URTEIL
S 27 AY 70/21
In dem Rechtsstreit
xxx,
– Kläger –
Prozessbevollmächtigter:
Rechtsanwalt Sven Adam,
Lange Geismarstraße 55, 37073 Göttingen
gegen
Landkreis Göttingen,
vertreten durch den Landrat,
Reinhäuser Landstraße 4, 37083 Göttingen
– Beklagter –
hat die 27. Kammer des Sozialgerichts Hildesheim auf die mündliche Verhandlung vom 6. Februar 2024 durch die Richterin am Sozialgericht xxx sowie die ehrenamtlichen Richterinnen xxx und xxx für Recht erkannt:
Es wird festgestellt, dass die mit Bescheid vom 10. November 2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. März 2021 vorläufig bewilligten Leistungen endgültig bewilligt sind.
Der Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
TATBESTAND
Streitig ist die endgültige Bewilligung von Leistungen nach § 2 AsylbLG im Zeitraum Oktober 2020 bis einschließlich März 2021.
Der Kläger ist libanesischer Staatsangehöriger, er ist nach Ablehnung seines Asylantrages seit dem 7. August 2018 vollziehbar ausreisepflichtig und verfügte im streitbefangenen Zeitraum über eine Duldung aufgrund fehlender Reisedokumente. In vorangegangenen Zeiträumen erhielt er Leistungen nach dem AsylbLG unter Berücksichtigung der Einschränkung nach § 1a Abs. 3 AsylbLG, weil nach Auffassung des Beklagten aus von ihm selbst zu vertretenden Gründen aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden konnten. Aufgrund eines Beschlusses des erkennenden Gerichtes wurde der Beklagte vorläufig, bis zur Entscheidung in der Hauptsache für den Zeitraum 13. März bis einschließlich 30. September 2020 zur Gewährung von Leistungen nach § 2 AsylbLG verpflichtet (Beschluss vom 4. Juni 2020, S 42 AY 73/20 ER).
Daraufhin bewilligte der Beklagte mit Bescheid vom 10. November 2020 dem Kläger für den Zeitraum Oktober 2020 bis einschließlich März 2021 vorläufig Leistungen nach § 2 AsylbLG aufgrund der gerichtlichen Entscheidung vom 4. Juni 2020. Ein hiergegen am 16. November 2020 erhobener Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 16. März 2021 zurückgewiesen.
Hiergegen hat der Kläger mit Schriftsatz vom 8. April 2021, beim Sozialgericht Hildesheim am 10. April 2021 eingegangen Klage erhoben. Er ist der Auffassung einen Anspruch auf Leistungen nach § 2 AsylbLG zu haben, weil er die Gründe für die Nichtvollziehung aufenthaltsbeendender Maßnahmen nicht selbst zu vertreten hat.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid des Beklagten vom 10. November 2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. März 2021 aufzuheben, soweit die Leistungen lediglich vorläufig bewilligt wurden.
Hilfsweise beantragt der Kläger,
den Beklagten zu verurteilen, die Höhe der vorläufig bewilligten Leistungen im Zeitraum Oktober 2020 bis einschließlich März 2021 endgültig zu bewilligen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er ist der Auffassung, dass dem Kläger Leistungen nach § 2 AsylbLG nicht endgültig zustünden. Dies unterliege einer gerichtlichen Klärung. Der Beklagte habe einen Grund für die vorläufige Bewilligung gehabt. Es sei zum Zeitpunkt der Bewilligungsentscheidung nicht klar gewesen, ob der Kläger in der Lage wäre, einen Reisepass seines Heimatstaates zu erhalten.
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE
Die Klage ist als Feststellungsklage nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG statthaft. Danach kann mit der Klage begehrt werden, die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses. Grundlage ist das Begehren des Klägers, die gewährten Leistungen auch endgültig behalten zu dürfen. Hierfür ist bei Vorliegen der Voraussetzungen die bloße Feststellung ausreichend. Das Gericht hat über das Begehr der Klägerseite ohne Bindung an die Anträge zu entscheiden (§ 123 SGG).
Für die vorläufige Bewilligung von Leistungen nach dem AsylbLG existiert keine explizite Rechtsgrundlage, wie beispielsweise nach dem SGB II oder dem SGB XII. Es ist hier daher auf von der Rechtsprechung entwickelte Grundzüge zurückzugreifen. Insofern hat das Bundesverwaltungsgericht in seiner Entscheidung vom 19. November 2009 (3 C 7/09) grundsätzlich die Möglichkeit einer vorläufigen Leistungsgewährung unabhängig einer expliziten gesetzlichen Regelung entwickelt.
Die Behörde darf eine Regelung nicht beliebig nur vorläufig treffen, sondern nur, wenn ihr eine bestehende Ungewissheit hierzu sachlichen Grund gibt. Das ist bei einer tatsächlichen Ungewissheit nur dann der Fall, wenn sie Umstände betrifft, die erst künftig eintreten und die nach dem Gesetz auch nicht im Wege einer Prognose zu schätzen sind (Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 19. November 2009,3 C 7/09, Rn. 21, zitiert nach juris).
Gemessen an diesen Maßstäben ist die Kammer der Überzeugung, dass der Beklagte bei Erlass des streitgegenständlichen Bescheides einen sachlichen Grund für eine vorläufige Leistungsbewilligung hatte. Er konnte zum Zeitpunkt des Erlasses des Verwaltungsaktes nicht wissen, ob der Kläger innerhalb des Bewilligungszeitraumes Reisedokumente wird beschaffen können oder nicht.
Die Behörde darf eine zulässigerweise vorläufig getroffene Regelung aber auch nicht beliebig lange aufrechterhalten (Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 19. November 2009, 3 C 7/09, Rn. 22, zitiert nach juris).
Soweit der Beklagte die vorläufige Regelung auf die Tatsache stützt, dass er nicht wusste und auch nicht im Rahmen einer Prognoseentscheidung abzuschätzen vermochte, ob der Kläger im Bewilligungszeitraum Reisedokumente wird beschaffen können, war er nach Ablauf des Bewilligungszeitraumes eindeutig in der Lage diese Ungewissheit beurteilen zu können. Nach Ablauf des Bewilligungszeitraumes stand der Sachverhalt unabänderbar fest und der Beklagte hätte eine endgültige Entscheidung nach Maßgabe dieses Sachverhaltes treffen können. Dies hat er mehr als zwei Jahre nach Ablauf des Bewilligungszeitraumes nicht getan. Nach dieser Zeit ist eine endgültige Entscheidung durch den Beklagten nicht mehr zutreffen, weil spätestens nach einem Zeitraum von zwei Jahren die vorläufig bewilligten Leistungen als endgültig anzusehen sind. Vor allem im Bereich existenzsichernder Leistungen haben Leistungsberechtigte ein Interesse an einer endgültigen Klärung eines vorläufigen Sachverhaltes. Insbesondere ohne Vorliegen einer gesetzlichen Grundlage für eine vorläufige Leistungsbewilligung müssen daher auch Grundzüge gelten, wie lange eine solche Regelung vorläufig verbleiben kann. In Anlehnung an bestehende Regelungen könnte hier ein Zeitraum von einem Jahr für eine Fiktionswirkung angenommen werden. Spätestens jedoch nach Ablauf von zwei Jahren nach dem Ende des Bewilligungszeitraumes muss die den Verwaltungsakt erlassene Behörde im Sinne einer endgültigen Bewilligung tätig werden. Dies stellt zur Überzeugung der Kammer einen ausreichend langen Zeitraum einen abgeschlossenen, nicht mehr abänderbaren Sachverhalt zu bewerten und einen entsprechenden endgültigen Bescheid zu erlassen. Die Fiktionswirkung tritt dabei unabhängig davon ein, ob die vorläufige Bewilligung bestandskräftig geworden ist, oder nicht (BSG, Urteil vom 18. Mai 2022, B 7/14 AS 1/21 R, Rn. 15 ff, zitiert nach juris).
Sofern der Beklagte die Vorläufigkeit auch über einen solchen Zeitraum aufrechterhalten wollte, handelt es sich nicht mehr um einen sachlichen Grund für die Vorläufigkeit, weil es dann ausschließlich von der rechtlichen Bewertung des Sachverhaltes abhängt. Der Beklagte ist jedoch als Behörde gehalten, eine eigenständige Bewertung der Sachlage zu treffen und diese Aufgabe nicht auf das Gericht zu übertragen. Eine rechtliche Neubeurteilung eines grundsätzlich von Anfang an feststehenden Sachverhalt ist bei einer vorläufigen Leistungsbewilligung nicht möglich (vergleiche Tatbestand des Beschlusses des Bundesverwaltungsgerichts vom 15. Januar 2016, 10 B 16/15, veröffentlicht in juris).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG und orientiert sich am Ausgang des Verfahrens.
Es folgt die Rechtsmittelbelehrung.