Sozialgericht Magdeburg – Beschluss vom 12.04.2023 – Az.: S 25 AY 42/22 ER

BESCHLUSS

In dem Rechtsstreit

xxx,
Prozessbevollm.:
Rechtsanwalt Sven Adam, Lange Geismarstraße 55,
37073 Göttingen

– Antragstellerin –

gegen

Altmarkkreis Salzwedel, vertreten durch den Landrat,
Karl-Marx-Straße 32, 29410 Salzwedel

– Antragsgegner –

hat die 25. Kammer des Sozialgerichts Magdeburg am 12. April 2023 durch die Vorsitzende, die Richterin am Sozialgericht xxx, beschlossen:

Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig und unter dem Vorbehalt der Rückforderung ab dem 22.11.2022 bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung über den Widerspruch der Antragstellerin vom 22.11.2022, längstens bis zum 31.10.2023, Leistungen gemäß §§ 3, 3a AsylbLG in der Regelbedarfsstufe 1 zu gewähren.

Der Antragsgegner trägt die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin.

GRÜNDE
I.

Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG), insbesondere über die Gewährung von Leistungen nach der Regelbedarfsstufe 1.

Die am xx.xx.2001 geborene Antragstellerin reiste am 01.08.2021 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte einen Antrag auf Asyl. Sie gab an, nigrische Staatsangehörige zu sein.

Die Antragstellerin wurde dem Antragsgegner zur Aufnahme zugewiesen und erhält seit dem 04.10.2022 Leistungen nach §§ 3 und 3a Abs. 1 Ziff. 2b und Abs. 2 Ziff. 2b AsylbLG vom Antragsgegner (Bescheid vom 06.10.2022). Die Antragstellerin lebt mit ihrem am 28.07.2022 geborenen Kind in einer Gemeinschaftsunterkunft i.S.d. § 53 Abs. 1 AsylG.

Gegen den Bescheid vom 06.10.2022 legte die Antragstellerin am 22.11.2022 Widerspruch ein, über den nach Kenntnis der Kammer derzeit noch nicht entschieden ist. Am gleichen Tag hat sie einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz beim Sozialgericht Magdeburg (SG) gestellt. Sie meint, dass sie zum einen Anspruch auf Mehrbedarf für Alleinerziehende nach § 6 AsylbLG habe und zum anderen Anspruch auf verfassungsmäßige Leistungen nach dem AsylbLG dergestalt habe, dass die Regelbedarfsstufe 1 bewilligt werde.

Nachdem der Antragsgegner mit Bescheid vom 12.12.2022 den Bescheid vom 06.10.2022 in vollem Umfang zurücknahm und der Antragstellerin ab dem 04.10.2022 laufende Leistungen nach § 3 AsylbLG unter Berücksichtigung eines Mehrbedarfs für Alleinerziehende gewährte, erklärte die Antragstellerin den Antrag diesbezüglich für erledigt und begehrt nunmehr nur noch die Gewährung von Leistungen nach der Regelbedarfsstufe 1. Die Regelungen der §§ 3, 3a Abs. 1 Nr. 2b, Abs. 2 Nr. 2b AsylbLG seien evident verfassungswidrig, da sie das durch Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG garantierte Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums verletzten und gegen den allgemeinen Gleichheitssatz verstießen. Sie verwies auf sozialgerichtlichen erstinstanzlichen Entscheidungen im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes und auf den am 23.11.2022 veröffentlichten Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 19.10.2022 zu dem Az. 1 BvL 3/21. Darin hat das BVerfG § 2 Abs. 1 S. 4 Nr. 1 AsylbLG mit Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 1 GG für unvereinbar erklärt, soweit für eine alleinstehende erwachsene Person ein Regelbedarf lediglich in Höhe der Regelbedarfsstufe 2 anerkannt werde. Die Entscheidung des BVerfG sei auch auf die Normen des § 3a Abs. 1 Nr. 2 b AsylbLG bzw. § 3a Abs. 2 Nr. 2b AsylbLG anzuwenden.

Die Antragstellerin beantragt sinngemäß,
dem Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, der Antragstellerin vorläufig und unter dem Vorbehalt der Rückforderung bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung über den Widerspruch vom 22.11.2022 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts die beantragten Leistungen in gesetzlicher Höhe ab Eingang dieses Antrages bei Gericht zu gewähren.

Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzuweisen.

Der Antragsgegner trägt vor, dass kein Anspruch auf höhere Leistungen bestünde. Für Personen, die in Gemeinschaftsunterkünften lebten, basiere die Leistungsgewährung für den notwendigen persönlichen Bedarf sowie den notwendigen Bedarf auf der Regelbedarfsstufe 2 gem. §§ 3 und 3a AsylbLG. Eine andere gesetzliche Regelung gebe es nicht. Eine analoge Anwendung der Entscheidung des BVerfG zum Az. 1 BvL 3/21 sei nicht bekannt und von der Fachaufsichtsbehörde nicht verfügt. Es verbleibe bei der gesetzlichen Regelung.

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten und der Einzelheiten des Sachverhaltes wird auf die beigezogenen Verwaltungsakte der Antragsgegnerin und die Gerichtsakte Bezug genommen, die Gegenstand der Entscheidungsfindung waren.

II.

Der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz ist zulässig und begründet.

Das Gericht kann nach § 86b Abs. 2 SGG eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragsstellers erschwert oder wesentlich vereitelt wird. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist gemäß § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m.§ 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) die Glaubhaftmachung des Vorliegens sowohl eines Anordnungsanspruchs (also eines in der Hauptsache gegebenen materiellen Leistungsanspruchs) als auch eines Anordnungsgrunds (also der Eilbedürftigkeit der Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile). Ein Anordnungsanspruch und ein Anordnungsgrund sind glaubhaft gemacht, wenn ihre tatsächlichen Voraussetzungen mit überwiegender Wahrscheinlichkeit vorliegen (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Auflage 2020, § 86b Rn. 41).

Je gewichtiger die drohende Grundrechtsverletzung und je höher ihre Eintrittswahrscheinlichkeit ist, desto intensiver hat die tatsächliche und rechtliche Durchdringung der Sache bereits im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes zu erfolgen. Ist eine der drohenden Grundrechtsverletzung entsprechende Klärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich – etwa weil es dafür weiterer, in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit nicht zu verwirklichender tatsächlicher Aufklärungsmaßnahmen bedürfte –, kann eine Entscheidung aufgrund einer Folgenabwägung ergehen (Bundesverfassungsgericht <BVerfG>, Beschluss vom 14. März 2019 – 1 BvR 169/19 – juris Rn. 15 m.w.N.).

Zur Überzeugung der Kammer hat die Antragstellerin einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht.

Die Antragstellerin lebt in einer Gemeinschaftsunterkunft i.S.v. § 53 Abs. 1 AsylbLG und bezieht unstreitig Leistungen nach §§ 3, 3a AsylbLG. Unter Berücksichtigung des Beschlusses des BVerfG vom 19.10.2022 stehen ihr diese allerdings im Umfang der Regelbedarfsstufe 1 zu. Das BVerfG hat mit dem am 23.11.2022 veröffentlichten Beschluss vom 19.10.2022 – 1 BvL 3/21 – entschieden, dass die Sonderbedarfsstufe 2 für eine in einer Sammelunterkunft untergebrachte alleinstehende erwachsene Person nach der Parallelvorschrift des § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG mit dem Grundgesetz (Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG) unvereinbar ist (Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums). Die Annahme des Gesetzgebers, den Leistungsberechtigten sei es möglich und zumutbar, in den Unterkünften eröffnete Möglichkeiten zu gemeinsamem Wirtschaften zu nutzen, sowie die Berücksichtigung von dadurch erzielbaren Einsparungen bei der Bemessung des existenznotwendigen Bedarfs (vgl. BT-Drs. 19/10052, S. 24 f.), sei zwar im Ausgangspunkt verfassungsrechtlich nach dem Nachranggrundsatz nicht zu beanstanden. Diese Obliegenheit gemeinsamen Wirtschaftens sei aber nur dann verhältnismäßig im engeren Sinne, wenn hinreichend gesichert ist, dass in den Sammelunterkünften auch tatsächlich die Voraussetzungen dafür vorliegen, diese erfüllen und so Einsparungen in entsprechender Höhe erzielen zu können. Dafür müssen sich jedoch ausdrücklich bei einem gemeinsamen Aufenthalt in einer Gemeinschaftsunterkunft (§ 53 AsylG) oder Aufnahmeeinrichtung (§ 44 AsylG) Anhaltspunkte ergeben (vgl. BVerfG v. 19.10.2022 – 1 BvL 3/21 – juris Rn. 74 ff.).

Das BVerfG hat eine Übergangsregelung angeordnet, nach der für alleinstehende Erwachsene, die in einer Gemeinschaftsunterkunft untergebracht sind, unter den Voraussetzungen von § 2 Abs. 1 S. 1 und S. 4 Nr. 1 AsylbLG ein Regelbedarf in Höhe der Regelbedarfsstufe 1 anstatt 2 anerkannt wird.

Die Kammer ist zu der Überzeugung gelangt, dass diese Überlegung des BVerfG auch auf die Parallelvorschriften für Leistungsberechtigte in Sammelunterkünften nach § 3a AsylbLG Anwendung zu finden haben, da mit überwiegender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen ist, dass auch die §3a Abs. 1 Nr. 2b AsylbLG bzw. § 3a Abs. 2 Nr. 2b AsylbLG verfassungswidrig sind (vgl. Frerichs in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 3. Aufl., § 3a AsylbLG (Stand: 28.11.2022), Rn. 44_18). Die Sachverhalte sind vergleichbar, denn es bestehen keine Anhaltspunkte, dass in den Sammelunterkünften regelmäßig tatsächliche Einsparungen durch gemeinsames Wirtschaften erzielt wird oder werden könne.

Insofern hat bereits die Bundesregierung über das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) bekannt gegeben, dass der Beschluss des BVerfG auch bei der Gewährung von Grundleistungen nach §§ 3 bzw. 3a AsylbLG angewandt werden sollte. Die der Verfassungswidrigkeit der Norm zugrundeliegende Begründung, es gäbe keine tragfähigen Anhaltspunkte dafür, dass in den Sammelunterkünften regelmäßig tatsächlich Einsparungen durch gemeinsames Wirtschaften erzielt werden oder werden können, die eine Absenkung der Leistungen um 10 % rechtfertigen würden, sei von grundsätzlicher Natur. Das BMAS geht daher von einer Anwendbarkeit des Beschlusses auch auf die Parallelregelungen in § 3a Absatz 1 Nummer 2 und Absatz 2 Nummer 2 AsylbLG für Leistungen im Grundleistungsbezug aus. So haben bereits einzelne Länder (z.B. Berlin) verfügt, dass künftig alle erwachsenen alleinstehenden Leistungsberechtigten nach dem AsylbLG, die in einer Gemeinschaftsunterkunft, Aufnahmeeinrichtung oder ggf. Notunterkunft untergebracht sind, Anspruch auf den Bedarfssatz bzw. die Regelbedarfsstufe für alleinstehende Erwachsene nach der Regelbedarfsstufe 1, soweit sie nicht als junge Erwachsene im elterlichen Haushalt (unabhängig von der Art der Unterbringung) leben (vgl. beispielsweise Rundschreiben der Berliner Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales, Soz Nr. 01/2023 zur Umsetzung der §§ 2 und 3, 3a Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG).

Es ist zudem ein Anordnungsgrund gegeben. Vor dem Hintergrund der dargestellten überwiegenden Erfolgsaussichten in der Hauptsache unter Verweis auf die Entscheidung des BVerfG vom 19.10.2022 ist eine restriktive, an der Glaubhaftmachung der Eilbedürftigkeit ausgerichtete Rechtsprechung im einstweiligen Rechtsschutz nicht angezeigt (Frerichs, a.a.O., Rn. 44.19), da auch nicht absehbar ist, dass die Antragstellerin demnächst nicht mehr in einer Gemeinschaftsunterkunft oder Aufnahmeeinrichtung leben wird. Vielmehr ist sie erst vor Kurzem erneut in eine Gemeinschaftsunterkunft umgezogen.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Es folgt die Rechtsmittelbelehrung.