Tacheles Rechtsprechungsticker KW 31/2023

1. Entscheidungen des Bundessozialgerichts zur Sozialhilfe (SGB XII)

1.1 – BSG, Urt. v. 23.03.2023 – B 8 SO 2/22 R

Sozialhilfe – Hilfe zur Pflege – stationäre Einrichtung – notwendiger Lebensunterhalt – Mehrbedarf – Merkzeichen G – weiterer notwendiger Lebensunterhalt

Besteht ein Anspruch auf Auszahlung des Mehrbedarfszuschlags bei Unterbringung in einer stationären Einrichtung?

Leistungsberechtigte in einer stationären Einrichtung können im Einzelfall Anspruch auf Erhöhung des Weiteren notwendigen Lebensunterhalts haben, wie z. Bsp. Unterstützungsleistungen, Mobilitätshilfen (§ 27b Abs 1 Satz 1 SGB XII) – Leitsatz Redakteur v. Tacheles e. V.

Orientierungshilfe Redakteur v. Tacheles e. V.
1. Soweit der Leistungsberechtigte Bedarfe wegen seiner eingeschränkten Gehfähigkeit hat, die außerhalb des institutionellen Angebots liegen, insbesondere bezüglich des soziokulturellen Bereichs, oder die er wegen eines fehlenden Angebots der Einrichtung selbst decken muss, sind hierfür Leistungen des Weiteren notwendigen Lebensunterhalts zu gewähren. Der Leistungsberechtigte ist wegen der Deckung solcher Bedarfe dagegen nicht auf den angemessenen Barbetrag zur persönlichen Verfügung zu verweisen (vgl zu Bedarfen der Mobilität bereits BSG vom 23.3.2021 B 8 SO 16/19 R).

2. Erst wenn im Einzelnen die konkret von der Einrichtung angebotenen Leistungen, die gerade die Bedarfe des Mehrbedarfs bei Zuerkennung des Merkzeichens “G” abdecken sollen (Unterstützungsleistungen, Mobilitätshilfen etc), ermittelt sind, lässt sich entscheiden, ob unter Berücksichtigung des Wunsch- und Wahlrechts der Klägerin mit diesem Angebot der Mehrbedarf vollständig abgedeckt ist.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

2. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung nach dem (SGB II)

2.1 – LSG Hessen, Urt. v. 26.04.2023 – L 6 AS 600/20 – Revision zugelassen

Leitsätze
1. Ein Beigeladener kann in der Berufungsinstanz auf Grund einer sogenannten unechten notwendigen Beiladung (§ 75 Abs. 2 Alt. 2, Abs. 5 SGG) auch dann zur Leistung an den Leistungsberechtigten verurteilt werden, wenn nur der Beklagte gegen seine erstinstanzliche Verurteilung Berufung eingelegt hat.

2. Zur Aufrechterhaltung des Arbeitnehmerstatus nach § 2 Abs. 3 FreizügG/EU während Zeiten der Arbeitsunfähigkeit und des Bezugs von Arbeitslosengeld nach dem SGB III.

3. Zum Anspruch auf Arbeitslosengeld II beim Vorliegen eines anderen materiellen Aufenthaltsrechts als dem zur Arbeitsuche (im konkreten Fall abgelehnt für die sorgeberechtigte Mutter eines Kindes mit Staatsbürgerschaft eines anderen EU-Mitgliedstaats).

4. Der Anspruch auf Überbrückungsleistungen nach § 23 Abs. 3 Satz 3 SGB XII setzt einen Ausreisewillen des Leistungsberechtigten nicht voraus.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

Rechtstipp:
a. A. SG Detmold, 22.06.2023 – S 35 AS 718/21 (EuGH – C-397/23 (anhängig) mit weiterer Rechtsprechung (Tacheles Rechtsprechungsticker KW 27/2023)

Dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) wird nach Art. 267 Abs. 1, Abs. 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) folgende Frage zur Vorabentscheidung vorlegt:

Ist das Unionsrecht dahingehend auszulegen, dass es einer nationalen Regelung entgegensteht, wonach eine Aufenthaltserlaubnis im Rahmen der Personensorge lediglich dem ausländischen Elternteil eines minderjährigen ledigen inländischen Kindes zu erteilen ist, wenn dieses seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat, was zur Folge hat, dass Unionsbürger eines Mitgliedsstaates einen solchen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für die Ausübung der Personensorge bei einem minderjährigen Unionsbürger mit der Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaates als der des Inlandsstaats nicht haben?

2.2 – LSG Hamburg, Urt. v. 04.04.2023 – L 4 AS 203/21

Leitsatz Redakteur v. Tacheles e.V.
Unzulässigkeit einer nachträglichen Antragsrücknahme zur Umwandlung von Einkommen in Vermögen (vgl. BSG, Urt. v. 24.04.2015 – B 4 AS 22/14 R).

Quelle: www.landesrecht-hamburg.de

2.3 – LSG Baden-Württemberg, Beschluss v. 27.03.2023 – L 9 AS 716/23 ER-B

Leitsätze
Die Schriftform der Beschwerde im Sinne von § 173 Abs. 1 Satz 1 SGG setzt grundsätzliche eine eigenhändige Unterschrift voraus. Ausnahmsweise ist sie auch dann gewahrt, wenn sich aus anderen Anhaltspunkten hinreichend sicher eine der Unterschrift vergleichbare Gewähr für den Urheberschaft und den Willen, das Schreiben in den Rechtsverkehr zu bringen, ergibt (vgl. nur BSG, Urteil vom 21.06.2006 – B 13 RJ 5/01 R -, juris Rn. 17). Daran fehlt es im Fall einer per Telefax eingelegten, nicht eigenhändig unterschriebenen, sondern lediglich mit einer gedruckten Namensangabe versehenen Beschwerde, wenn der angebliche Beschwerdeführer bei Vorliegen von Anhaltspunkten dafür, dass diese tatsächlich von einer anderen Person als der angegebenen eingelegt wurde, auch auf mehrmalige gerichtliche Aufforderung, seine Urheberschaft schriftlich klarzustellen, nicht antwortet.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

2.4 – LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 18.04.2023 – L 9 AS 196/21

Leitsätze
Rechtsfolgenbelehrungen, die nicht über die primäre und spezifische Rechtsfolge des § 41a Abs. 3 Sätze 3 und 4 SGB II belehren, sind jedenfalls dann unschädlich, wenn sie die Hinweis- und Warnfunktion einer zutreffenden Belehrung über die primären und spezifischen Rechtsfolgen des § 41a Abs. 3 Sätze 3 und 4 SGB II nicht berühren.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

2.5 – LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 20.06.2023 – L 9 AS 3069/21

Leitsätze
1. Zum pandemiebedingten Mehrbedarf nach § 21 Abs. 6 SGB II (in Form von durch die Regelleistung nicht abgedeckten Aufwendungen für Medizinprodukte, Hygieneartikel, Lebensmittel und sonstige Artikel zur Katastrophenschutzvorsorge)

2. Leistungen für eine Wohnungserstausstattung § 24 Abs. 3 Nr. 1 SGB II können in Form von Pauschalbeträgen gewährt werden, die sich am unteren Segment des Einrichtungsniveaus orientieren dürfen.

3. Ein elektrischer Wäschetrockner gehört nicht zu den Einrichtungsgegenständen und Geräten, die für eine geordnete Haushaltsführung unerlässlich sind. Auch die Gewährung eines Darlehens setzt einen nach den Umständen unabweisbaren Bedarf voraus.

www.sozialgerichtsbarkeit.de

Hinweis:
SG Stuttgart, Beschluss v. 06.05.2020 – S 15 AS 1315/20 ER (nachgehend LSG Baden-Württemberg, kein Datum verfügbar, L 13 AS 3328/20 ER-B, n. v.) – Kein Anspruch auf Wäschetrockner aufgrund Corona-Pandemie

2.6 – LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 20.06.2023 – L 9 AS 2274/22

Leitsätze
1. Die Hundehaltung gehört nicht zu dem vom SGB II zu gewährleistenden Existenzminimum.

2. Das SGB II sieht auch keine Rechtsgrundlage für einen Mehrbedarf wegen Tierhaltung vor. Allein der Umstand, dass die Haltung eines Hundes eine Art sozialer Unterstützung bzw. Familienersatz bieten und für die Aufrechterhaltung einer Tagesstruktur hilfreich sein kann, begründet keinen unabweisbaren, besonderen Bedarf im Sinne des § 21 Abs. 6 SGB II.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

Hinweis:
vgl. zum SGB XII: LSG NRW, Beschluss vom 01.06.2015 – L 12 SO 20/15 NZB – Die Mehrkosten der Haustierhaltung müsse der Leistungsempfänger grundsätzlich selbst tragen. Dies entspreche auch der Rechtsprechung verschiedener Sozialgerichte (Sozialgericht Düsseldorf, Beschluss vom 12.12.2005 – S 35 SO 225/05ER -; Bayerisches Landessozialgericht, Beschluss vom 25.07.2008 – L 8 B 324/08 SO ER -; Sozialgericht Gießen, Beschluss vom 20.3.2009 – S 29 AS 3/09 ER). Die Haltung von Haustieren diene damit nicht der Existenzsicherung, so dass es für die Anwendbarkeit des § 73 SGB XII an einer gesetzlichen Regelungslücke mangele

3. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Grundsicherung nach dem (SGB II)

3.1 – SG Freiburg, Urt. v. 08.03.2023 – S 20 AS 453/22

Voraussetzungen der Übernahme von Mietkosten eines Stellplatzes bzw. einer Garage als Kosten der Unterkunft durch den Grundsicherungsträger

Orientierungssatz
1. Nach dem Urteil des BSG vom 19. 5. 2021 im Verfahren B 14 AS 39/20 R sind Aufwendungen für einen Stellplatz oder eine Garage als Bedarf der Unterkunft nach § 22 SGB 2 anzuerkennen, wenn Wohnung bzw. Stellplatz Bestandteile eines einheitlichen Mietverhältnisses sind, eine Teilkündigung bezogen auf den Stellplatz bzw. die Garage nicht möglich und die Gesamtmiete angemessen ist. (Rn.6)

2. Für die Übernahme der Stellplatzkosten durch den Grundsicherungsträger sind nach dieser Entscheidung Kostensenkungsbemühungen des Leistungsberechtigten nicht erforderlich. (Rn.19)

www.landesrecht-bw.de

4. Entscheidungen der Landessozialgerichte und Sozialgerichte zur Sozialhilfe (SGB XII)

4.1 – SG Ulm, Urt. v. 15.06.2023 – S 13 SO 2090/21

Kein Zahlungsanspruch des Leistungserbringers im sozialhilferechtlichen Dreiecksverhältnis, wenn im privatrechtlichen Erfüllungsverhältnis zwischen Hilfeempfänger und Leistungserbringer kein schriftlicher oder konkludenter Vertrag geschlossen worden ist.

Leitsatz
1. Die Klage eines Hilfeempfängers auf Kostenfreistellung von Kosten eines Leistungserbringers setzt auch im Fall einer medizinisch nicht mehr notwendigen Unterbringung im Krankenhaus voraus, dass der potentielle Sozialhilfeempfänger (hier Kläger zu 1) dem Leistungserbringer (hier Klägerin zu 2) überhaupt ein Entgelt schuldet.

2. Eine nur hilfsweise erhobene Klage (hier der Klägerin zu 2) ist unzulässig.

3. Die Klage der Klägerin zu 2 wäre auch unbegründet, da ein Zahlungsanspruch nach § 75 Abs. 6 SGB XII in der ab 01.01.2020 geltenden Fassung einen (hier wegen anderweitiger Bedarfsdeckung fehlenden) Sozialhilfeanspruch des Hilfebedürftigen voraussetzt, eine analoge Anwendung von § 76 Abs. 1 Satz 2 SGB V mangels Gleichartigkeit der zu regelnden Sachverhalte scheitert, ein Anspruch nach § 75 Abs. 5 SGB XII ebenfalls einen (hier fehlenden) privatrechtlichen Vertrag mit dem Hilfeempfänger voraussetzt und Ansprüche aus Geschäftsführung ohne Auftrag (GoA) oder ungerechtfertigter Bereicherung im SGB XII keine Anwendung finden.

Quelle: www.landesrecht-bw.de

4.2 – LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 14.06.2023 – L 2 SO 1789/22

Rumänischer Staatsangehöriger – Überbrückungsleistungen gemäß § 23 Abs. 3 SGB XII – soziale Schwierigkeiten § 67 SGB XII

Ausländer können auch Hilfen zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten vom Sozialamt erhalten (z. Bsp. Übernahme der Nutzungsentschädigung für die Zurverfügungstellung einer Unterkunft, der Krankenversicherungskosten, die Kostenübernahme der Unterbringung und falls erforderlich Betreuung des Betroffenen in der Einrichtung).

Leitsatz Redakteur v. Tacheles e. V.
Zu den Überbrückungsleistungen gehören auch Leistungen für eine Einrichtung nach § 67 SGB XII.

Orientierungshilfe Redakteur v. Tacheles e. V.
1. Es kommen auch grundsätzlich nach § 23 Abs. 3 Satz 6 SGB XII die Leistungen nach dem 8. Kapitel des SGB XII, also Hilfen zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten in Betracht.

2. Aufgrund der beim Kläger vorliegenden Erkrankungen (Demenzerkrankung, Alkoholabhängigkeit) und seiner Lebenssituation – in verwahrlostem und alkoholisiertem Zustand immer wieder auf der Straße von der Polizei aufgegriffen, als rumänischer Staatsangehöriger mit bestehender Sprachbarriere und fehlendem Hilfenetzwerk in Deutschland, fehlende Möglichkeit, seine Angelegenheiten selbstständig zu regeln – sind die gemäß § 67 SGB XII genannten „sozialen Schwierigkeiten“ im Sinne einer Beeinträchtigung der Interaktion des Klägers mit dem sozialen Umfeld und damit eine relevante Einschränkung der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft gegeben.

3. Als Leistungen zur Überwindung dieser sozialen Schwierigkeiten waren neben der Gewährung eines Tagessatzes, der Übernahme der Nutzungsentschädigung für die Zurverfügungstellung einer Unterkunft und der Krankenversicherungskosten auch die Kostenübernahme der Unterbringung und Betreuung des Klägers in der Einrichtung gegeben.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

5. Entscheidungen zum Asylrecht und AsylbLG

5.1 – LSG Bayern, Urt. v. 31.05.2023 – L 8 AY 136/22 – Revision zugelassen

Leitsätze
Eine Anspruchseinschränkung nach § 1a Abs. 7 Satz 1 AsylbLG erfordert ein pflichtwidriges Verhalten. Dieses kann darin liegen, dass betreffende Ausländer nicht ausreist, obwohl er um leistungsrechtiche Konsequenzen seines Verhaltens wusste. Dafür bedarf es einer Belehrung mit Fristsetzung. Der Ablauf der Überstellungsfrist lässt die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Anspruchseinschränkung nach § 1a Abs. 7 Satz 1 AsylbLG entfallen.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

6. Verschiedenes zu Hartz IV, zur Sozialhilfe, zum Asylrecht, Wohngeldrecht und anderen Gesetzesbüchern

6.1 – Ist Musiktherapie eine Leistung des Eingliederungshilfeträgers?

Dr. Antje Wrackmeyer-Schoene, Richterin am Sozialgericht Dessau-Roßlau

Die Musiktherapie gehört zu den sogenannten künstlerischen Therapien im Gesundheitswesen. Sie kann Bestandteil einer psychotherapeutischen Behandlung oder/und Leistung der Eingliederungshilfe sein.

weiter: www.wolterskluwer.com

Verfasser des Rechtsprechungstickers: Redakteur von Tacheles Detlef Brock
Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker