1. Entscheidungen des Bundessozialgerichts zur Grundsicherung nach dem (SGB II), zur Sozialhilfe (SGB XII)
1.1 – BSG, Urt. v. 15.02.2023 – B 4 AS 2/22 R
Grundsicherung für Arbeitsuchende – Regelbedarf – gemischte Bedarfsgemeinschaft – Leistungsbezug nach dem Asylbewerberleistungsgesetz
Hat eine volljährige Leistungsberechtigte, die mit ihren Kindern und einem volljährigen Partner in Bedarfsgemeinschaft lebt, der Grundleistungen nach § 3 AsylbLG bezieht, Anspruch auf Leistungen unter Berücksichtigung der Regelbedarfsstufe 1 und des Mehrbedarfs für Alleinerziehende?
Zuweisung der Regelbedarfsstufe 2 rechtens
Orientierungshilfe Redakteur v. Tacheles e. V.
Eine Ehefrau muss den geringeren Sozialleistungssatz für Verheiratete auch dann hinnehmen, wenn ihr Ehemann die bereits niedrigeren Leistungen für Asylbewerber bezieht.
Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de
1.2 – BSG, Urt. v. 08.03.2023 – B 7 AS 7/22 R
Grundsicherung für Arbeitsuchende – Kostenerstattungsanspruch bei Aufenthalt im Frauenhaus – zuständiger kommunaler Träger – bisheriger gewöhnlicher Aufenthaltsort – Zwischenaufenthalt bei Freundin bis zum Freiwerden eines Platzes im Frauenhaus am neuen Aufenthaltsort
Entfällt die Pflicht des für den bisherigen gewöhnlichen Aufenthaltsort zuständigen kommunalen Trägers zur Erstattung der Kosten für einen Aufenthalt im Frauenhaus gemäß § 36a SGB II nicht bereits bei einem tatsächlichen Aufenthalt an einem neuen Ort, sondern erst nach Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts im Sinne des § 30 Absatz 3 Satz 2 SGB I am neuen Aufenthaltsort?
Orientierungshilfe Redakteur v. Tacheles e. V.
1. Der Erstattungsanspruch des Jobcenters Osnabrück gegen das Jobcenter Münster ist dem Grunde nachgegeben. Er folgt aus § 36a SGB II.
2. Die Leistungsberechtigten hatten ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne des § 30 SGB I zunächst in Münster. Dem steht nicht entgegen, dass sie sich bereits dort in einem Frauenhaus aufgehalten hatten. Der weiteren Flucht in ein Frauenhaus nach Osnabrück folgt daher die Erstattungsverpflichtung des Trägers der Herkunftskommune – des Jobcenters Münster.
3. In Anknüpfung an den Gesetzeszweck des “Schutzes des Einrichtungsortes” sowie die bisherige Rechtsprechung zum Sozialhilferecht ist jedoch in Fallkonstellationen wie der vorliegenden eine Ausnahme zu machen. Die “Fluchtkette” ist nicht als unterbrochen anzusehen, wenn der gewöhnliche Aufenthalt in der Absicht begründet worden ist, in das Frauenhaus vor Ort aufgenommen zu werden und nur eine vorübergehende Zeit außerhalb der Einrichtung bis zur Aufnahme zu überbrücken. So liegt der Fall hier.
Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de
1.3 – BSG, Urt. v. 13.07.2023 – B 8 SO 11/22 R
Sozialhilfe – Hilfe bei Krankheit – Unionsbürger – Nothelfer – Kostenerstattung – Behandlung in Notaufnahme
BSG: Mehr Schutz für Ausländer ohne Krankenversicherung
Orientierungshilfe Redakteur v. Tacheles e. V.
Ein Nothelferanspruch nach § 25 SGB XII ist auch dann gegeben, wenn der Hilfebedürftige bei Kenntnis des Sozialhilfeträgers vom Leistungsfall allenfalls Anspruch auf Überbrückungsleistungen nach § 23 Absatz 3 Satz 5 Nummer 3 SGB XII gehabt hätte.
Quelle: www.bsg.bund.de
Hinweis:
Mehr Schutz für Ausländer ohne Krankenversicherung
Ausländerinnen und Ausländer ohne Krankenversicherungsschutz haben im akuten Notfall Anspruch auf medizinische Behandlung auf Kosten des Sozialstaats. Selbst wenn die erkrankte Person kein Aufenthaltsrecht in Deutschland hat, kann sich die behandelnde Klinik die Kosten für die Notfallbehandlung von der Sozialhilfe wieder zurückholen.
Dem nicht versicherten Ausländer stünden Überbrückungsleistungen in Form von Hilfen bei Krankheit zu. Auf die Ausreisebereitschaft des Ausländers komme es hierfür nicht an.
2. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung nach dem (SGB II)
2.1 – LSG NRW, Urt. v. 23.11.2022 – L 12 AS 246/22
Aufwandsentschädigung für Stadtrats- bzw. Kreistagsmitglieder Einkommen?
Keine Berücksichtigung einer Aufwandsentschädigung für Stadtratsmitglieder als Einkommen (Leitsatz Redakteur v. Tacheles e. V.)
Orientierungshilfe Redakteur v. Tacheles e. V.
1. Die gewährten Aufwandsentschädigungen als Mitglied des Stadtrats, als Fraktionsvorsitzende und als Mitglied des Kreistags des Landkreises sind als zweckbestimmte Einnahmen von der Einkommensberücksichtigung ausgenommen (so zu einem Gemeinderatsmitglied Senatsurteil vom 28.04.2021, L 12 SO 25/19; a.A. LSG NRW Beschluss vom 07.09.2021, L 21 AS 1289/21 B).
Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de
2.2 – LSG Berlin-Br., Beschluss v. 21.06.2023 – L 9 AS 526/23 B PKH
Leitsätze
1. Kommt es im Fall behördlicher Aufhebungsentscheidungen auf die subjektive Einsichtsfähigkeit des Bescheidempfängers an, weil das Gesetz zumindest dessen grobe Fahrlässigkeit voraussetzt (vgl. § 45 Abs. 2 Satz 3 Nrn. 2 und 3, § 48 Abs. 1 Satz 2 Nrn. 2 und 4 SGB X), wird das Gericht regelmäßig einen persönlichen Eindruck von diesem gewinnen müssen, um die subjektiven Aufhebungsvoraussetzungen beurteilen zu können. Auch in einem derartigen Fall lassen sich – wie bei der Erforderlichkeit weiterer Ermittlungsmaßnahmen – Erfolgsaussichten i. S. v. § 114 ZPO zumeist nicht verneinen.
2. Prozesskostenhilfe kann jedenfalls dann nicht mit Verweis auf die Zurechnung des Verhaltens eines Bedarfsgemeinschaftsmitglieds nach den Grundsätzen der Duldungs- oder Anscheinsvollmacht abgelehnt werden, wenn Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Prozesskostenhilfe begehrende Person aufgrund von geistigen Beeinträchtigungen nur eingeschränkt sozialrechtlich handlungsfähig ist und den Rechtsschein einer Vollmacht nicht setzen kann.
Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de
2.3 – LSG Berlin-Br., Beschluss v. 05.07.2023 – L 32 AS 142/23 B PKH
Leitsätze
Ob das Leistungsverbot nach § 22 SGB III vor der Einführung von § 5 Abs. 5 SGB II durch das Teilhabestärkungsgesetz vom 2. Juni 2021 (BGBl I 2021, 1387) auf das Einstiegsgeld nach § 16b SGB II anwendbar war, ist nicht abschließend geklärt. Ein Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe darf nicht deshalb abgelehnt werden, weil in der Praxis von einem entgegenstehenden „faktischen“ Leistungsverbot aus § 22 SGB III für Rehabilitanden ausgegangen wurde.
Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de
2.4 – LSG Berlin- Br., Urt. v. 01.06.2023 – L 32 AS 2002/19
Leitsätze
Unter Berücksichtigung der Wertungen aus Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 Abs. 1 EMRK hat der polnische Großvater eines minderjährigen Deutschen ein Recht auf Aufenthalt im Bundesgebiet zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte gemäß § 28 Abs. 4 AufenthG i.V.m. § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG. Er ist damit nicht wegen § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende ausgeschlossen.
Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de
2.5 – LSG Baden-W., Urt. v. 28.06.2023 – L 3 AS 3160/21
Corona Pandemie: Auch ein Vermögen von 54.000 € berechtigt zum ALG II Antrag
Orientierungshilfe Redakteur v. Tacheles e. V.
Das Jobcenter durfte den Antrag auf ALG II wegen erheblichen Vermögens des Antragstellers nicht ablehnen, denn Das Vermögen des Klägers lag unter dem einschlägigen Grenzwert zur Bestimmung erheblichen Vermögens von 60.000 Euro.
weiter zur Pressemitteilung LSG BW:
Wann ist Vermögen erheblich?
3. Entscheidungen der Sozialgerichte zur Grundsicherung nach dem (SGB II)
3.1 – Sozialgericht Halle, Beschluss vom 31. Mai 2023 – S 23 AS 353/22
Leitsatz RA Claudia Zimmermann
Bei fehlender Bekanntgabe eines Verwaltungsaktes kann der Betroffene Anfechtungsklage mit dem Ziel erheben, den Rechtsschein einer wirksamen Regelung zu beseitigen, wenn sich die Behörde auf die Wirksamkeit der Bekanntgabe beruft.
3.2 – Sozialgericht Halle, Beschluss vom 21. April 2023 – S 1 AS 42/23 ER
Leitsatz RA Claudia Zimmermann
Eine Kostenerstattung zugunsten des Antragstellers entspricht der Billigkeit, wenn die Behörde trotz erhobenen Widerspruchs gegen einen Aufrechnungsbescheid die Aufrechnung vollzieht und trotz außergerichtlicher Aufforderung des Antragstellers erst im gerichtlichen Verfahren erklärt, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs zu beachten.
Quelle: RA Claudia Zimmermann
4. Entscheidungen des Sozialgerichts zum Arbeitsförderungsrecht (SGB III)
4.1 – Sozialgericht Halle, Urteil vom 23. November 2022 – S 2 AL 24/21
Leitsatz RA Claudia Zimmermann
1. Zu den Voraussetzungen eines Anspruchs auf Insolvenzgeld im Fall der vollständigen Beendigung der Betriebstätigkeit im Inland, wenn ein Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht gestellt worden ist und ein Insolvenzverfahren offensichtlich mangels Masse nicht in Betracht kommt (§ 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB III).
2. Für die Feststellung der Masselosigkeit muss keine letzte Klarheit über das Vorliegen der insolvenzrechtlichen Voraussetzungen bestehen. Ausreichend ist, wenn für einen unvoreingenommenen Betrachter alle äußeren Tatsachen für die Masseunzulänglichkeit sprechen.
Quelle: www.razimmermann.de
5. Entscheidungen der Landessozialgerichte und Sozialgerichte zur Sozialhilfe (SGB XII)
5.1 – LSG NRW, Urt. v. 22.11.2022 – L 9 SO 429/21 – Revision zugelassen
Orientierungshilfe Redakteur v. Tacheles e. V.
1. Zur Kostensenkungsobliegenheit (§ 35 Absatz 2 Satz 2 SGB XII) von Personen, die selbst nicht in der Lage sind, eine neue Wohnung anzumieten (hier Herzerkrankung nach mehreren überstandenen Herzinfarkten, Arthrose und einer depressiven Episode.).
2. In einer solchen Konstellation, in der die Klägerin selbst keine andere Wohnung anmieten kann, sind die Unterkunftskosten zu übernehmen, bis der Betroffene entsprechende Unterstützung bei der Wohnungssuche tatsächlich erhält (Urteil des Senates vom 08.09.2022 – L 9 SO 281/21).
Rechtstipp: B 8 SO 21/22 R
Vorinstanz:
Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, L 9 SO 281/21, 08.09.2022 (veröffentlicht im Tacheles Rechtsprechungsticker KW 02/2023)
Zur Kostensenkungsobliegenheit (§ 35 Absatz 2 Satz 2 SGB XII) von Personen, die selbst nicht in der Lage sind, eine neue Wohnung anzumieten (hier aufgrund einer psychischen Erkrankung).
Ist eine Ausnahme vom Kopfteilprinzip gerechtfertigt, wenn einer der Bewohner selbst nicht in der Lage ist, eine neue Wohnung anzumieten, und der Sozialhilfeträger deshalb unangemessene Unterkunftskosten zu übernehmen hat?
5.2 – LSG NRW, Beschluss v. 01.02.2023 – L 9 SO 338/22 B ER
Zur Gewährung von Sozialhilfe zur Überwindung einer besonderen Härte (§ 23 Abs. 3 Satz 6 SGB XII) – Bestehen einer besonderen Härte und die Besonderheiten des Einzelfalles lassen eine Leistungserbringung über einen längeren Zeitraum hinaus geboten erscheinen.
Demenzbedingte Transportunfähigkeit kann einen Härtefall iSd § 23 Abs. 3 Satz 6 SGB XII begründen, hier bejaht.
Orientierungshilfe Redakteur v. Tacheles e. V.
1. Kroatische Staatsangehörige ist es nicht zumutbar, auf Leistungen in Kroatien verwiesen zu werden.
2. Überbrückungsleistungen nach § 23 Abs. 3 Satz 6 iVm § 23 Abs. 3 Satz 5 Nr. 1 – 3 SGB XII waren darlehensweise zu erbringen.
6. Entscheidungen zum Asylrecht und AsylbLG
6.1 – Sozialgericht Stuttgart – Beschluss vom 23.06.2023 – Az.: S 11 AY 812/23 ER
Normen: § 3 AsylbLG, § 3a AsylbLG, § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG – Schlagworte: Regelbedarfsstufe 1, Leistungen nach den §§ 3, 3a AsylbLG, Sozialgericht Stuttgart
Orientierungshilfe Redakteur v. Tacheles e. V.
Auch bei Grundleistungen (§ 3a AsylbLG) ist für Alleinstehende Regelbedarfsstufe 1 zu gewähren.
Quelle: RA Sven Adam
7. Verschiedenes zu Hartz IV, zur Sozialhilfe, zum Asylrecht, Wohngeldrecht und anderen Gesetzesbüchern
7.1 – Kürzung Bürgergeld unmittelbar nach dem Zusammenziehen mit dem Partner? Beitrag von RA Matthias Göbe
In meiner Kanzlei erlebe ich häufig, dass die Jobcenter bereits beim erstmaligen Zusammenziehen von zwei Partnern in eine Wohnung von einer Bedarfsgemeinschaft der beiden Personen ausgehen, so dass jeder von ihnen nur noch 90 % der Regelleistung erhält und auch Einkommen und Vermögen wechselseitig angerechnet werden.
Diese Vorgehensweise ist jedoch in den meisten Fällen unzulässig, denn der Gesetzgeber billigt den Partnern quasi ein Jahr Probezeit zu, um herauszufinden, ob man bereit ist, wirklich für den Anderen auch finanziell Verantwortung zu übernehmen.
weiter: www.anwalt.de
Rechtstipp:
beispielhaft: 1. LSG Schleswig-Holstein, Beschluss v. 29.03.2022 – L 3 AS 29/22 B ER, dazu RA Helge Hildebrandt
oder SG München, Urteil v. 18.05.2021 – S 8 AS 2502/19
Zur Frage des Bestehens einer Bedarfsgemeinschaft, hier verneinend.
Leitsatz (Redakteur)
1. Bei Partnern, die kürzer als ein Jahr zusammenwohnen, können nur gewichtige Umstände die Annahme einer Verantwortungs- und Einstandsgemeinschaft begründen (LSG Niedersachsen-Bremen v. 08.07.2009 – L 7 AS 606/09 B ER – FEVS 61, 523; LSG Nordrhein-Westfalen v. 16.02.2009 – L 19 AS 70/08; LSG Nordrhein-Westfalen v. 04.07.2007 – L 19 B 56/07 AS ER – FEVS 59, 128; LSG Berlin-Brandenburg v. 18.01.2006 – L 5 B 1362/05 AS ER).
2. Nicht jede Form der solidarischen, aus freundschaftlicher Verbundenheit geplanter und organisierter Hilfsbereitschaft bei der Kinderbetreuung, um Arbeit und Ausbildung zu ermöglichen (die gerade unter alleinerziehenden Menschen vollkommen unabhängig von Partnerschaften und Wohnformen nicht nur absolut üblich, sondern geradezu conditio sine qua non für die Ausübung eines Berufes bzw. einer Ausbildung ist) bedeutet auch, dass daraus eine gegenseitige „Versorgung“ von Kindern im Sinne des § 7 Abs. 3a Nr. 3 SGB II zu folgern wäre.
Veröffentlicht im Tacheles Rechtsprechungsticker KW 28/2021
Verfasser des Rechtsprechungstickers: Redakteur von Tacheles Detlef Brock
Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker