. Gerade deswegen könne die in § 141 Abs. 3 SGB XII geregelte Fiktion der Angemessenheit der tatsächlichen Aufwendungen bei den Mietkosten dem Kläger nicht zu Gute kommen. Aufgrund der Anpassung der Angemessenheitsgrenzen im angewandten Konzept berücksichtige der Beklagte ab 1.1.2022 die tatsächlichen Mietkosten des Klägers. Insoweit habe sich seine Klage erledigt.

Wegen der weiteren Einzelheiten, auch im Vorbringen der Beteiligten, wird auf die Gerichtsakten S 11 SO 42/21, S 11 SO 43/21 und S 11 SO 45/21 sowie die zum Verfahren beigezogenen Verwaltungsakten des Beklagten Bezug genommen, soweit deren Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung war.

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE

Die form- und fristgerecht beim zuständigen Sozialgericht Kassel erhobenen und mit gerichtlichem Beschluss vom 10.10.2022 zur gemeinsamen Entscheidung verbundenen Klagen sind zulässig und auch begründet. Auf Grundlage der einschlägigen Bestimmung des § 141 Abs. 3 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) hat der Kläger im Streitzeitraum vom 1.3.2020 bis 31.12.2021 Anspruch auf höhere Grundsicherungsleistungen nach dem Vierten Kapitel SGB XII unter Berücksichtigung der tatsächlichen Unterkunftskosten. Die mit den Klagen angefochtenen Bescheide des Beklagten vom 28.10.2020 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 21.5.2021, vom 29.1.2021 und 4.2.2021 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 25.5.2021 und vom 7.4.2021 im Hinblick auf den Bescheid vom 15.1.2020 und in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 28.5.2021 halten einer gerichtlichen Überprüfung nicht stand, verletzen den Kläger in seinen Rechten und waren daher abzuändern.

Ungeachtet der Frage der Schlüssigkeit des vom Beklagten zur Beurteilung der Angemessenheit der Unterkunftskosten in seinem Zuständigkeitsbereich angewandten Konzepts hat der Kläger auf Grundlage von § 141 Abs. 3 SGB XII vom 1.3.2020 bis 31.12.2021 Anspruch auf Berücksichtigung seiner tatsächlichen Mietkosten für die Wohnung in der xxx (Wohnung 2, Anmerkung) und im xxx (Wohnung 3, Anmerkung) in Witzenhausen. Denn die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 141 SGB XII der als Übergangsregelung aus Anlass der Covid-19-Pandemie geschaffenen Bestimmung in der Fassung vom 22.11.2021 sind im Streitzeitraum zu Gunsten des Klägers nach Auffassung der erkennenden Kammer zu bejahen. Dies gilt im Rahmen des § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) i. V. m. § 116 a SGB XII auch im Hinblick auf den bestandskräftig gewordenen Bewilligungsbescheid vom 15.1.2020, für den vom Prozessbevollmächtigten des Klägers im Februar 2021 hinsichtlich der berücksichtigungsfähigen Unterkunftskosten für die ab 1.3.2020 bewohnte Wohnung in der xxx (Wohnung 2, Anmerkung) in Witzenhausen ein Überprüfungsantrag gestellt wurde.

Insoweit bestimmt § 44 Abs. 1 SGB X, dass auch ein unanfechtbar gewordener Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen ist, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass des Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden ist.

Sowohl für die Zeit ab 1.3.2020 als auch für die Zeit ab 1.11.2020 hat der Beklagte die vom Gesetzgeber pandemiebedingt vorgegebene Fiktion der Angemessenheit der tatsächlichen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung im Rahmen der Bestimmung des § 141 SGB XII nicht beachtet.

Nach § 141 Abs. 1 SGB XII (in der Fassung vom 22.11.2021) werden Leistungen unter anderem auch nach dem Vierten Kapitel SGB XII für Bewilligungszeiträume, die in der Zeit vom 1.3.2020 bis zum 31.3.2022 beginnen, nach Maßgabe der Absätze 2-4 der Bestimmung erbracht. Anders als der Beklagte meint, ist die Übergangsregelung des § 141 SGB XII auf den am 1.3.2020 beginnenden Streitzeitraum anwendbar. Denn der Beklagte hat ab 1.3.2020 über die Grundsicherungsleistungen des Klägers unter Beachtung der ab 1.3.2020 vom Kläger zu zahlenden Miete für die ab 1.3.2020 angemietete Wohnung in der xxx in Witzenhausen (Wohnung 2, Anmerkung) zu entscheiden gehabt. Dass der ursprüngliche Bewilligungszeitraum vor dem 1.3.2020 begonnen hat, ist insoweit ebenso unschädlich wie der Umstand, dass erst durch den im Februar 2021 gestellten Überprüfungsantrag des Prozessbevollmächtigten des Klägers die Überprüfung der Leistungshöhe ab dem Einzug in die Wohnung in die xxx in Witzenhausen (Wohnung 2, Anmerkung) ab 1.3.2020 (wieder) eröffnet wurde. Insoweit kommt dem Kläger das zufällige zeitliche Zusammentreffen des Neubezugs einer Wohnung in der xxx (Wohnung 2, Anmerkung) ab 1.3.2020 und der Beginn der Gültigkeit der pandemiebedingt getroffenen Übergangsregelung ab 1.3.2020 zu Gute. Anders als der Beklagte meint, widerspricht dies auch nicht Sinn und Zweck des vom Gesetzgeber mit der pandemiebedingten Übergangsregelung verfolgten Zieles. Gerade zur Abmilderung der Pandemieauswirkungen sollten sowohl Leistungsbezieher in den staatlichen Sicherungssystemen als auch die Leistungsträger von der Sorge um die und von der Überprüfung der Angemessenheit der Wohnkosten entlastet werden. Dass diese Entlastung ab einem bestimmten Stichtag Gültigkeit erlangt, ist aus der gesetzgeberischen Entscheidungsfreiheit entstanden und führt vorliegend nicht dazu, den Kläger von der übergangsweise geltenden Fiktion der Angemessenheit der tatsächlichen Aufwendungen für die Unterkunft auszunehmen. Zutreffend ist, dass die vom Kläger ab 1.3.2020 zu leistende Wohnungsmiete für die Wohnung in der xxx (Wohnung 2, Anmerkung) außerhalb der Angemessenheitsgrenzen des vom Beklagten angewandten Konzepts gelegen hat und der Beklagte den Kläger bereits vor dem Umzug in die Wohnung xxx (Wohnung 2, Anmerkung) darauf hingewiesen hatte. Zur Abmilderung der Folgen der Pandemie hat der Gesetzgeber indes mit der Regelung des § 141 SGB XII die Frage der Angemessenheit der Wohnungsmiete ausgesetzt. Dies gilt auch ungeachtet der vor Beginn der Übergangsregelung ab 1.3.2020 bereits erfolgten Angemessenheitsüberprüfungen durch den Leistungsträger.

Folglich ist für die in den vorliegenden Klageverfahren streitige Zeit ab 1.3.2020 auf Grundlage der Regelung des § 141 Abs. 3 SGB XII und abweichend von § 35 und § 42 a Abs. 1 SGB XII die tatsächliche Höhe maßgebend. Einschränkend bestimmt § 141 Abs. 3 S. 3 SGB XII lediglich, dass S. 1, nämlich die Fiktion der Angemessenheit bei der tatsächlichen Miete, nicht in den Fällen gilt, in denen im vorangegangenen Bewilligungszeitraum die angemessenen und nicht die tatsächlichen Aufwendungen als Bedarf anerkannt gewesen sind. Vor dem Umzug in die xxx (Wohnung 2, Anmerkung) ab 1.3.2020 hat der Kläger indes eine Wohnung in der xxx in Witzenhausen (Wohnung 1, Anmerkung) bewohnt und hierfür hat der Beklagte die tatsächlichen Unterkunftskosten bei der Leistungsberechnung berücksichtigt. Dem Kläger kommt also zugute, dass er erst mit Beginn der Gültigkeit der Übergangsbestimmung des § 141 SGB XII in eine aus Sicht des Beklagten unangemessen teure Wohnung umgezogen ist.

Nach § 141 Abs. 3 S. 1 SGB III gelten die tatsächlichen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung allerdings nur für die Dauer von 6 Monaten als angemessen. Nach dem Wortlaut der Bestimmung würde die Angemessenheitsfiktion im Falle des Klägers zunächst nur bis August 2020 gelten. Unter Beachtung von § 141 Abs. 3 S. 2 SGB XII wirkt sich nach Auffassung des Gerichts zu Gunsten des Klägers indes die Angemessenheitsfiktion vom 1.3.2020 bis 31.12.2021 aus. Denn § 141 Abs. 3 S. 2 SGB XII sieht vor, dass nach Ablauf des Zeitraums nach S. 1 (also die Dauer von 6 Monaten für die Angemessenheitsfiktion) § 35 Abs. 2 S. 2 mit der Maßgabe anzuwenden ist, dass der Zeitraum nach S. 1 nicht auf die in § 35 Abs. 2 S. 2 genannte Frist anzurechnen ist. Nach § 35 Abs. 2 S. 1 SGB XII gilt, dass die die Angemessenheit der Aufwendungen für die Unterkunft übersteigenden Aufwendungen zwar als Bedarf des Leistungsberechtigten anzuerkennen sind, nach S. 2 der Bestimmung allerdings längstens für 6 Monate. Nach Auffassung des Gerichts ist § 141 Abs. 3 S. 2 SGB XII i. V .m. § 35 Abs. 2 S. 2 SGB XII so auszulegen, dass die nach § 141 Abs. 3 S. 1 SGB XII geltende 6-monatige Angemessenheitsfiktion für die Unterkunftskosten die im Rahmen des § 35 Abs. 2 S. 2 SGB XII grundsätzlich nach 6 Monaten unangemessener Miethöhe einsetzende Kostensenkungsverpflichtung des Leistungsempfängers nach einer Kostensenkungsaufforderung durch den Leistungsträger so lange ausgesetzt, wie die pandemiebedingte Übergangsregelung gilt, nämlich bis zum 31.3.2022.

Nach Auffassung der erkennenden Kammer wird der Kläger daher durch die Regelung des § 141 SGB XII im gesamten Streitzeitraum zunächst auf Grundlage der Angemessenheitsfiktion und wegen des Aussetzens der Kostensenkungsverpflichtung und der Kostensenkungsaufforderung im Hinblick auf die vom Beklagten zu berücksichtigenden Unterkunftskosten geschützt. Dementsprechend waren die angefochtenen Entscheidungen des Beklagten abzuändern und der Beklagte im Zeitraum vom 1.3.2020 bis 31.12.2021 zur Berücksichtigung der tatsächlichen Mietkosten bei den Grundsicherungsleistungen an den Kläger zu verurteilen. Ab 1.1.2022 werden ohnehin die tatsächlichen Unterkunftskosten vom Beklagten berücksichtigt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Es folgt die Rechtsmittelbelehrung.