Tacheles Rechtsprechungsticker KW 01/2024

1. Entscheidungen des Bundessozialgerichts zur Grundsicherung nach dem (SGB II) und zum Arbeitsförderungsrecht (SGB III)

1.1 – BSG, Urt. v. 13.12.2023 – B 7 AS 16/22 R

Grundsicherung für Arbeitsuchende – Einkommensanrechnung – selbständige Tätigkeit – Beiträge zum Versorgungswerk der Rechtsanwälte – gesetzliche Sozialversicherung – Fahrkosten – Betriebsausgabe – Erwerbstätigenfreibetrag

Zur Frage der Absetzung von 100 Euro/Monat übersteigenden Beiträgen zu einer berufsständischen Versorgungseinrichtung, wenn das monatliche Einkommen aus der Erwerbstätigkeit, die Mitgliedschaft und Beitragspflicht zugrunde liegt, nicht mehr als 400 Euro beträgt.

BSG: Rechtsanwältin erstreitet höheres Bürgergeld: Beiträge zum Versorgungswerk der Rechtsanwälte sind abzugsfähig vom Einkommen in analoger Anwendung des § 11b Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 SGB II (Tacheles e. V.)

Leitsatz Redakteur v. Tacheles e. V.
Beiträge zum Versorgungswerk der Rechtsanwälte sind in analoger Anwendung des § 11b Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 SGB II zu berücksichtigen, mithin weder als notwendige Betriebsausgaben unmittelbar vom Einkommen abzusetzen noch als Pflichtbeiträge zur Sozialversicherung.

Orientierungshilfe Redakteur v. Tacheles e. V.
Die Gleichbehandlung von in der gesetzlichen Rentenversicherung pflichtversicherten Selbstständigen und in berufsständischen Versorgungswerken Pflichtversicherten, die nicht der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung unterliegen, gebietet eine Abzugsfähigkeit der Beiträge zum Versorgungswerk in analoger Anwendung des § 11b Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 SGB II.

Quelle: www.bsg.bund.de

Lesetipp v. Tacheles e. V.:
Rechtsanwältin erstreitet höheres Arbeitslosengeld II

weiter auf rsw.beck.de

1.2 – BSG, Urt. v. 14.12.2023 – B 11 AL 2/23 R

Arbeitslosenversicherung – berufliche Weiterbildung – Weiterbildungsprämie – beschäftigte Arbeitnehmerin

1. Ist die Gewährung einer Weiterbildungsprämie nach § 131a Absatz 3 Nummer 2 SGB III auch bei einer nach § 82 SGB III geförderten Weiterbildung möglich?

2. Ist die Gewährung einer Weiterbildungsprämie nach § 131a Absatz 3 Nummer 2 SGB III auch im Fall einer Verkürzung der Ausbildungsdauer auf ein Jahr wegen vorhandener Qualifikationen möglich?

BSG: Ein Anspruch auf eine Weiterbildungsprämie besteht nur beim Abschluss einer Weiterbildung, die aufgrund des § 81 SGB III gefördert worden ist. (Tacheles e. V.)

Orientierungssatz Redakteur v. Tacheles e. V.
1. Die Absolvierung einer – wie im Fall der Klägerin – gemäß § 82 SGB III geförderten Weiterbildung löst hingegen keinen Anspruch auf eine solche Prämie aus.

2. Das Tatbestandsmerkmal der “nach § 81 geförderten beruflichen Weiterbildung“ in § 131a Absatz 3 SGB III alter Fassung (jetzt § 87a Absatz 1 SGB III) bezieht sich auf alle materiellen Fördervoraussetzungen des § 81 SGB III und nicht nur auf das Bildungsgutscheinverfahren. Eine analoge Anwendung des § 131a Absatz 3 SGB III alter Fassung auf nach Maßgabe von § 82 SGB III geförderte Weiterbildungen ist nicht möglich.

Quelle: www.bsg.bund.de

2. Entscheidungen der Landessozialgerichte zum Bürgergeld (SGB II)

2.1 – LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 19.10.2023 – L 20 AS 1199/19

Leitsätze
Die Entscheidung des Sozialgerichts über Verschuldungskosten gegen den (früheren) Verfahrensbevollmächtigten nach § 192 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGG kann al Teil der Kostenentscheidung nur angefochten werden, wenn das Rechtsmittel in der Hauptsache (hier: Berufung) zulässig ist.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

2.2 – LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 10.08.2023 – L 20 AS 694/23 B PKH

Leitsätze
1. Hat das Gericht es zunächst unterlassen, bei Eingang der Berufung die Klägervertreterin darauf hinzuweisen, dass die über das beA als EGVP übermittelte Berufungsschrift nicht mit einer qualifizierten elektronischen Signatur versehen war, kann unter Umständen Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand nach § 67 SGG gewährt werden.

2. Eine Wiedereinsetzung nach § 67 SGG kommt dann nicht in Betracht, wenn auch bei einem umgehend erfolgten Hinweis unmittelbar vor Fristende die Frist nicht gewahrt worden wäre, da die Klägervertreterin aufgrund irriger Rechtsvorstellungen erst nach einem erfolgten Hinweis die Klageschrift mit einer qeS eingereicht hat.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

2.3 – LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 18.10.2023 – L 4 AS 106/20 – Revision zugelassen

Leitsätze
1. Besondere Umstände und eine besondere Härte im Sinne des § 23 Abs. 3 S. 6 SGB XII liegen nur vor, wenn über die mit dem Leistungsschluss typischerweise verbunden Härten hinaus individuelle Besonderheiten hinzutreten. Insbesondere sind Fälle als Härtefall denkbar, in denen eine Ausreise innerhalb eines Monats für einen vorübergehenden Zeitraum nicht möglich oder nicht zumutbar ist.

2. Allein der tatsächliche Aufenthalt im Bundesgebiet oder die Nichtergreifung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen durch die Ausländerbehörde begründen keinen Härtefall im Sinne des § 23 Abs. 3 S. 6 SGB XII.

3. Die Gewährung von Überbrückungsleistungen nach § 23 Abs. 3 S. 3 SGB XII setzt keinen Ausreisewillen voraus.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

Hinweis Tacheles e. V.: a. Auffassung
1. Die Härtefallregelung des § 23 Abs. 3 S. 6 Hs. 2 SGB XII sei verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass allein der tatsächliche Aufenthalt im Bundesgebiet einen Härtefall im Sinne dieser Vorschrift begründe (so wohl: Hessisches LSG, Urteil vom 01.07.2020 – L 4 SO 120/18).

2. Die Voraussetzungen jedenfalls dann erfüllt seien, wenn ein Unionsbürger die Vermutung eines Freizügigkeitsrechts für sich in Anspruch nehmen könne und die Ausländerbehörde aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht ergriffen habe (LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 11.07.2019 – L 15 SO 181/18).

3. Entscheidungen der Sozialgerichte zum Bürgergeld (SGB II)

3.1 – leider keine

4. Entscheidungen der Landessozialgerichte bzw. Sozialgerichte zum Arbeitsförderungsrecht (SGB III)

4.1 – SG Magdeburg, Urt. v. 27.10.2023 – S 47 AL 47/18

Berufliche Eingliederung – Förderung aus dem Vermittlungsbudget – Notwendigkeit – konkrete Beschäftigungsaufnahme – Anwendung der Rechtsprechung zur Mobilitätshilfe – Zusicherung

Kein Zuschuss für Pendelfahrten als Förderung aus dem Vermittlungsbudget anlässlich der Aufnahme eines Arbeitsverhältnisses, wenn die Eingliederung letztlich von der Übernahme der Fahrtkosten – nicht – abhängig gewesen ist, denn der Kläger hatte erst weit über zwei Jahre nach der Beschäftigungsaufnahme die Antragsunterlagen eingereicht (Redakteur v. Tacheles e. V.).

Orientierungssatz Redakteur v. Tacheles e. V.
1. Eine Förderung aus dem Vermittlungsbudget ist jedenfalls nicht bereits dann notwendig, wenn die Förderung lediglich in irgendeiner Weise für die berufliche Eingliederung sachdienlich oder wünschenswert ist (Sächsisches LSG, Urteil vom 19. Mai 2016 – L 3 AL 172/14 –).

2. Vorauszusetzen bleibt zumindest, dass die Förderung kausal für die Integration sein muss, also die Eingliederung nicht, nicht in dieser Weise oder nicht so schnell erreicht worden wäre (SG Magdeburg, Urteil vom 11. November 2015 – S 4 AL 37/12 -).

Lesetipp v. Tacheles e. V.:
Sozialgericht Mannheim, Gerichtsbescheid vom 31. März 2021 (S 17 AL 528/19):

Eine Förderung aus dem Vermittlungsbudget gemäß § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB III für die Finanzierung von Umzugskosten ist ebenfalls vertretbar, wenn eine Bezieherin von Arbeitslosengeld I den Arbeitsvertrag über die Aufnahme einer neuen Beschäftigung an einem zweieinhalb Fahrstunden entfernt liegenden Ort bereits vor einer entsprechenden Antragstellung gegengezeichnet hat.

weiter auf www.dgbrechtsschutz.de

Rechtstipp von Tacheles e. V.:
SG Dortmund, Urteil vom 24. August 2023 – S 91 AS 2584/22 (n. veröffentlicht)

Förderung aus dem Vermittlungsbudget für Pendlerkosten – Ermessen seitens der Behörde fehlerhaft (Ermessensnichtgebrauch) – Höchstgrenze – keine Berücksichtigung des Ausnahmefalls – Behörde muss Erwägungen zur Förderungshöhe schriftlich darlegen

SG Dortmund: Ermessen bei Fahrtkosten aus Vermittlungsbudget

Leitsätze Redakteur v. Tacheles e. V.
1. JobCenter müssen bei der Gewährung von Fahrtkostenbeihilfe – hier Pendlerkosten – aus dem Vermittlungsbudget stets den Einzelfall prüfen und Erwägungen zur Förderungshöhe schriftlich dokumentieren.

2.Fehlendes Ermessen führt dazu, dass der Bescheid rechtswidrig ist und somit dem Arbeitslosem ein höherer Geldbetrag für seine Pendlerkosten zu gewähren war.

Siehe dazu: Wann ist Ermessen (nicht) ausgeübt? Ein Beitrag von Susanne Theobald vom DGB Rechtsschutz

5. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Sozialhilfe (SGB XII)

5.1 – LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss v. 23.08.2023 – L 8 SO 84/23 B ER

Anordnungsanspruch; Anordnungsgrund; Aufenthaltsdauer; Aufenthaltsverfestigung; Erwerbsunfähigkeit; Folgenabwägung; Freizügigkeitsrecht; Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums; Leistungsausschluss für ausländische Staatsangehörige; paranoide Schizophrenie; Rückkehr ins Heimatland (Polen); Überbrückungsleistungen; Überwindung einer besonderen Härte; Verlustfeststellung; Sozialhilfe für Ausländer: Härtefallleistungen nach § 23 Abs 3 S 6 SGB XII bei einer schweren Erkrankung an paranoider Schizophrenie und ungeklärter Behandlungssituation im Heimatland

Amtlicher Leitsatz
1. Im Einzelfall können auf Grund besonderer Umstände zur Überwindung einer besonderen Härte und zur Deckung einer zeitlich befristeten Bedarfslage die beiden Härtefallregelungen nach § 23 Abs 3 S 6 Halbs 1 und 2 SGB XII nebeneinander Anwendung finden (Fortführung von LSG Niedersachsen-Bremen vom 29.11.2018 – L 8 SO 134/18 B ER – juris Rn 26).

2. Die Ausnahme nach § 23 Abs 3 S 7 Halbs 1 SGB XII von den Leistungsausschlüssen nach § 23 Abs 3 S 1 SGB XII kann eingreifen, wenn der Verlust des Freizügigkeitsrechts nach § 2 Abs 1 FreizügG festgestellt wurde, aber gegen die Feststellung Klage erhoben worden ist und dieser aufschiebenden Wirkung zukommt. Der Verlustfeststellung kommt insoweit keine Tatbestandswirkung zu (Festhalten an LSG Niedersachsen-Bremen v. 06.11.2017 – L 8 SO 262/17 B ER – juris Rn 27 ff. und vom 28.05.2019 – L 8 SO 109/19 B ER – juris Rn. 9 m.w.N. – jeweils zur Parallelvorschrift des § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II; vgl. auch BVerfG v. 26.2.2020 – 1 BvL 1/20 – juris Rn. 18).

Quelle: voris.wolterskluwer-online.de

Rechtstipp v. Tacheles e. V.:
anderer Auffassung zum SGB II § 7 Abs. 1 S. 4 Halbs. 2 SGB II: LSG NSB, Urt. v. 27.09.2023 – L 13 AS 412/21 – Revision zugelassen

6. Verschiedenes zum Bürgergeld, zur Sozialhilfe, zum Asylrecht, Wohngeldrecht und anderen Gesetzesbücher

6.1 – Heil will Bürgergeld für Arbeitsverweigerer kürzen

Wer nicht arbeiten gehen will, dem soll zwei Monate lang das Bürgergeld komplett gestrichen werden. Das sieht ein Entwurf von Arbeitsminister Hubertus Heil vor. „Wir werden die Sanktionsmöglichkeiten gegen Totalverweigerer verschärfen“, so der Minister.

Quelle: www.tagesschau.de

Anmerkung:
Na da bekommen die Gerichte aber wieder was zu tun, denn so einfach wie unserer Herr Heil sich das vorstellt, wird es nicht. Wir werden uns dagegen wehren, versprochen! Mit uns wird es keine – Vollsanktionen – geben, meint Tacheles e. V.

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Wir wünschen allen Menschen ein gesundes neues Jahr!

Verfasser des Rechtsprechungstickers: Redakteur von Tacheles Detlef Brock
Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker