BESCHLUSS
In dem Rechtsstreit
xxx,
Kläger,
Prozessbevollm.:
Rechtsanwalt Sven Adam
Lange Geismarstraße 55, 37073 Göttingen,
gegen
Stadt Kassel,
vertreten durch den Magistrat,
Rechtsamt,
Rathaus, 34117 Kassel,
Beklagte,
hat die 14. Kammer des Sozialgerichts Kassel am 5. Mai 2023 durch den Vorsitzenden, Richter am Sozialgericht xxx beschlossen:
Die Beklagte hat dem Kläger seine Kosten zu erstatten.
GRÜNDE
I.
Der Kläger hat ursprünglich Leistungen nach der Regelbedarfsstufe 1 für den Zeitraum 1.9.2019 bis 3.10.2019.
Die Beklagte bewilligte dem in einer Gemeinschaftsunterkunft lebenden Kläger Leistungen nach dem AsylbLG in Höhe der Regelbedarfsstufe 2 (Bescheid vom 18.9.2019). Der dagegen erhobene und auf Leistungen in Höhe der Regelbedarfsstufe 1 gerichtete Widerspruch war ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 1.11.2021).
Der Kläger hat am 7.11.2021 Klage erhoben.
Er hat vorgetragen, dass die Anwendung der Regelbedarfsstufe 2 auf den Kläger verfassungswidrig sei.
Das Gericht hat PKH bewilligt und das Ruhen des Verfahrens angeordnet, da Berufungsverfahren und eine Vorlage nach Art. 100 GG betreffend die hier streitige Rechtsfrage anhängig waren (Beschlüsse vom 3.12.2021).
Nach der Entscheidung des BVerfG zum Aktenzeichen 1 BvL 3/21 v. 19.10.2022 hat die Beklagte ein Anerkenntnis in Höhe der Differenz zwischen der Regelbedarfsstufe 1 und der Regelbedarfsstufe 2 abgegeben und sich zur Übernahme der Hälfte der außergerichtlichen Kosten bereit erklärt (Schriftsatz vom 10.3.2023).
Der Kläger hat das Anerkenntnis zur Erledigung des Rechtsstreits angenommen.
Er beantragt nunmehr sinngemäß,
zu entscheiden, dass die Beklagte dem Kläger seine Kosten zu erstatten hat.
Die Beklagte trägt vor, dass eine volle Kostentragung nicht angemessen sei. Die Beklagte habe zunächst das damals geltende Recht angewandt. Die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes sei ihr nicht zuzurechnen. Insbesondere sei sie keine „staatliche“ Institution und habe auf das Gesetzgebungsverfahren keinen Einfluss nehmen können. Zu ihren Gunsten sei ihr prozessuales Verhalten zu berücksichtigen, weil sie nämlich nach der Entscheidung des BVerfG von selbst ein Anerkenntnis in voller Höhe abgegeben habe. Außerdem habe der Kläger PKH erhalten. Es billig sei, dass das Land den Kostenschaden zumindest anteilig trage, weil es über den Bundesrat auf das Gesetz habe Einfluss nehmen können.
II.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG. Der Rechtsstreit des kostenprivilegierten Klägers hat sich durch das angenommene Anerkenntnis anders als durch Urteil erledigt und der Kläger hat einen Kostenantrag gestellt. Die Kostenentscheidung steht im Ermessen des Gerichts und orientiert sich maßgeblich an den Erfolgsaussichten, soweit nicht Veranlassungsgesichtspunkte oder sonstige Gründe eine andere Entscheidung rechtfertigen.
1. Die Klage hatte in vollem Umfang Erfolg. Die Beklagte hat Leistungen in Höhe der Regelbedarfsstufe 1 für den gesamten streitgegenständlichen Zeitraum anerkannt.
2. Veranlassungsgesichtspunkte rechtfertigen keine andere Entscheidung. Der Kläger hat regelmäßig keine andere Wahl als zur Vermeidung der Bestandskraft der Bewilligungsentscheidung Widerspruch und Klage zu erheben (vgl. zu § 63 SGB X: BSG vom 24.9.2020 – B 9 SB 4/19 R, SozR 4-1300 § 63 Nr. 31, Rn. 23-25). Die Erhebung eines insoweit vorgesehenen Rechtsbehelfs kann grundsätzlich dem Kläger nicht angelastet werden. In Ansehung eines Normenkontrollverfahrens können Betroffene auch nicht auf ein Zugunstenverfahren verwiesen werden, weil dann oft keine Leistungen für die Vergangenheit durchgesetzt werden können. Für die hier in Rede stehende Vorschrift hat das BVerfG dies auch ausdrücklich entschieden (BVerfG vom 19.10.2022 – 1 BvL 3/21, Juris Rn. 98).
3. Dass die Beklagte die verfassungswidrige Norm und damit diesen Rechtsstreit nicht veranlasst hat, ist unerheblich. Veranlassungsgesichtspunkte werden erst relevant, soweit eine an sich nach Erfolg bemessene Kostenentscheidung (teilweise) umgekehrt werden soll, wenn also bei einer in der Sache erfolglosen Klage dem Beklagten die Kosten auferlegt werden sollen oder einem in der Sache erfolgreichen Kläger Kosten auferlegt werden sollen (B. Schmidt in Meyer-Ladewig, 13. Aufl. 2020, SGG § 193 Rn. 12b).
4. Eine Änderung der Sachlage zugunsten des Klägers hat sich nicht ergeben. Anerkannt ist, dass eine Kostenquote zugunsten des Beklagten in Betracht kommt, wenn beispielsweise im Klageverfahren neue Gesundheitsstörungen auftreten, die nunmehr den ab ihrem Auftreten Klageanspruch stützen und daraufhin sofort ein Anerkenntnis ab dem Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse abgegeben wird (vgl. B. Schmidt in Meyer-Ladewig, 13. Aufl. 2020, SGG § 193 Rn. 12d).
5. Die sich durch die Entscheidung des BVerfG ergebende Änderung der Rechtslage führt anders als in der von der Beklagten angeführten Entscheidung des LSG München nicht zu einer Kostenquote (Bayerisches LSG vom 27.10.2017 – L 5 KR 4/16, Juris Rn. 5). Denn im dort entschiedenen Fall, wurde die Leistungspflicht erst ab Änderung der Rechtslage, nämlich der Bekanntmachung der Entscheidung des GB-A, anerkannt. Hier wurden jedoch Leistungen rückwirkend für die gesamte streitgegenständliche Zeit anerkannt. Und nur in dieser Konstellation kann ein sofortiges Anerkenntnis – wie bei einer Änderung der Tatsachenlage (neue Gesundheitsstörung etc.) – zugunsten der beklagten Behörde berücksichtigt werden.
6. Bei verfassungswidrigen Gesetzen ist stets eine Kostenentscheidung zulasten der beklagten Behörde auszusprechen. Soweit das BVerfG Kostenquoten zugunsten von Klägern erwogen hat, betraf dies nur Konstellationen, in welchen Leistungen nicht rückwirkend in verfassungskonformer Höhe zugesprochen werden konnten, die Verfassungswidrigkeit der Regelungen zugunsten der Betroffenen aber trotzdem berücksichtigt werden sollte (BVerfG vom 9.2.2010 – 1 BvL 1/09, BVerfGE 125, 175, Juris Rn. 219; BVerfG vom 18.7.2012 – 1 BvL 10/10, BVerfGE 132, 134, Rn. 113). Hat ein Kläger jedoch für den gesamten Streitzeitraum Erfolg, ist nach diesem Maßstab die Behörde erst Recht zur Kostentragung in voller Höhe zu verpflichten. Unerheblich ist, dass die Beklagte nichts für das verfassungswidrige Gesetz kann, weil der Kläger ebenfalls nichts für das Gesetz kann. Das Argument kann mithin jede Seite für sich in Anspruch nehmen, sodass es unergiebig ist.
7. Die Ausführungen der Beklagten zur PKH ändern am Ergebnis nichts. Bewilligte Prozesskostenhilfe ist niemals ein Argument für eine Kostenentscheidung, sei es durch das Gericht oder durch die Beteiligten in einem Vergleich. Dies folgt aus § 123 ZPO i. V. m. § 73a SGG. Vielmehr wäre eine Kostenentscheidung mit der von der Beklagten erwogenen Begründung missbräuchlich und ein beigeordneter Rechtsanwalt, der mit dieser Begründung einer unstreitigen Kostenregelung zu Lasten der Staatskasse zustimmt, würde sich regresspflichtig machen (vgl. zu Regressansprüchen: Oberlandesgericht des Landes Sachsen-Anhalt vom 27.6.2013 – 10 W 25/13 (KfB), Juris).
Die Beschwerde gegen diesen Beschluss ist ausgeschlossen § 172 Abs. 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG).