1. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung nach dem (SGB II)
1.1 – LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 24.04.2023 – L 4 AS 280/23 B ER
Leitsätze
1. Die Agentur für Arbeit muss auch dann Leistungen nach § 44a Abs. 1 Satz 7 SGB II erbringen, wenn die widerspruchsberechtigten Träger das Verfahren nach § 44a SGB II nicht pflichtgemäß betreiben.
2. § 44a Abs. 1 Satz 7 SGB II bietet widerspruchsberechtigten Trägern nach § 44a Abs. 1 Satz 2 SGB II keine Handhabe, durch pflichtwidriges Handeln auf nicht absehbare Zeit eine Leistungsverpflichtung der Agentur für Arbeit zu begründen.
3. Die Agentur für Arbeit darf daher einen – aus ihrer Sicht pflichtwidrig handelnden – widerspruchsberechtigten Träger auffordern, binnen einer angemessenen Frist zu erklären, ob er der Einschätzung zur Erwerbsfähigkeit widerspreche, und dies ggf. zu begründen. Kommt der andere Träger dieser Aufforderung nicht nach, berechtigt dies die Agentur für Arbeit nicht zur Leistungsablehnung wegen fehlender Erwerbsfähigkeit. Vielmehr darf sie nun trotz fehlenden ausdrücklichen Widerspruchs oder trotz fehlender Widerspruchsbegründung die gutachterliche Stellungnahme des zuständigen Trägers der Rentenversicherung gemäß § 44a Abs. 1 Satz 4 und 5 SGB II einholen und auf deren Grundlage abschließend über die Erwerbsfähigkeit entscheiden.
Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de
1.2 – LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 23.05.2023 – L 32 AS 248/23 B ER PKH
Einstweiliger Rechtsschutz gegen die vorläufige Einstellung der Leistung durch das Bürgergeldamt – hier handelte das Bürgergeldamt rechtswidrig
Leitsatz Redakteur v. Tacheles e. V.
1. Voraussetzung der vorläufigen Einstellung der Leistung nach § 331 Abs. 1 S. 1 SGB 3 ist, dass die Behörde Kenntnis von Tatsachen erhält, die zum Ruhen oder Wegfall des Anspruchs führen und der Bescheid, aus dem sich der Anspruch ergibt, deshalb mit Wirkung für die Vergangenheit aufzuheben ist.
2. Die Behörde muss von den Ruhens- bzw. Wegfallstatsachen positive Kenntnis erhalten. Vermutungen reichen nicht aus. Anderenfalls ist die vorläufige Einstellung der Leistung zu Unrecht erfolgt.
Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de
1.3 – LSG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 20.04.2023 – L 29 AS 320/23 B ER
Grundsicherung für Arbeitsuchende – Leistungsausschluss für Ausländer – Unionsbürger – Verlust des Freizügigkeitsrechts durch Feststellung der Ausländerbehörde – Wirkung von Widerspruch oder verwaltungsgerichtlicher Klage gegen die Verlustfeststellung
Orientierungshilfe Redakteur v. Tacheles e. V.
1. Der Gesetzesbegründung ist ebenso wenig wie dem Gesetzeswortlaut etwas dafür zu entnehmen, dass der Verlustfeststellung Tatbestandswirkung für die (fehlende) Leistungsberechtigung nach § 7 Abs. 1 S. 1 SGB II schon vor Bestandskraft oder ohne sofortige Vollziehbarkeit zukommen soll. Die Neufassung von § 7 Abs. 1 FreizügG/EU hat vielmehr lediglich zur Folge, dass die Ausreisepflicht nur noch die Wirksamkeit der Feststellung und nicht erst deren Unanfechtbarkeit voraussetzt, was sich in der Tat nur in den Fällen auswirken kann, in denen mangels Widerspruchs oder Klage oder wegen Anordnung der sofortigen Vollziehung keine aufschiebende Wirkung eintritt (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 6. November 2017 – L 8 SO 262/17 B ER ; so im Ergebnis auch etwa LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 28. Mai 2019 – L 8 SO 109/19 B ER ; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 10. Dezember 2018 – L 21 AS 959/18 B ER).
Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de
Rechtstipp:
a. A. vgl. Schleswig-Holsteinisches LSG, Beschluss vom 8. Juli 2021 – L 6 AS 92/21 B ER
1.4 – LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 17.06.2023 – L 18 AS 512/23 B ER
Bürgergeld: Die Behörde muss im Einzelfall auch bei unangemessenen KdU Mietschulden übernehmen
Orientierungshilfe Redakteur v. Tacheles e. V.
1. Eine Schuldenübernahme kann auch bei unangemessenen KdUH in Betracht kommen, solange keine Pflicht zur Kostensenkung besteht, Ein Kostensenkungsverfahren nach § 22 Abs. 1 Satz 7 SGB II ist bislang nicht eingeleitet worden, auch nicht, nachdem der Sohn mit seiner Freundin ausgezogen war.
2. Schuldet die Behörde danach für einen letztlich nicht absehbaren Zeitraum auch weiterhin Leistungen für unangemessene KdUH, so kann er dem Hilfebedürftigen nicht entgegenhalten, die Schuldenübernahme (unangemessener) KdUH sei nicht geeignet, die Unterkunft iSv § 22 Abs. 8 SGB II zu sichern.
Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de
Lesenswert:
Mietschuldendarlehen auch bei unangemessen teurer Unterkunft im Einzelfall möglich, Beitrag von RA Matthias Göbe, Berlin
Bei Mietschulden springen die Jobcenter im Regelfall mit einem Darlehen zum Ausgleich der Mietschulden ein. Dies setzt jedoch voraus, dass die Wohnung mit dem Darlehen langfristig erhalten werden kann.
Dies führt dazu, dass Jobcenter ein Mietschuldendarlehen meist dann ablehnen, wenn die Unterkunftskosten über dem maßgeblichen Angemessenheitsgrenzwert liegen. So urteilte denn auch schon das Bundessozialgericht, dass für die Gewährung eines Mietschuldendarlehens zu fordern ist, dass die laufenden Kosten für die Unterkunft abstrakt angemessen sind (BSG, Urteil vom 17.06.2010 – B 14 AS 58709 R-). Ausnahmen seien jedoch denkbar.
Zwei Ausnahmen in diesem Sinne wurden von der Rechtsprechung bereits anerkannt:
www.anwalt.de
2. Entscheidungen der Sozialgerichte zur Grundsicherung nach dem (SGB II)
2.1 – SG Magdeburg, Urt. v. 16.06.2023 – S 34 AS 3828/16
Leitsatz
Stellt die Rentenversicherung für die Klägerin im Laufe ihrer Klage auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts gegen das beklagte Jobcenter rückwirkend eine dauerhafte volle Erwerbsminderung fest, wechselt die Zuständigkeit bei weiterhin bestehender Hilfebedürftigkeit auf den Sozialhilfeträger.
Abzustellen ist auf den Zeitpunkt der Bedarfslage und nicht auf die bescheidmäßige Feststellung durch die hier ebenfalls beigeladene Rentenversicherung (vgl. BSG, Urteil vom 6. Oktober 2022 – B 8 SO 1/22 R).
Der notwendig beizuladenden Sozialhilfeträger kann nach § 75 Abs. 5 SGG zur Leistung verurteilt werden, wenn der ursprünglich verpflichtete SGB II-Leistungsträger bereits entschieden und der beigeladene Sozialhilfeträger noch nicht über den Anspruch entschieden hat (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 7. Juni 2023 – B 4 AS 4/22 R). Die vormaligen Leistungsbescheide des beklagten Jobcenters sind weder durch das Gericht noch durch den Sozialhilfeträger abzuändern.
Sind bei der Berechnung der Höhe des Leistungsanspruchs Guthaben aus Betriebs- und Heizkostenabrechnungen noch zu berücksichtigen, so erfolgt die Anrechnung nach § 82 Abs. 7 Satz 1 SGB XII (vormals: § 82 Abs. 4 SGB XII) als einmalige Einnahmen. Dabei ist auf den Folgemonat abzustellen, weil die Leistungen, wenn auch nicht durch den verurteilten Sozialhilfeträger, sondern durch das beklagte Jobcenter bereits “…erbracht worden sind…”.
Orientierungssatz
Angelegenheiten der Grundsicherung für Arbeitsuchende – Zur Verurteilung des beigeladenen Sozialhilfeträgers bei Änderung der Trägerschaft durch im Laufe des Klageverfahrens rückwirkende Feststellung der dauerhaften vollen Erwerbsminderung
Quelle: www.landesrecht.sachsen-anhalt.de
2.2 – SG Kiel, Urteil vom 14.03.2023 – S 35 AS 35/22 – Berufung anhängig beim SH LSG, Az. L 6 AS 41/23
Bürgergeld: Mehrbedarf für die Anschaffung einer Waschmaschine
Bezieher von Leistungen nach dem SGB II (Bürgergeld) können gegenüber ihrem Jobcenter einen Anspruch auf Geldleistungen für die Anschaffung einer Waschmaschine haben, wenn ihre bereits vorhandene Waschmaschine kaputt gegangen ist und sich eine Reparatur wirtschaftlich nicht mehr lohnt.
Der Anspruch folgt aus § 21 Abs. 6 SGB II.
weiter: sozialberatung-kiel.de
3. Entscheidungen der Landessozialgerichte und Sozialgerichte zur Sozialhilfe (SGB XII)
3.1 – LSG Bayern, Urt. v. 20.10.2022 – L 8 SO 35/22
Leitsätze
1. Die Nebenkostennachforderung des Vermieters stellt einen Bedarf im Monat der Fälligkeit dar.
2. Leben mehrere Personen zusammen in einer Wohnung, ist der individuelle Unterkunftsbedarf in der Regel nach Kopfteilen zu ermitteln. Dies gilt auch für eine Nebenkostennachforderung des Vermieters.
Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de
3.2 – LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 13.10.2022 – L 23 SO 229/21
Leitsätze
abweichende Festsetzung des Regelsatzes bei anteiliger Bedarfsdeckung
Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de
4. Entscheidungen zum Asylrecht und AsylbLG
4.1 – LSG Bayern, Urt. v. 08.07.2023 – L 8 AY 7/23 – Revision zugelassen
Leitsätze
Eine Anspruchseinschränkung nach § 1a Abs. 7 Satz 1 AsylbLG erfordert ein pflichtwidriges Verhalten. Dieses kann darin liegen, dass betreffende Ausländer nicht ausreist, obwohl er um leistungsrechtliche Konsequenzen seines Verhaltens wusste. Dafür bedarf es einer Belehrung mit Fristsetzung.
Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de
5. Verschiedenes zu Hartz IV, zur Sozialhilfe, zum Asylrecht, Wohngeldrecht und anderen Gesetzesbüchern
5.1 – LSG Hessen, Urteil vom 13.06.2023, Az. L 2 R 61/21
„Unmittelbar vor Beginn“ heißt nicht am Tag zuvor
Versicherte hat Anspruch auf Übergangsgeld während einer Reha-Maßnahme
Während einer stationären Rehabilitation haben Versicherte gegenüber der Deutschen Rentenversicherung Anspruch auf Übergangsgeld. Voraussetzungen ist, dass sie unmittelbar vor Beginn der medizinischen Leistung Arbeitslosengeld oder eine vergleichbare Leistung bezogen haben und Beiträge zur Rentenversicherung gezahlt worden sind. Unmittelbarkeit ist auch dann gegeben, wenn zwischen dem Ende des Bezugs von Arbeitslosengeld und der Bewilligung der Reha-Maßnahme neun Tage liegen.
weiter: www.sozialgerichtsbarkeit.de
5.2 – Sozialgericht Dortmund, Urteil vom 25. April 2023 – S 102 AL 339/21
Sperrzeit nach fristloser Kündigung abgewendet
Das Sozialgericht Dortmund hatte in dieser Sache über eine zwölfwöchige Sperrzeit beim Arbeitslosengeld zu entscheiden. Der Konsum sowie die Weitergabe von Drogen an einen Kollegen während der Arbeitszeit habe zum Verlust des Beschäftigungsverhältnisses geführt, so die Begründung der Agentur für Arbeit. Doch handelte der suchtkranke Mann wirklich schuldhaft?
Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung des BSG liege keine grobe Fahrlässigkeit vor, wenn die Sucht bereits als Krankheit zu beurteilen ist. Dies sei hier der Fall.
weiter: www.dgbrechtsschutz.de
Verfasser des Rechtsprechungstickers: Redakteur von Tacheles Detlef Brock
Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker