Tacheles Rechtsprechungsticker KW 10/2023

1. Entscheidungen des Bundessozialgerichts zur Sozialhilfe (SGB XII) und zum Arbeitsförderungsrecht (SGB III)

1.1 – BSG, Urt. v. 29.11.2022 – B 11 AL 33/21 R

Arbeitslosengeldanspruch – Sperrzeit bei Abbruch einer beruflichen Eingliederungsmaßnahme – Anknüpfung an Sperrzeit bei Ablehnung – Anforderung an eine ordnungsgemäße Rechtsfolgenbelehrung – Warnfunktion – Unwirksamkeit bei fehlender Angabe zum Sperrzeitbeginn

Leitsatz Redakteur v. Tacheles e. V.
Eine Rechtsfolgenbelehrung ist unvollständig und damit unwirksam, wenn sie keinen Hinweis auf den Beginn einer drohenden Sperrzeit enthält (ebenso LSG Niedersachsen-Bremen vom 8.5.2018 – L 11 AL 67/16 – info also 2018, 209 sowie diesem zustimmend Coseriu in Eicher/Schlegel, SGB III, § 159 RdNr 461, Stand Mai 2019; Lüdtke/Schaumberg in Böttiger/Körtek/Schaumberg, SGB III, 3. Aufl 2019, § 159 RdNr 25; LSG Niedersachsen-Bremen vom 23.6.2021 – L 11 AL 95/19 – info also 2022, 28).

Quelle: www.rechtsprechung-im-internet.de

1.2 – BSG, Urt. v. 23.02.2023 – B 8 SO 9/21 R

Sozialhilfe – Hilfe zur Pflege – Schenkungsrückforderung – Hausgrundstück – Wohnungsrecht – Löschung – Ermessen

Ist Voraussetzung für eine Überleitungsanzeige nach § 93 SGB 12 die monatliche Bezifferung der Sozialhilfe?

Zu den Voraussetzungen der Überleitung eines Schenkungsrückforderungsanspruchs bezüglich eines Wohnrechts

Orientierungshilfe Redakteur v. Tacheles e. V.
1. Die angegriffenen Überleitungsanzeigen wurden vom BSG aufgehoben, weil der Sozialhilfeträger bei ihrem Erlass das ihm zustehende Ermessen nicht pflichtgemäß ausgeübt hat.

2. Bei der Überleitung eines Schenkungsrückforderungsanspruchs im engen familiären Umfeld, mit dem eine häufig aus ideellen Motiven getroffene unentgeltliche Zuwendung rückgängig gemacht wird und die typischerweise in die familiären Verhältnisse eingreift, gehört es nicht zuletzt im Hinblick auf das Gebot familiengerechter Leistungen (§ 16 SGB XII) aber zur umfassenden Sachverhaltsermittlung, die Schenker (hier die Eltern des Klägers) anzuhören. Vorliegend ist dies nach den bindenden Feststellungen des Landessozialgerichts nicht geschehen.

Quelle: www.bsg.bund.de

2. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung nach dem (SGB II)

2.1 – LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 24.11.2022 – L 34 AS 2245/18

Leitsätze
Die in Berlin von den Jobcentern ab 1. Juli 2015 angewandten Ausführungsvorschriften zur Gewährung von Leistungen gemäß § 22 SGB II (AV-Wohnen 2015) stellen kein schlüssiges Konzept zur Bestimmung der angemessenen Aufwendungen für Unterkunft dar.

Ein erhöhter Wohnraumbedarf wegen Ausübung des Umgangsrechts mit dem getrenntlebenden Kind kann auf der Ebene der konkreten Angemessenheit der Unterkunftskosten nicht (mehr) anerkannt werden, wenn ein Umgang objektiv nicht mehr stattfindet und es auch gänzlich ungewiss ist, ob und ggf. in welchem Umfang es zukünftig wieder zu Treffen zwischen dem Elternteil und dem Kind kommen wird.

§ 22 Abs. 1 Satz 3 SGB II ist auch in Fällen anwendbar, in denen ein zunächst bestehender erhöhter Wohnraumbedarf (hier: wegen Ausübung des Umgangsrechts mit dem Kind) später wieder wegfällt (hier: wegen der Beendigung der Wahrnehmung des Umgangsrechts).

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

2.2 – LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 30.09.2022 – L 5 AS 1449/19

Leitsätze
Krankengeld ist nicht schon deshalb eine als Nachzahlung zufließende Einnahme im Sinne des § 11 Abs. 3 Satz 2 SGB II, weil es nicht pro Kalendertag, sondern „abschnittsweise nachträglich“ gezahlt wird.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

2.3 – LSG Hessen, Beschluss v. 09.03.2023 – L 7 AS 447/22 B ER

Leitsätze
1. Allein die Feststellung des Verlustes des Freizügigkeitsrechts nach § 2 Abs 1 FreizügG/EU 2004 sperrt die Anwendung des § 7 Abs 1 S 4 Halbs 1 SGB 2. Die Bestandskraft der Entscheidung muss nicht eingetreten sein.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

Hinweis Redakteur:
So auch LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 26. Mai 2017, L 15 AS 62/17 B ER; vgl. auch Hessisches Landessozialgericht, 4. Senat, L 4 SO 91/20 B ER; a.A. Sächsisches Landessozialgericht, Beschluss vom 20. März 2018, L 3 AS 73/18 B ER und Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 28. Mai 2019, L 8 SO 109/19 B ER

2.4 – LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 12.04.2022 – L 9 AS 2370/20

Grundsicherung für Arbeitsuchende – Einkommensberücksichtigung bzw -berechnung bei selbstständiger Arbeit – keine Absetzbarkeit von Betriebsausgaben nach Darlehensaufnahme

Darlehen sind nicht als Betriebseinnahmen zu berücksichtigen

Leitsatz Redakteur v. Tacheles e. V.
1. Grundsätzlich gilt, dass Darlehen nicht als Betriebseinnahmen zu berücksichtigen sind.

2. Einnahmen, die mit einer Rückzahlungsverpflichtung verbunden sind, sind im Bereich des SGB II nicht als Einkommen zu berücksichtigen (BSG, Urteil vom 17.06.2010 – B 14 AS 46/09 R). Somit bleibt der Zufluss des Darlehens unberücksichtigt, während die Ausgaben für die Tilgung von betrieblich veranlassten Darlehen Betriebsausgaben sind (vgl. ausführlich LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 12.06.2015 – L 25 AS 3370/13; Bayerisches LSG, Urteil vom 30.11.2018 – L 16 AS 205/16).

3. Ausgaben, die von der Zweckbestimmung eines aufgenommenen Darlehens umfasst sind, sind auch aus diesem Darlehen zu bestreiten und können nicht von den Einnahmen in Abzug gebracht werden (LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 09.12.2014 – L 12 AS 1858/13).

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

2.5 – LSG Bayern, Urt. v. 22.09.2022 – L 7 AS 98/22

Leitsätze
Eine Rechtsmitteleinlegung unter dem Vorhalt, dass Prozesskostenhilfe bewilligt und ein Rechtsanwalt beigeordnet wird, kann als unbedingte Einlegung des Rechtsmittels ausgelegt werden.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

3. Entscheidungen der Sozialgerichte zur Grundsicherung nach dem (SGB II)

3.1 – SG Magdeburg, Gerichtsbescheid v. 01.02.2023 – S 36 AS 886/22

Leitsatz RA Michael Loewy
Eine Neuaufteilung der Akten infolge Personalmangels rechtfertigt keine Fristüberschreitung des § 88 Abs. 22 SGG.

Quelle: RA M. Loewy

3.2 – SG Kiel, Beschluss vom 12.12.2022, S 41 AS 92/22 – rechtskräftig – Beitrag dazu von RA Helge Hildebrandt

Bürgergeld so lange, bis vorrangige Leistungen tatsächlich bewilligt sind

Bürgergeld (Grundsicherung für Arbeitssuchende nach dem SGB II) ist eine so genannte nachrangige Sozialleistung. Kann der notwendige Lebensunterhalt mithilfe anderer Sozialleistungen gedeckt werden, sind deswegen diese anderen Sozialleistungen zu beantragen, § 12 a Satz 1 SGB II. Im konkreten Fall hatte das Jobcenter Kiel den Weiterbewilligungsantrag einer alleinerziehenden Mutter mit zwei minderjährigen Kindern unter Bezugnahme auf diese Regelung für den Zeitraum ab 1.12.2022 Ende November 2022 mit der Begründung abgelehnt, die Familie könne ihren Lebensunterhalt mit Wohngeld und Kinderzuschlag decken. Die Mutter beantragte umgehend am 25.11.2022 sowohl Wohngeld als auch Kinderzuschlag. Sie wies das Jobcenter aber zugleich auf die langen Bearbeitungszeiten bei den Wohngeldstellen und der Familienkasse hin und begehrt die Weiterbewilligung von ALG II (jetzt Bürgergeld) bis zu einer tatsächlichen Bewilligung von Wohngeld und Kinderzuschlag. Dies lehnte das Jobcenter Kiel ab. Das Sozialgericht gab der Familie Recht.

Die maßgebliche Vorschrift des § 12a Satz 1 SGB II, welche Leistungsberechtigte nach dem SGB II verpflichtet, vorrangige Leistungen anderer Sozialleistungsträger in Anspruch zu nehmen, ermächtigt den Grundsicherungsträger nämlich nicht dazu, Leistungen nach dem SGB II unter Verweis auf eine zu beantragende vorrangige Sozialleistung abzulehnen. Bis zum Zufluss der vorrangigen Sozialleistungen muss der Grundsicherungsträger bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen in Vorleistung treten und Leistungen nach dem SGB II – gegebenenfalls unter Anmeldung eines Erstattungsanspruchs gemäß §§ 102 ff. SGB X – weiter gewähren.

Quelle: sozialberatung-kiel.de

Hinweis:
Thomé Newsletter 08/2023 vom 26.02.2023 – Ablehnung mit Verweis auf vorrangige Leistungen am Beispiel des Landkreises Kassel

Rechtstipp:
SG Landshut, Urteil v. 27.07.2017 – S 11 AS 170/16 – Berufung zugelassen

Bei der Beurteilung der Hilfebedürftigkeit ist ausschließlich auf die gegenwärtige Lage abzustellen (BSG, Urteil vom 27. September 2011, B 4 AS 202/10 R). Eine solche Rechtsgrundlage, die ein Jobcenter dazu berechtigen würde, allein wegen eines Anspruches auf Wohngeld einen Antrag auf Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II abzulehnen, gibt es nicht.

Bis zum Zufluss von Wohngeld sind Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zu gewähren.

4. Entscheidungen der Sozialgerichte zum Arbeitsförderungsrecht (SGB III)

4.1 – LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 05.02.2021 – L 12 AL 1738/18

Leitsätze
Eine Schätzung des für die Berechnung der Winterbeschäftigungs-Umlage maßgeblichen Arbeitsentgelts unterliegt einer umfassenden gerichtlichen Überprüfung im Sinne einer eigenen Schätzungsbefugnis, die auch die Anwendung einer anderen Schätzungsmethode umfasst.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

5. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Sozialhilfe (SGB XII)

5.1 – LSG Bayern, Urt. v. 16.12.2022 – L 8 SO 119/20

Leitsätze
Eine Überleitungsanzeige nach § 93 SGB XII erledigt sich gem. § 39 Abs. 2 SGB X auf andere Weise, wenn im zivilgerichtlichen Verfahren ein Vergleich geschlossen wird, der alle übergeleiteten Ansprüche für die Vergangenheit und die Zukunft abschließend regelt.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

6. Entscheidungen zum Asylrecht und AsylbLG

6.1 – Sozialgericht Stuttgart – Beschluss vom 16.02.2023 – Az.: S 11 AY 3926/22 ER

Normen: § 3 AsylbLG, § 3a AsylbLG, § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG – Schlagworte: Regelbedarfsstufe 1, Leistungen nach den §§ 3, 3a AsylbLG, Sozialgericht Stuttgart

weiter bei RA Sven Adam

Leitsatz Redakteur v. Tacheles e. V.
1. Auch bei Grundleistungen (§ 3a AsylbLG) ist für Alleinstehende Regelbedarfsstufe 1 zu gewähren!

2.. Aus der genannten Entscheidung des BVerfG ergibt sich auch die Verfassungswidrigkeit der Parallelregelung des § 3a Abs. 1 Nr. 2 lit. b AsylbLG bzw. § 3a Abs. 2 Nr. 2 lit. b AsylbLG (so auch: Hessisches LSG, Beschluss vom 20. Dezember 2022 – L 4 AY 28/22 B ER; Frerichs in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 3. Aufl., § 3a AsylbLG (Stand: 28.12.2022), Rn. 44_18).

2. Soweit das BVerfG seine Anordnung auf Leistungsberechtigte nach § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AsylbLG beschränkt hat und Leistungsberechtigte nach § 3, 3a Abs. 1 Nr. 2 Buchstabe b) und Abs. 2 Nr. 2 Buchstabe b) AsylbLG von der Anordnung nicht umfasst sind, stellt sich die verfassungsrechtliche Problematik der Regelungen in § 3a AsylbLG als vergleichbar dar, denn auch insoweit bestehen keine tragfähigen Anhaltspunkte dafür, dass in den Sammelunterkünften regelmäßig tatsächlich Einsparungen durch gemeinsames Wirtschaften erzielt werden oder werden können, die eine Absenkung der Leistungen um 10 % rechtfertigen würden (vgl. Hessisches LSG, Beschluss vom 20. Dezember 2022 – L 4 AY 28/22 B ER).

Hinweis Redakteur v. Tacheles e. V.:
Ebenso SG Stuttgart, Beschlüsse v. 16.02.2023 – S 11 AY 3850/22 ER; S 11 AY 44/23 ER und S 11 AY 102/23 ER

7. Verschiedenes zu Hartz IV, zur Sozialhilfe, zum Asylrecht, Wohngeldrecht und anderen Gesetzesbüchern

7.1 – SG Fulda, Urt. v. 13.01.2023 – S 4 EG 4/20

Leitsätze
Einnahmen während des Bezugs von Elterngeld sind gem. § 3 Abs. 1 S. 2 BEEG hierauf Tag genau, nicht in Bezug auf den jeweiligen Gesamtlebensmonat des Kindes anzurechnen; entsprechend reduzieren die tagesbezogenen Einnahmen nur das rechnerisch zu ermittelnde Elterngeld für den jeweiligen Tag, so dass das Elterngeld für die übrigen Tage ohne Einnahmen ungeschmälert zu zahlen ist.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

Verfasser des Rechtsprechungstickers: Redakteur von Tacheles Detlef Brock
Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker