Sozialgericht Stuttgart – Beschluss vom 01.08.2023 – Az.: S 11 AY 791/23 ER

BESCHLUSS

in dem Verfahren

xxx,

– Antragsteller –

Proz.-Bev.: Rechtsanwalt Sven Adam
Lange-Geismar-Str. 55, 37073 Göttingen

gegen

Landeshauptstadt Stuttgart – Sozialamt –
vertreten durch den Oberbürgermeister
Eberhardstr. 33, 70173 Stuttgart

– Beklagte –

Die 11. Kammer des Sozialgerichts Stuttgart
hat am 01.08.2023 in Stuttgart
durch die Richterin am Sozialgericht xxx

ohne mündliche Verhandlung beschlossen:

Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig und unter dem Vorbehalt der Rückforderung ab dem 08.03.2023 bis zum 31.01.2024, längstens jedoch bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung über die Klage des Antragstellers (Az. S 11 AY 1474/23) Leistungen gemäß § 2 AsylbLG in der Regelbedarfsstufe 1 zu gewähren.

Die Antragsgegnerin trägt die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers.

Dem Antragsteller wird für das einstweilige Rechtsschutzverfahren mit Wirkung ab 30.03.2023 ratenfreie Prozesskostenhilfe gewährt und zur Wahrnehmung seiner Rechte Rechtsanwalt Sven Adam aus Göttingen zu den Bedingungen eines im Gerichtsbezirk des Sozialgerichts Stuttgart ortsansässigen Rechtsanwaltes beigeordnet.

GRÜNDE
I.

Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung von Analogleistungen nach § 2 AsylbLG streitig.

Der am xxx geborene Antragsteller ist kamerunischer Staatsangehöriger und befindet sich seit dem 17.11.2017 in Deutschland. Er ist seit dem 20.11.2018 in einer Gemeinschaftsunterkunft im Sinne von § 53 Abs. 1 des Asylgesetzes untergebracht. Der Antragsteller war bis zum 29.07.2022 im Besitz einer Aufenthaltsgestattung nach § 55 AsylG und ist seit dem 29.08.2022 im Besitz einer Bescheinigung über die Aussetzung der Abschiebung (Duldung) nach § 60b Abs. 1 AufenthG für Personen mit ungeklärter Identität, befristet bis 28.09.2023.

Die Antragsgegnerin gewährte dem Antragsteller mit konkludenten Bescheiden für den Zeitraum ab 01.04.2022 Grundleistungen gemäß §§ 1, 3 AsylbLG i.V.m. § 3a Abs. 1 Nr. 2b und § 3a Abs.2 Nr.2b AsylbLG.

Gegen die konkludenten Bescheide ab dem 01.04.2022 legte der Antragsteller mit Schreiben vom 06.12.2022 Widerspruch ein, den die Antragsgegnerin mit Widerspruchsbescheid vom 20.04.2023 als unbegründet zurückgewiesen hat.

Am 08.03.2023 stellte der Antragsteller den hiesigen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz.

Der Antragsteller meint, dass die Umstellung auf Leistungen nach § 2 AsylbLG zu Unrecht unterblieben sei und er Anspruch auf Leistungen in der Regelbedarfsstufe 1 habe. Die „Wartefrist“ des § 2 Abs. 1 AsylbLG sei bereits lange überschritten und er habe die Dauer seines Aufenthaltes nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst.

Der Antragsteller beantragt,
die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, dem Antragsteller vorläufig und unter dem Vorbehalt der Rückforderung bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung über den Widerspruch des Antragstellers vom 07.07.2023 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 12.06.2023 (Az.: 2630.751191) unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts die beantragten Leistungen in verfassungsgemäßer Höhe in der Regelbedarfsstufe 1 ab Eingang dieses Antrages bei Gericht zu gewähren.

Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzuweisen.

Die Antragsgegnerin trägt vor, dass die Voraussetzung für eine Umstellung auf Leistungen nach § 2 AsylbLG beim Antragsteller nicht gegeben sei. Er sei im Besitz einer Duldung „wegen fehlender Ausweispapiere“ und somit liege ein selbst zu vertretendes Ausreisehindernis vor. Mangels vorliegen gültiger Reisedokumente könnten aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht durchgeführt werden. Ein Anspruch auf Leistungen nach § 2 AsylbLG bestehe daher nicht.

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten und der Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die beigezogene Verwaltungsakte der Antragsgegnerin, die beigezogene Ausländerakte und die Prozessakte Bezug genommen.

II.

Der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz ist zulässig und begründet.

Der einstweilige Rechtschutz richtet sich im Streitfall nach § 86 Absatz 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Danach kann das Gericht der Hauptsache zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn die Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Dies ist der Fall, wenn dem Antragsteller bei summarischer Prüfung ein Anspruch auf die begehrte Leistung zusteht (Anordnungsanspruch) und die Durchsetzung des Anspruchs wegen besonderer Eilbedürftigkeit nicht bis zur Entscheidung in der Hauptsache warten kann (Anordnungsgrund). Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind glaubhaft zu machen (§ 86b Absatz 2 Satz 4 SGG i. V. m. § 920 Absatz 2 Zivilprozessordnung – ZPO). Dabei darf die einstweilige Anordnung mit Rücksicht auf ihren vorläufigen Charakter die endgültige Entscheidung in der Hauptsache grundsätzlich nicht vorwegnehmen (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen vom 26. Januar 2015 – L 7 AS 617/14 B; LSG Sachsen vom 19. Dezember 2016 – L 7 AS 1001/16 B ER; HK- SGG/Binder § 86b Rn. 45).

Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund stehen dabei nicht isoliert nebeneinander; es besteht vielmehr eine Wechselbeziehung der Art, dass die Anforderungen an den Anordnungsanspruch mit zunehmender Eilbedürftigkeit bzw. Schwere des drohenden Nachteils (dem Anordnungsgrund) zu verringern sind und umgekehrt. Ist die Klage in der Hauptsache offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist der Antrag auf einstweilige Anordnung ohne Rücksicht auf den Anordnungsgrund grundsätzlich abzulehnen, weil ein schützenswertes Recht nicht vorhanden ist. Ist die Klage in der Hauptsache dagegen offensichtlich begründet, so vermindern sich die Anforderungen an den Anordnungsgrund. Auch dann kann aber nicht gänzlich auf einen Anordnungsgrund verzichtet werden (LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 15. November 2013 – L 15 AS 365/13 B ER, Rn. 18, juris; Hessisches LSG, Beschluss vom 5. Februar 2007 – L 9 AS 254/06 ER, Rn. 4, juris). Der Erlass einer einstweiligen Anordnung muss vielmehr für die Abwendung wesentlicher Nachteile nötig sein; das heißt es muss eine dringliche Notlage vorliegen, die eine sofortige Entscheidung erfordert. Eine solche Notlage ist bei einer Gefährdung der Existenz oder erheblichen wirtschaftlichen Nachteilen zu bejahen (Keller in: MeyerLadewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl. 2020, § 86b Rn. 29a; Burkiczak in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl., § 86b SGG (Stand: 03.02.2023), Rn. 412).

Nach Überzeugung der Kammer hat der Antragsteller nach summarischer Prüfung einen Anordnungsanspruch auf Analogleistungen nach § 2 AsylbLG i. V. m. dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) glaubhaft gemacht.

Der Antragsteller gehört zum leistungsberechtigten Personenkreis nach dem AsylbLG. Aktuell besteht die Leistungsberechtigung nach § 1 Abs. 1 Nr. 4 AsylbLG (Duldung nach § 60a AufenthG). Als Duldung i.S.d. § 60a AufenthG gilt auch die Duldung des Antragstellers nach § 60b AufenthG. Dies ergibt sich unmittelbar aus dem Gesetz, weil es sich bei dieser Duldung um eine i.S.d. § 60a AufenthG handelt, die mit dem Zusatz „für Personen mit ungeklärter Identität“ versehen (§ 60b Abs. 1 Satz 1 AufenthG) und auch als „Duldung minus“ oder „Duldung light“ bezeichnet wird (vgl. Frerichs in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 3. Aufl., § 1 AsylbLG (Stand: 25.05.2023), Rn. 136)

Der Antragsteller erfüllt auch die Anforderungen für die Analogberechtigung gemäß § 2 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG. Danach sind abweichend von den §§ 3 und 4 sowie 6 bis 7 das Zwölfte Buch Sozialgesetzbuch und Teil 2 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch auf diejenigen Leistungsberechtigten entsprechend anzuwenden, die sich seit 18 Monaten ohne wesentliche Unterbrechung im Bundesgebiet aufhalten und die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben.

Die Voraussetzungen liegen vor. Der Antragsteller hält sich seit dem 17.11.2017 und somit länger als 18 Monate im Bundesgebiet auf.

Nach Überzeugung der Kammer hat er die Dauer seines Aufenthalts auch nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst. Insoweit ist allein der Umstand, dass dem Antragsteller eine Duldung für Personen mit ungeklärter Identität erteilt wurde (konkret: § 60b Abs. 1 AufenthG), zur Begründung einer Rechtsmissbräuchlichkeit nicht ausreichend (vgl. auch Oppermann/Filges in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 3. Aufl., § 2 AsylbLG (Stand: 21.12.2022), Rn. 93). Nach der Rechtsprechung des BSG beinhaltet der Begriff des Rechtsmissbrauchs i. S. v. § 2 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG als vorwerfbares Fehlverhalten sowohl eine objektive – den Missbrauchstatbestand – als auch eine subjektive Komponente – das Verschulden. Dabei setzt der Rechtsmissbrauch in objektiver Hinsicht ein unredliches, von der Rechtsordnung missbilligtes Verhalten voraus. Art, Ausmaß und Folgen der Pflichtverletzung müssen im Anwendungsbereich des § 2 Abs. 1 AsylbLG für den Ausländer so schwer wiegen, dass der Pflichtverletzung vor dem Hintergrund des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ein erhebliches Gewicht zukommt. Rechtsmissbräuchlich ist ein Verhalten danach nur, wenn es unter jeweiliger Berücksichtigung des Einzelfalls, der besonderen Situation eines Ausländers in der Bundesrepublik Deutschland und der besonderen Eigenheiten des AsylbLG unentschuldbar im Sinne von Sozialwidrigkeit ist (vgl. BSG, Urteil vom 24. Juni 2021 – B 7 AY 4/20 R, Rn. 15, juris).

Nach Durchsicht der Ausländerakte ist ersichtlich, dass der Antragsteller mit Schreiben vom 15.08.2022 über die Passpflicht belehrt wurde und Gelegenheit zur Stellungnahme erhielt. Hierbei wurde er insbesondere darauf hingewiesen, dass eine förmliche Passverfügung ergehen könne. Weitere Maßnahmen sind seither offenbar nicht erfolgt, insbesondere ist eine förmliche Passverfügung nicht ergangen. Mithin wurde der Antragsteller von der Ausländerbehörde bisher nicht zu konkreten Mitwirkungshandlungen aufgefordert. Eine allgemeine Belehrung über bestehende Mitwirkungspflichten, ohne konkrete Aufforderung zu einer bestimmten Mitwirkungshandlung unter entsprechender Fristsetzung, ist nach Ansicht der Kammer zur Begründung eines rechtsmissbräuchlichen Verhaltens nicht ausreichend. Vielmehr müsste dem Antragsteller klar und unmissverständlich mitgeteilt werden, welche Mitwirkungshandlungen konkret bis zu welchem Zeitpunkt verlangt werden (vgl. Oppermann/Filges in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 3. Aufl., § 2 AsylbLG (Stand: 21.12.2022), Rn. 89)

Unabhängig davon ist der Ausländerakte auch zu entnehmen, dass beim Antragsteller gesundheitliche Einschränkungen bestehen und er zuletzt einen längeren Klinikaufenthalt hatte. Diesbezüglich ist nicht ersichtlich, dass die Antragsgegnerin bei der Beurteilung des vorwerfbaren Verhaltes die gesundheitliche Situation des Antragstellers sowie ggf. eine zeitweise objektive Unmöglichkeit zur Mitwirkung überhaupt gewürdigt hat. Insoweit liegt jedoch die Darlegungs- und Beweislast sowohl für die subjektive als auch die objektive Komponente grundsätzlich bei der Antragsgegnerin (vgl. Grube/Wahrendorf/Wahrendorf, 6. Aufl. 2018, Rn. 19; BeckOK SozR/Korff, 68. Ed. 1.3.2023, AsylbLG § 2 Rn. 12).

Zusammenfassend sind nach Auffassung der Kammer die gravierenden Folgen eines dauerhaften Leistungsausschlusses von privilegierten Leistungen im vorliegenden Fall nicht zu begründen.

Es besteht auch ein Anordnungsgrund, da ohne den Erlass einer einstweiligen Anordnung das Existenzminimum nicht sichergestellt erscheint; einem Leistungsberechtigten kann unter dem Aspekt der Menschenwürde (Art. 1 GG) regelmäßig nicht zugemutet werden, eine Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten, wenn – wie vorliegend – ein Anspruch auf existenzsichernde Leistungen glaubhaft dargelegt ist (vgl. Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Beschluss vom 15. Juli 2020 – L 9 AY 79/20 B ER, Rn. 37, juris).
Vor dem Hintergrund, dass im Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nur diejenigen Mittel zur Verfügung gestellt werden, die zur Behebung der aktuellen Notlage erforderlich sind, erscheint es allerdings geboten, den Leistungszeitraum bis zum 31.01.2024 zu begrenzen. Für eine längere Verpflichtung besteht derzeit kein Eilbedürfnis, zumal aufenthaltsbeendende Maßnahmen ggf. in Zukunft vollzogen werden könnten (vgl. Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Beschluss vom 15. Juli 2020 – L 9 AY 79/20 B ER, Rn. 38, juris).

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

III.

Der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe ist zulässig und begründet.

Nach § 73a Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) in Verbindung mit den Vorschriften der Zivilprozessordnung (ZPO) über die Prozesskostenhilfe (§§ 114 bis 127 ZPO) ist einem Beteiligten, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen nicht in der Lage ist, die Prozesskosten zu tragen, auf Antrag Prozesskostenhilfe zu bewilligen, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint (§ 114 ZPO).

Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Hinreichende Erfolgsaussichten der Rechtsverfolgung i. S. v. § 73a SGG i. V. m. § 114 ff. ZPO sind nach den obigen Ausführungen zu bejahen.

Die Beiordnung des bevollmächtigten Rechtsanwaltes beruht auf § 121 Abs. 2 ZPO. Ein nicht in dem Bezirk des Prozessgerichts niedergelassener Rechtsanwalt kann gemäß § 121 Abs. 3 ZPO nur beigeordnet werden, wenn dadurch weitere Kosten nicht entstehen. Wird die Beiordnung eines auswärtigen Anwalts beantragt, ist dieser daher zu den Bedingungen eines im Bezirk des Prozessgerichts niedergelassenen Anwalts beizuordnen. Der Beiordnungsantrag enthält für diesen Fall in der Regel ein konkludentes Einverständnis mit der Einschränkung (vgl. etwa BeckOK ZPO/Reichling, 43. Ed. 1.12.2021, ZPO § 121 Rn. 35; MüKoZPO/Wache, 6. Aufl. 2020, ZPO § 121 Rn. 16).

Es folgt die Rechtsmittelbelehrung.