1. Entscheidungen des Bundessozialgerichts zur Grundsicherung (SGB II) und zur Sozialhilfe (SGB XII)
1.1 – BSG, Urt. v. 08.03.2023 – B 7 AS 7/22 R
Grundsicherung für Arbeitsuchende – Kostenerstattungsanspruch – Aufenthalt – Frauenhaus
Entfällt die Pflicht des für den bisherigen gewöhnlichen Aufenthaltsort zuständigen kommunalen Trägers zur Erstattung der Kosten für einen Aufenthalt im Frauenhaus gemäß § 36a SGB II nicht bereits bei einem tatsächlichen Aufenthalt an einem neuen Ort, sondern erst nach Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts im Sinne des § 30 Absatz 3 Satz 2 SGB I am neuen Aufenthaltsort?
Orientierungshilfe Redakteur v. Tacheles e. V.
Der Erstattungsanspruch des Jobcenters Osnabrück gegen das Jobcenter Münster ist dem Grunde nachgegeben. Er folgt aus § 36a SGB II.
2. Die Leistungsberechtigten hatten ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne des § 30 SGB I zunächst in Münster. Dem steht nicht entgegen, dass sie sich bereits dort in einem Frauenhaus aufgehalten hatten. Der weiteren Flucht in ein Frauenhaus nach Osnabrück folgt daher die Erstattungsverpflichtung des Trägers der Herkunftskommune – des Jobcenters Münster.
3. In Anknüpfung an den Gesetzeszweck des „Schutzes des Einrichtungsortes“ sowie die bisherige Rechtsprechung zum Sozialhilferecht ist jedoch in Fallkonstellationen wie der vorliegenden eine Ausnahme zu machen. Die „Fluchtkette“ ist nicht als unterbrochen anzusehen, wenn der gewöhnliche Aufenthalt in der Absicht begründet worden ist, in das Frauenhaus vor Ort aufgenommen zu werden und nur eine vorübergehende Zeit außerhalb der Einrichtung bis zur Aufnahme zu überbrücken. So liegt der Fall hier.
Quelle: www.bsg.bund.de
1.2 – BSG, Urt. v. 06.10.2022 – B 8 SO 7/21 R
Kosten der Unterkunft – Anrechnung von Einkommen – Angemessenheit – schlüssiges Konzept
Orientierungshilfe Redakteur von Tacheles e. V.
1. Zurückweisung an das LSG.
2. Eine Kostensenkungsaufforderung muss auch für den nichtleistungsberechtigten Ehegatten (§ 35 Abs 2 Satz 1 SGB XII) ergehen.
Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de
Hinweis Redakteur:
Unterkunftskosten für Sozialhilfeempfänger
weiter auf beck.de/aktuell
Orientierungshilfe zum Urt. Vom Redakteur e. V.:
Der Zugang zum Wohnungsmarkt ist für Menschen mit geistigen, psychischen oder seelischen Behinderungen generell erschwert, etwa durch Vorbehalte von Vermietern gegenüber diesem Personenkreis. Erkennbare Beeinträchtigungen und Verhaltensauffälligkeiten können die Chancen auf angemessenen Wohnraum daher mindern.
2. Führen die Beeinträchtigungen zu einer erheblichen Einschränkung oder sogar Verschlossenheit des Wohnungsmarkts, ist regelmäßig eine individuelle Hilfestellung des Leistungsträgers geboten, um eine Wohnung zu finden. Kommt der Leistungsträger dieser Obliegenheit nicht nach, ist grundsätzlich von der konkreten Angemessenheit der Wohnung auszugehen. Konkrete Suchaktivitäten müssen die Betroffenen dann nicht nachweisen.
3. Zur Berechnung des Freibetrages nach § 82 Abs 3 Satz 2 SGB XII für die Tätigkeit in der WfbM ist vom Bruttoeinkommen ausgegangen, von dem das Arbeitsförderungsgeld abzuziehen ist, da es nicht zum Arbeitsentgelt (§ 138 Abs 2 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch – Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen – <SGB IX> aF, jetzt § 221 Abs 2 SGB IX) zählt, sondern von der Werkstatt als besonderer Lohnanreiz weitergereicht wird (LSG Niedersachsen-Bremen vom 29.7.2014 – L 8 SO 212/11).
4. Eine Anwendung der Öffnungsklausel des § 82 Abs 3 Satz 3 SGB XII kommt vorliegend nicht in Betracht.
Eine Kostensenkungsaufforderung muss auch für den nichtleistungsberechtigten Ehegatten (§ 35 Abs 2 Satz 1 SGB XII) ergehen.
2. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung nach dem (SGB II)
2.1 – LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 20.01.2023 – L 37 SF 71/22 EK SO – Revision zugelassen
Leitsätze
§§ 198 ff. GVG i.d.F. des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (GRüGV)
Etwaige in der Zeit zwischen März und Mai 2020 aufgetretene Phasen der gerichtlichen Inaktivität stellen regelmäßig keine dem Staat zuzurechnenden Verzögerungszeiten dar (Anschluss an BFH, Urteil vom 27.10.2021 – X K 5/20 – juris, Rn. 34 ff.). Für diesen Zeitraum ist regelmäßig davon auszugehen, dass Verzögerungen der Corona-Pandemie geschuldet sind, ohne dass sich dies unmittelbar den Akten entnehmen lassen muss. Dies gilt gleichermaßen für Verzögerungen, die im Sitzungsbetrieb aufgetreten sind, wie für solche im allgemeinen Geschäftsablauf.
Für Phasen der gerichtlichen Inaktivität ab Juni 2020 kann sich der Beklagte nicht mehr darauf berufen, dass diese auf Ursachen beruhen, die er weder beeinflussen kann noch sonst zu verantworten hat.
Geht es in dem eine unangemessene Dauer aufweisenden streitgegenständlichen Ausgangsverfahren letztlich allein um die Übernahme der außergerichtlichen Kosten eines Widerspruchsverfahrens kommt diesem eine unterdurchschnittliche Bedeutung zu und kann es angemessen sein, den in § 198 Abs. 2 Satz 3 GVG vorgesehenen Regelbetrag zu halbieren.
Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de
2.2 – LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 20.01.2023 – L 37 SF 298/21 EK AS – Revision zugelassen
Leitsätze
§§ 198 ff. GVG i.d.F. des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (GRüGV)
Etwaige in der Zeit zwischen März und Mai 2020 aufgetretene Phasen der gerichtlichen Inaktivität stellen regelmäßig keine dem Staat zuzurechnenden Verzögerungszeiten dar (Anschluss an BFH, Urteil vom 27.10.2021 – X K 5/20 – juris, Rn. 34 ff.). Für diesen Zeitraum ist regelmäßig davon auszugehen, dass Verzögerungen der Corona-Pandemie geschuldet sind, ohne dass sich dies unmittelbar den Akten entnehmen lassen muss. Dies gilt gleichermaßen für Verzögerungen, die im Sitzungsbetrieb aufgetreten sind, wie für solche im allgemeinen Geschäftsablauf.
Für Phasen der gerichtlichen Inaktivität ab Juni 2020 kann sich der Beklagte nicht mehr darauf berufen, dass diese auf Ursachen beruhen, die er weder beeinflussen kann noch sonst zu verantworten hat.
Das Entschädigungsgericht ist nicht gehindert, gerichtliche Inaktivität in Monaten anzunehmen, die ein Kläger selbst nicht als Verzögerungsmonate gerügt hat.
Die Entscheidung, welche konkreten Monate innerhalb einer Instanz zur Annahme unangemessener Verfahrensdauer führen, berührt lediglich ein Begründungs-/Berechnungselement, betrifft aber nicht den Klagegrund und ändert damit nicht den Streitgegenstand.
Hat ein Kläger sich im Hinblick auf die Regelung des § 198 Abs. 2 Satz 3 GVG zulässigerweise darauf beschränkt, eine Mindestforderung geltend zu machen, steht es dem Entschädigungsgericht zwar frei, eine über der Mindestforderung liegende Entschädigung zuzusprechen, weil der gesetzlich vorgesehene Pauschalbetrag unzureichend erscheint. Nicht hingegen kann es eine höhere Entschädigung auf eine weitergehende als vom Kläger beklagte Verzögerung stützen (Anschluss an BFH, Urteile vom 12.08.2017 – X K 3-7/16 – Rn. 48 ff. und vom 29.11.2017 – X K 1/16 – Rn. 47, juris).
Prozesszinsen sind in analoger Anwendung des § 187 Abs. 1 BGB ab dem auf den Eintritt der Rechtskraft folgenden Tag zu zahlen.
Wird im Hinblick auf die Regelung des § 198 Abs. 2 Satz 3 GVG eine Mindestforderung geltend gemacht, ist der Streitwert in Höhe der angegebenen Mindestforderung festzusetzen.
Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de
2.3 – LSG Niedersachsen-Bremen, Urt. v. 26.01.2023 – L 11 AS 336/21
Arbeitsablehnung; Benehmensherstellung; Ersatzanspruch; Mietkaution; Nichtantritt einer Arbeitsstelle; Sanktion; sozialadäquates Verhalten; sozialwidriges Verhalten; Umzug; Vermittlungsbudget; Weiterleitung eines Antrags
Amtlicher Leitsatz
1. Die Feststellung des Eintritts einer Sanktion nach § 31 SGB II (in der bis zum 31. Dezember 2022 geltenden Fassung) entfaltet keine Sperrwirkung gegenüber dem Ersatzanspruch bei sozialwidrigem Verhaltens nach § 34 SGB II (Anschluss an BSG, Urteil vom 3. September 2020 B 14 AS 43/19 R).
2. Bei dem Ersatzanspruch nach § 34 SGB II handelt es sich um einen engen und deliktsähnlichen Ausnahmetatbestand (Anschluss an BSG, Urteil vom 3. September 2020 B 14 AS 43/19 R).
3. Der Nichtantritt einer außerhalb des Tagespendelbereichs gelegenen Arbeitsstelle stellt kein sozialwidriges Verhalten i.S.d. § 34 SGB II dar, wenn der Arbeitsuchende am zukünftigen Beschäftigungsort keine Wohnung anmieten kann, weil ihm selbst die erforderlichen Mittel zur Finanzierung der für eine neue Wohnung anfallenden Mietkaution fehlen und die als örtlich zuständig in Betracht kommenden Jobcenter die Übernahme der Mietkaution abgelehnt haben.
Quelle: voris.wolterskluwer-online.de
Hinweis:
Pressemitteilung LSG NSB: Fehlender Arbeitsantritt als sozialwidriges Verhalten?
weiter: landessozialgericht.niedersachsen.de
2.4 – LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss v. 03.02.2023 – L 7 AS 229/21 B
Prozessbevollmächtigter; Verschuldenskosten; Beschwerde
Amtlicher Leitsatz
1.) Zu den Voraussetzungen einer Beschwerde eines Prozessbevollmächtigten gegen die ihm im Urteil des SG auferlegten Verschuldenskosten
2.) Im Rahmen des § 192 Abs. 1 SGG können auch dem Vertreter oder Bevollmächtigten selbst die Verschuldenskosten auferlegt werden, die er durch schuldhaftes oder missbräuchliches Verhalten verursacht hat.
Quelle: voris.wolterskluwer-online.de
2.5 – LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 15.02.2023 – L 2 AS 3931/21
Leitsätze
Bei der endgültigen Festsetzung der Leistungen nach § 41a Abs. 6 SGB II sind auch Fehler bei der Leistungsfestsetzung zu korrigieren, die bei einer nicht vorläufigen Leistungsbewilligung nur im Rahmen des § 45 SGB X und den entsprechenden Einschränkungen bei der rückwirkenden Rücknahme zu korrigieren werden.
Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de
3. Entscheidungen der Sozialgerichte zur Grundsicherung nach dem (SGB II)
3.1 – SG München, Urt. v. 17.02.2023 – S 46 AS 1898/21
Leitsätze
Ausländerrechtliche Wohnsitzregelungen nach § 12a AufenthG haben im sozialgerichtlichen Verfahren Tatbestandswirkung und sind deshalb vom Jobcenter und Sozialgerichten nicht auf Rechtmäßigkeit zu prüfen. Zur Feststellung der Beendigung der örtlichen Sonderzuständigkeit eines Jobcenters nach § 36 Abs. 2 SGB II ist aber der Regelungsgehalt einer Aufhebung der Wohnsitzregelung nach § 12a Abs. 5 AufenthG zu ermitteln, insbesondere, ob die Aufhebung rückwirkend erfolgte.
Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de
3.2 – SG Düsseldorf, Gerichtsbescheid v. 21.02.2023 – S 40 AS 1622/22
Höhe der Regelleistung verfassungsgemäß
Quelle: Thomas Wasilewski
4. Entscheidungen der Landessozialgerichte und Sozialgerichte zur Sozialhilfe (SGB XII)
4.1 – LSG Mecklenburg-Vorpommern, Urt. v. 10.03.2022 – L 9 SO 12/19 – Revision anhängig beim BSG – B 8 SO 20/22 R
(Sozialhilfe – Bestattungskosten – Verpflichteter – Anspruchsberechtigung des Ehegatten aufgrund der Bestattungspflicht nach § 9 Abs 2 Nr 1 BestattG MV – Verweis auf die vorrangige Verpflichtung des Sohnes als Alleinerbe – Prüfung etwaiger Ausgleichsansprüche im Rahmen der Zumutbarkeit)
Leitsatz
Die Anspruchsberechtigung nach § 74 SGB XII dem Grunde nach ist nicht bereits unter Verweis auf vorrangig Verpflichtete ausgeschlossen. Ob einem (nachrangig) Verpflichteten ein Anspruch zusteht oder er auf vorrangige Ansprüche verwiesen werden kann, ist eine Frage der Prüfung des Tatbestandsmerkmals der „Zumutbarkeit“. (Rn.32)
Quelle: www.landesrecht-mv.de
4.2 – SG Karlsruhe, Urt. v. 15.02.2023 – S 10 SO 1830/21
Leitsätze
Der Leistungsträger nach dem SGB II hat auch dann gegen den Leistungsträger nach dem SGB XII einen Erstattungsanspruch, wenn er es unterlassen hat, einen Antrag gemäß § 5 Abs. 3 SGB II beim zuständigen Rentenversicherungsträger zu stellen und kein Ermessensfehler ersichtlich ist
Bei den Regelungen der §§ 102 ff SGB X handelt es sich um ein geschlossenes System, das sämtliche Ausgleichsansprüche abschließend umfasst
Eines Rückgriffs auf § 86 SGB X aufgrund des Prinzips der gegenseitigen Rücksichtnahme bedarf es nicht
Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de
4.3 – SG Nürnberg, Beschluss vom 9.3.23 – S 5 SO 25/23
Orientierungshilfe RA Volker Gerloff
Geflüchtete aus Ukraine mit Eingliederungshilfe-Bedarfen haben Anspruch auf Leistungen der Eingliederungshilfe
§ 100 SGB IX steht nicht entgegen
Quelle: www.ra-gerloff.de
Hinweis:
Beschluss des Sozialgerichts Nürnberg: Ukrainischer Junge erhält Leistungen der Eingliederungshilfe
weiter: www.der-paritaetische.de
5. Verschiedenes zu Hartz IV, zur Sozialhilfe, zum Asylrecht, Wohngeldrecht und anderen Gesetzesbüchern
5.1 – Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 08. Februar 2023 – 1 BvR 311/22
Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen die Kostenentscheidung eines Sozialgerichts
Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts entschieden, dass die Kostengrundentscheidung eines Sozialgerichts die Beschwerdeführerin in ihrem Recht aus Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG) in seiner Ausprägung als Willkürverbot verletzt. Das Sozialgericht hat § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG) in nicht mehr nachvollziehbarer Weise angewendet.
Quelle: www.bundesverfassungsgericht.de
Hinweis:
Beitrag dazu von RA Helge Hildebrandt, Kiel:
Jobcenter muss Kosten einer Untätigkeitsklage tragen – keine Pflicht, sich vor Erhebung einer Untätigkeitsklage noch einmal an das Jobcenter zu wenden
weiter: sozialberatung-kiel.de
Rechtstipp:
Vorinstanz SG Darmstadt, Beschluss v. 29.12.2021 – S 16 AS 333/21
5.2 – Das Merkzeichen „aG“ (=außergewöhnliche Gehbehinderung) ist unabhängig von der räumlichen Umgebung – ein Beitrag von RA Marianne Schörnig
BSG, Urteile vom 09.03.2023, Az.: B 9 SB 1/22 R und B 9 SB 8/21 R: Das Merkzeichen „aG“ (=außergewöhnliche Gehbehinderung) steht Schwerbehinderten Menschen unabhängig von der räumlichen Umgebung zu.
weiter: www.anwalt.de
Verfasser des Rechtsprechungstickers: Redakteur von Tacheles Detlef Brock
Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker