Sozialgericht Kassel – Gerichtsbescheid vom 28.02.2023 – Az.: 10 AS 365/21

GERICHTSBESCHEID

In dem Rechtsstreit

xxx,

Klägerin,

Prozessbevollm.:
Rechtsanwalt Sven Adam
Lange Geismarstraße 55, 37073 Göttingen,

gegen

Jobcenter Stadt Kassel,
vertreten durch die Geschäftsführerin Katja Kairies,
Lewinskistraße 4, 34127 Kassel,

Beklagter,

hat die 10. Kammer des Sozialgerichts Kassel ohne mündliche Verhandlung am 28. Februar 2023 durch die Vorsitzende, Richterin am Sozialgericht xxx, für Recht erkannt:

Der Beklagte wird verpflichtet, über den Widerspruch der Klägerin vom 22.12.2020 gegen den Bescheid vom 10.12.2020 zu entscheiden.

Der Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu tragen.

TATBESTAND

Die Beteiligten streiten im Rahmen einer Untätigkeitsklage darüber, ob der Beklagte im Hinblick auf das klägerische Schreiben vom 22.12.2020 untätig ist.

Die am xx.xx.2000 geborene Klägerin steht bei dem Beklagten im Bezug von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II).

Am 28.10.2020 stellte die Klägerin einen Antrag auf Weiterbewilligung. Hierzu teilte sie unter anderem mit, dass ihr Minijob bei der xxx seit dem 31.8.2020 beendet sei. Mit E-Mail vom 2.11.2020 schickte der Beklagte den Weiterbewilligungsantrag zur Vervollständigung (insbesondere unter Punkt 5) an die Klägerin zurück. Mit Schreiben vom 26.11.2020 wurde die Klägerin an die Erledigung der Vervollständigung des Antrags erinnert. Am 9.12.2020 übersandte die Klägerin erneut den Weiterbewilligungsantrag. Unter Punkt 5 nahm sie unter anderem auf, dass sie ab dem 1.10.2020 eine Ausbildung aufgenommen habe. Der Ausbildungsvertrag läge vor.
Mit Bescheid vom 10.12.2020 lehnte der Beklagte den Antrag auf Leistungen nach dem SGB II ab. Aufgrund der Höhe des anzurechnenden Einkommens sei die Klägerin nicht hilfebedürftig. Die Beklagte berücksichtigte dabei ein Bruttoeinkommen von 858,00 €.
Mit Schreiben vom 22.12.2020, welches mit „Überprüfungsantrag BG-Nr. BG-Nr.: 43502 0028787“ überschrieben war, teilte die Klägerin mit, dass ihr fälschlicherweise ein zu hohes Einkommen angerechnet worden sei. Aus dem Ausbildungsvertrag ergebe sich ein geringeres Einkommen. Dies ließe sich auch den übersandten Kontoauszügen entnehmen. Die Klägerin bat darum, ihr Anliegen schnellstens zu prüfen, da ihre aktuelle finanzielle Situation sehr belastend für sie sei. Das Schreiben ist in der Verwaltungsakte des Beklagten als „Ein-/Widerspruch“ bezeichnet.
Mit Schreiben vom 4.1.2021 forderte der Beklagte die Klägerin zur Mitwirkung auf. Hierzu teilte er mit, dass die Klägerin einen Widerspruch gegen den Ablehnungsbescheid vom 10.12.2020 gestellt hätte. Zur abschließenden Prüfung seien im einzelnen aufgelistete Unterlagen erforderlich.

Die Klägerin übersandte in der Folge einige Unterlagen, so beispielsweise eine Kündigungsbestätigung des ehemaligen Arbeitgebers.
Mit Schreiben vom 26.1.2021 forderte der Beklagte die Klägerin zur Mitwirkung auf. In diesem Schreiben teilt er ihr mit, dass sie am 22.12.2020 einen Antrag auf Überprüfung gestellt hätte. Es sei zu prüfen, ob und inwieweit die Klägerin einen Anspruch auf Leistungen habe bzw. bestanden habe und daher noch weitere Unterlagen vorzulegen.
Mit Bescheid vom 15.2.2021, welcher mit „Antrag vom 28.12.2020 auf Überprüfung des Bescheides 10.12.2020 gemäß § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X)“ überschrieben ist, lehnte der Beklagter wortwörtlich den Antrag vom 28.12.2020 auf Überprüfung des Bescheides 10.12.2020 ab. Als Begründung führte er aus, die Klägerin habe mit Schreiben vom 28.12.2020 die Überprüfung des Bescheides 10.12.2020 beantragt. Der Überprüfungsantrag sei abzulehnen, da der Bescheid vom 10.12.2020 nicht zu beanstanden sei. Es sei bei dessen Erlass das Recht richtig angewandt sowie vom zutreffenden Sachverhalt ausgegangen worden. Der Gesetzestext von § 44 Abs. 1 S. 1 SGB X wurde ebenfalls zitiert.
Mit anwaltlichem Schreiben vom 15.6.2021 zeigte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin an, dass er die rechtlichen Interessen der Klägerin wahrnimmt. Er teilte mit, dass er dem Widerspruch gegen den Bescheid vom 10.12.2020 beitrete. Es handelt sich bei dem Schreiben der Klägerin vom 10.12.2020 um einen Widerspruch, wie der Beklagte zutreffend am 4.1.2021 festgestellt habe. Das Arbeitsverhältnis habe seit August nicht mehr bestanden.

Mit Schreiben vom 25.6.2021, welches mit „Überprüfungsverfahren/Widerspruchsverfahren der Frau Alisha Bilsing, Ihr Schreiben vom 15.6.2021“ überschrieben war, teilte der Beklagte dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin mit, dass ein Widerspruch der Klägerin vom 10.12.2020 nicht vorliege. In dem Schreiben vom 22.12.2020 sei kein Widerspruch zu sehen. Mit Schreiben vom 22.12.2020 habe die Klägerin die Überprüfung des Ablehnungsbescheides beantragt. Das Schreiben sei ausdrücklich mit „Überprüfungsantrag“ überschrieben worden. Ein Überprüfungsverfahren nach § 44 SGB X sei grundsätzlich für jede Verwaltungsentscheidung möglich, d.h. auch wenn ein Verwaltungsakt noch nicht unanfechtbar geworden ist. Da ein Überprüfungsverfahren somit grundsätzlich nicht während des Rechtsbehelfs- bzw. Widerspruchsfrist ausgeschlossen sei, sei das Begehren des Antragstellers durch Auslegung zu ermitteln. Vorliegend habe dem Begehren der Klägerin auf Überprüfung der Leistungsberechnung auch im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens vollumfänglich nachgegangen werden können. Es sei nicht ersichtlich, weshalb der Überprüfungsantrag als Widerspruch hätte ausgelegt werden müssen. Ein Vorteil für die Klägerin hätte sich dadurch nicht ergeben. Gegen den Überprüfungsbescheid vom 15.2.2021, welcher wiederum rechtsbehelfsfähig sei, sei ein Widerspruch nicht erhoben worden. Das Überprüfungsverfahren sei daher abgeschlossen. Da mit Schreiben vom 15.6.2021 ein Widerspruch nach Auffassung des Beklagten nicht erhoben werden sollte, sei auch ein Widerspruchsverfahren derzeit nicht anhängig.
Mit anwaltlichem Schreiben vom 28.6.2021 teilte die Klägerin mit, dass ihr Schreiben vom 22.12.2020 gemeint gewesen sei und dieses als Widerspruch gegen den Bescheid vom 10.12.2020 zu sehen sei. Ein Widerspruch habe gegenüber einem Überprüfungsverfahren Vorteile. Es werde nun um Bescheidung des Widerspruchs gebeten.

Die Klägerin hat am 24.9.2021 durch ihren Prozessbevollmächtigten Untätigkeitsklage zum Sozialgericht Kassel erhoben und begehrt die Bescheidung ihres Widerspruchs gegen den Bescheid vom 10.12.2020.
Sie ist der Auffassung, dass es sich bei ihrem Schreiben vom 22.12.2020 um einen Widerspruch handele, welcher bisher nicht beschieden sei. Die Frist des § 88 Abs. 2 SGG sei abgelaufen. Bei dem Bescheid vom 15.2.2021 handele es sich unzweifelhaft nicht um einen Widerspruchsbescheid. Er enthalte weder eine Abhilfe noch sei er durch die Widerspruchsstelle des Beklagten ergangen.

Die Klägerin beantragt,
den Beklagten zu verpflichten, über den Widerspruch der Klägerin vom 22.12.2020 gegen den Bescheid vom 10.12.2020 zu entscheiden.

Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Nach Ansicht des Beklagten liegt keine Untätigkeit vor. Selbst wenn das Schreiben der Klägerin vom 22.12.2020 als Widerspruch auszulegen gewesen wäre, hätte sich der Beklagte diesem bereits abschließend angenommen. Auch der Bescheid vom 15.2.2021 sei auszulegen und zwar als Entscheidung über den „Widerspruch“.

Das Gericht hat die Beteiligten mit Schreiben vom 3.12.2021 zu einer beabsichtigten Entscheidung durch Gerichtsbescheid angehört. Die Klägerin hat sich mit Schreiben vom 9.12.2021 und nach gerichtlichem Hinweis in der Sache nochmals mit Schreiben vom 1.2.2023 und der Beklagten mit Schreiben vom 23.1.2023 mit einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid einverstanden erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten und Unterlagen und wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen, die Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE

Das Gericht konnte nach § 105 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden, da der Sachverhalt geklärt ist und keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist. Zudem sind die Beteiligten mit angemessener Frist zu einer beabsichtigten Entscheidung durch Gerichtsbescheid angehört worden.

Die auf Bescheidung des Widerspruchs vom 22.12.2020 gerichtete Untätigkeitsklage im Sinne des § 88 SGG ist erfolgreich. Sie ist zulässig und begründet.

Gemäß § 88 Abs.1 S. 1 SGG ist eine Untätigkeitsklage dann, wenn ein Antrag auf Vornahme eines Verwaltungsakts ohne zureichenden Grund in angemessener Frist sachlich nicht beschieden worden ist, nicht vor Ablauf von sechs Monaten seit dem Antrag auf Vornahme des Verwaltungsakts zulässig. Nach Abs. 2 gilt das gleiche, wenn über einen Widerspruch nicht entschieden worden ist, mit der Maßgabe, dass als angemessene Frist eine solche von drei Monaten gilt.

Bei dem Schreiben der Klägerin vom 22.12.2020 handelt sich zur Überzeugung des Gerichts um einen Widerspruch gegen den Bescheid vom 10.12.2020. Die Überprüfung des Bescheides nach § 44 SGB X hat die Klägerin nicht gewollt. Obgleich ihr Schreiben mit „Überprüfungsantrag“ überschrieben war, ist ihm eindeutig zu entnehmen, dass die Klägerin Widerspruch gegen den Bescheid innerhalb der einmonatigen Widerspruchsfrist, die noch nicht abgelaufen war, erhoben hat.

Dem Inhalt ihres Schreibens vom 22.12.2020 ist zu entnehmen, dass sie der Auffassung ist, dass das Einkommen falsch berechnet wurde. Sie bat ausdrücklich um Prüfung ihres Anliegens. Insofern erklärt sich auch ihre Überschrift mit „Überprüfungsantrag“. Eine zu diesem Zeitpunkt nicht anwaltlich vertretene Antragstellerin konnte nicht absehen, dass es sich bei diesem Begriff um einen rechtlichen Begriff handelt.

Es trifft zu, dass der Anwendungsbereich des § 44 SGB X nach seinem Wortlaut nicht auf unanfechtbare Verwaltungsakte beschränkt ist (vgl. beispielsweise BSG, Urteil vom 26.10.2017 – B 2 U 6/16 R). Jedoch bedarf es des Verfahrens nach § 44 SGB X im Regelfall nicht, wenn Unanfechtbarkeit noch nicht eingetreten ist (vgl. BSG, Urteile vom 16.12.2014 – B 9 V 6/13 R und vom 27.7.2004 – B 7 AL 76/03 R). So verhält es sich auch im Fall der Klägerin. Eines Überprüfungsverfahrens bedurfte es hier nicht. Insofern war ihr Schreiben auch nicht von den Beklagten als Überprüfungsantrag auszulegen. Vielmehr ging der Beklagte zunächst selbst zutreffend davon aus, dass die Klägerin einen Widerspruch erhoben hat. Dies wurde ihr auch ausdrücklich mit Schreiben vom 4.1.2021 vom Beklagten mitgeteilt. Aus welchem Grund ihr Schreiben vom 22.12.2020 nur wenige Tage später, nämlich mit Schreiben vom 26.1.2021 anders ausgelegt wurde, erschließt sich nicht.

Über diesen Widerspruch hat der Beklagte bis heute, mithin nicht innerhalb der dreimonatigen Frist gemäß § 88 Abs. 2 SGG, ohne zureichenden Grund nicht entschieden. Entgegen der Auffassung des Beklagten kann sein Bescheid vom 15.2.2021 nicht als Widerspruchsbescheid ausgelegt werden.

Die Auslegung eines Verwaltungsakts hat ausgehend von seinem Verfügungssatz und der Heranziehung des in § 133 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) ausdrücklichen allgemeinen Rechtsgedankens zu erfolgen, dass es nicht auf den Buchstaben, sondern auf den wirklichen Willen der Behörde ankommt, soweit er im Bescheid greifbar seinen Niederschlag gefunden hat. Für die Ermittlung des erklärten Willens sind dabei auch die Umstände und Gesichtspunkte heranzuziehen, die zur Aufhellung des Inhalts der Verfügung beitragen können und die dem Beteiligten bekannt sind, wenn der Verwaltungsakt sich erkennbar auf sie bezieht. Maßstab der Auslegung ist insofern der verständige und zusammenhängende berücksichtigende Beteiligte (vgl. BSG, Urteil vom 28.6.2018 – B 5 RE 2/17 R).

Dass es sich bei dem Bescheid des Beklagten vom 15.2.2021 um einen Überprüfungsbescheid handelt, ergibt sich aus der doppelten Verwendung der Begriffe „Überprüfung des Bescheides 10.12.2020“. Darüber hinaus ist mehrfach der § 44 SGB X genannt bzw. zitiert worden. Zudem hat der Beklagte auf das anwaltliche Schreiben vom 15.6.2021 ausdrücklich mit Schreiben vom 25.6.2021 mitgeteilt, dass er davon ausgeht, dass das klägerische Schreiben vom 22.12.2020 kein Widerspruch sei. Wenn der Beklagte davon ausgeht, dass kein Widerspruch vorliegt, kann er auch kein Widerspruchsbescheid erlassen. Zudem hat der Beklagte im genannten Schreiben ausdrücklich mitgeteilt, dass aus seiner Sicht das Überprüfungsverfahren vom 22.12.2020 abgeschlossen ist. Eine weitere Entscheidung in diesem Zusammenhang erfolgte nicht. Der Beklagte hat zur Überzeugung des Gerichts weder einen Widerspruchsbescheid im Hinblick auf das als Widerspruch auszulegende klägerische Schreiben vom 22.12.2020 erlassen, noch im Hinblick auf das anwaltliche Schreiben vom 15.6.2021. Auch auf die ausdrückliche Aufforderung mit anwaltlichem Schreiben vom 28.6.2021, nun den Widerspruch zu bescheiden, erfolgte keine Reaktion des Beklagten.

Ein zureichender Grund dafür, dass der Widerspruch noch nicht beschieden ist, ist weder ersichtlich, noch vom Beklagten vorgetragen worden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 133 SGG.

Es folgt die Rechtsmittelbelehrung.