URTEIL
In dem Rechtsstreit
xxx,
Kläger,
Prozessbevollm.:
Rechtsanwalt Sven Adam
Lange-Geismar-Straße 55, 37073 Göttingen,
gegen
Stadt Kassel,
vertreten durch den Magistrat,
Rechtsamt,
Rathaus, 34117 Kassel,
Beklagte,
hat die 12. Kammer des Sozialgerichts Kassel auf die mündliche Verhandlung vom 29. Februar 2024 durch die Vorsitzende, Richterin am Sozialgericht xxx, sowie die ehrenamtlichen Richter xxx und xxx, für Recht erkannt:
Die Beklagte wird unter Abänderung der Kostenentscheidung des Widerspruchsbescheides vom 09.04.2021 verurteilt, dem Kläger die notwendigen Aufwendungen für das Vorverfahren gegen den Bescheid vom 05.05.2020 in voller Höhe zu erstatten.
Die Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
TATBESTAND
Die Beteiligten streiten über die Erstattung der Kosten eines wegen Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) für den Monat Mai 2020 geführten Widerspruchsverfahrens. Ein unter dem Aktenzeichen S 12 AY 20/21 (juris) geführtes Parallelverfahren betraf ein auf den Monat April 2020 bezogenes Widerspruchsverfahren.
Der am xxx geborene Kläger ist afghanischer Staatsangehöriger und stand im laufenden Bezug von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) bei der Beklagten.
Mit Bescheid vom 05.05.2020 bewilligte die Beklagte dem Kläger für den Monat Mai 2020 Leistungen nach § 2 AsylbLG in Höhe von insgesamt 617,00 Euro. Dabei wurde der Regelbedarf in Höhe der Bedarfsstufe 1 (432,00 Euro) sowie die Unterkunftskosten in Höhe von 428,00 Euro (Grundmiete: 333,00 Euro, Betriebskosten: 60,00 Euro, Heizkosten: 35,00 Euro) sowie bedarfsmindernd eine vertragliche Vergütung aus einer Einstiegsqualifizierung i. H. v. 243,00 Euro berücksichtigt.
Mit Schreiben seines Bevollmächtigten vom 28.05.2020 legte der Kläger Widerspruch gegen den Bescheid vom 05.05.2020 ein. Der Widerspruch wurde nicht begründet. Gleichzeitig beantragte der Prozessbevollmächtigte Akteneinsicht in die paginierte Verwaltungsakte durch Übersendung an seine Kanzleiadresse. Der Antrag beziehe sich explizit auch auf Ausdrucke der EDV-Dokumentation zur Akte. Die umgehende Rückgabe der Akte wurde versichert.
Mit Schreiben vom 17.06.2020 bot die Beklagte dem Prozessbevollmächtigen die Akteneinsicht in den Räumen der aktenführenden Stelle an. Eine Aktenübersendung sei nicht möglich. § 84 Sozialgerichtsgesetz (SGG) i.V.m. § 25 Abs. 4 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) scheide insofern aus, da hiernach nur § 25 Abs. 4 SGB X keine Anwendung finde, jedoch nicht die gesetzliche Regelung des § 29 Abs. 3 VwVfG außer Kraft gesetzt werde. Zudem sei derzeit eine gesicherte schnelle Übersendung und Rücksendung der Originalakte wegen der Auswirkungen der Covid-19-Pandemie nicht gewährleistet. Dies schließe die Versendung an andere Behörden derzeit ebenfalls aus.
Mit Schreiben vom 22.06.2020 erklärte der Prozessbevollmächtigte, dass eine Akteneinsicht in der Behörde unzumutbar sei. Eine Aktenübersendung sei auch mittels elektronischen Rechtsverkehrs möglich. Für den Fall, dass die Beklagte die Akte weiter nicht an ihn übersenden wolle, bat er um eine rechtsmittelfähige Entscheidung.
Mit Widerspruchsbescheid vom 09.04.2021 verpflichtete das Regierungspräsidium Kassel die Beklagte, das Einkommen des Klägers im Mai 2020 gemäß § 2 AsylbLG i.V.m. § 82 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) zu bereinigen und eine entsprechende Nachzahlung an ihn zu leisten. Im Übrigen wurde der Widerspruch zurückgewiesen. In der Kostenentscheidung wurde die Beklagte verpflichtet, dem Kläger die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen zu 20/100 zu erstatten. Die Zuziehung eines Bevollmächtigten wurde als notwendig erklärt.
Am 17.04.2021 hat der Kläger, vertreten durch seinen Prozessbevollmächtigten Klage erhoben und zunächst beantragt, die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 05.05.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.04.2021 zu verurteilen, dem Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts die beantragten Leistungen im Zeitraum 01.05.2020 bis 31.05.2020 in gesetzlicher Höhe zu gewähren.
Mit Schreiben vom 18.05.2021 hat die Beklagte dem Prozessbevollmächtigten des Klägers mitgeteilt, dass sie im Rahmen der Teilabhilfe nachzuzahlenden Leistungen am 17.05.2021 in Höhe von 109,10 Euro für den Monat Mai an den Kläger überwiesen worden sei. Beigefügt war ein entsprechender Berechnungsbogen wonach von dem Einkommen in Höhe von 243,00 Euro ein Freibetrag bei allg. Erwerbstätigkeit in Höhe von 72,90 Euro, Fahrtkosten in Höhe von 31,00 Euro und Arbeitsmittel in Höhe von 5,20 Euro einkommensmindernd berücksichtigt worden sind.
Nach Aktenübersendung durch die Beklagte hat das Gericht dem Prozessbevollmächtigten sodann am 26.05.2021 in dem hiesigen Verfahren sowie in dem Parallelverfahren S 12 AY 20/21 Einsicht in die Verwaltungsakte des Beklagten gewährt.
Mit Schriftsatz vom 10.06.2021 hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers sodann die Klage begründet und den Klageantrag auf die Kostenentscheidung im Widerspruchsbescheid vom 09.04.2021 beschränkt.
Zur Begründung der Klage wird u.a. vorgetragen, dass die Beklagte im Vorverfahren die Akteneinsicht verweigert habe, obgleich die Akteneinsicht in den Räumlichkeiten der Beklagten unzumutbar gewesen sei und auch die elektronische Entgegennahme der Akte angeboten worden sei. Der Widerspruch hätte – wenn die Akteneinsicht bewilligt worden wäre – begründet werden können. Dies sei vereitelt worden und stattdessen ein Widerspruchsbescheid erlassen worden. Die Beklagte müsse mit Blick auf den Akteneinsichtsantrag im Vorverfahren eine Ermessensentscheidung über die Art der Gewährung der Akteneinsicht treffen. Im Rahmen der zu treffenden Ermessensentscheidung nach § 29 Abs. 3 Satz 2 2.HS Hessisches Verwaltungsverfahrensgesetz (HVwVfG) sei zu berücksichtigen, dass der Prozessbevollmächtigte nach § 29 Bundesrechtsanwaltsordnung (BRA-O) ein unabhängiges Organ der Rechtspflege sei und ohne Anzeichen von Unzuverlässigkeit die Entscheidung über die Versendung der Akte an die Büroanschrift des Prozessbevollmächtigten identisch zu beurteilen sei, wie bei der Frage der Übersendung der Akten an Gerichte. Die Beklagte habe hinsichtlich der Akteneinsicht keine ermessensfehlerfreie Entscheidung getroffen. Sie habe Ermessen nicht einmal ausgeübt.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Abänderung der Kostenentscheidung in dem Widerspruchsbescheid vom 09.04.2021 zu verurteilen, dem Kläger die notwendigen Auslagen für das Vorverfahren gegen den Bescheid vom 05.05.2020 in voller Höhe zu erstatten.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung trägt die Beklagte u.a. vor, dass sich die Kostenentscheidung im Widerspruchsbescheid korrekt am Erfolg des Widerspruchsverfahrens selbst bemesse. Zu welchem anderen Erfolg eine Akteneinsicht geführt hätte, erschließe sich nicht, zumal der Kläger nun mit der Sachentscheidung der Beklagten vom 05.05.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.04.2021 einverstanden sei. Mit Schriftsatz vom 09.06.2021 habe der anwaltlich vertretene Kläger seine Klage auf volle Kostenerstattung im Vorverfahren (§ 80 Abs. 1 Satz 1 HVwVfG) beschränkt. Die Sachentscheidung, d.h. der Tenor zu 1), im Teilabhilfebescheid vom 09.04.2021, sei damit in Bestandskraft erwachsen. Für den Mai 2020 habe der Kläger daher bereits im Mai 2021 eine Nachzahlung in Höhe von 109,10 Euro bei einem ursprünglichen Leistungsanspruch von 617,00 Euro im angefochtenen Bescheid vom 05.05.2020 entspreche der Erfolg des Widerspruchs somit 17,68 %, weshalb die Rundung der Widerspruchsbehörde auf 20/100 im Tenor zu 2) des Abhilfebescheides vom 09.04.2021 überhaupt nicht zu beanstanden sei. Hier sei auf § 56a Satz 1 SGG und auf den Wortlaut des § 80 Abs. 1 Satz 1 und 2 HVwVfG zu verweisen, der nicht als „Sanktionsnorm“ o.ä. fungiere, sondern die Erstattungspflicht eindeutig und ausschließlich an die Erfolgsquote des Rechtsbehelfs knüpfe. Was die gewährte, aber nicht genommene Akteneinsicht im Widerspruchsverfahren daran ändern solle, erschließe sich nicht. Es fehle jeder kausale Zusammenhang. Dies umso mehr, wenn dann noch die Sachentscheidung und damit die Erfolgsquote durch eine Klagebeschränkung wie hier diejenige vom 09.06.2021 akzeptiert werde. Hinsichtlich der angeblich verweigerten bzw. vereitelten Akteneinsicht sei anzumerken, dass es dem Prozessbevollmächtigten aus Göttingen im Rahmen seiner standesrechtlichen Grundobliegenheiten zur gründlichen und vollständigen Sachverhaltsermittlung durchaus freigestanden habe, in den Räumen des Sozialamtes der Beklagten Akteneinsicht in die jeweiligen Akten seiner Mandantschaft zu nehmen. Solange er aber keine besonderen Hinweise glaubhaft mache, stehe ihm kein Anspruch auf (digitale) Aktenübersendung zu. Das ergebe sich aus § 29 HVwVfG, weil das SGB X aufgrund der abschließenden Regelung von § 9 Abs. 4 AsylbLG außer in den dort genannten Fällen nicht anwendbar sei. Auf § 84 SGG und die Doppelnatur des Widerspruchs- bzw. Vorverfahrens komme es daher nicht an. Unabhängig davon, dass das Sozialamt der Beklagten mittlerweile zur Vermeidung weiterer Komplikationen bei der eigenen Aktenführung anlässlich der Vielzahl der von dem Prozessbevollmächtigten angestrengten Verfahren, insbesondere der unübersichtlichen Retente im Sozialamt und bei dem Regierungspräsidium Kassel, dazu bereit sei, dem Prozessbevollmächtigten die Akten zu übersenden, erfolge die Akteneinsicht nach § 29 Abs. 3 Satz 1 HVwVfG deshalb grundlegend in den Behördenräumlichkeiten. Nur bei Glaubhaftmachung von Hindernissen, die auch einer vorrangigen Akteneinsicht in den Räumlichkeiten anderer Behörden, z.B. in Göttingen, entgegenstehen würden, bestünde ein Ermessensanspruch des Prozessbevollmächtigten zur Akteneinsicht durch (digitale) Aktenübersendung. Die bloße Behauptung, eine Akteneinsicht in den Räumlichkeiten der Beklagten sei unzumutbar, biete in keinem Fall Anlass oder Grundlage einer Ausnahmeentscheidung nach § 29 Abs. 3 Satz 2 HVwVfG. Unzumutbarkeit sei von dem Prozessbevollmächtigten weder ansatzweise noch konkret dargetan und liege auch nicht irgendwie nahe. Hinsichtlich der nach § 29 HVwVfG zu treffenden Ermessensentscheidung werde auf das Urteil des BSG vom 29.09.1990 – 9b/7 Rar 30/89, Rn. 14, verwiesen. Allgemein könne Ermessen auch in ständiger Rechtsprechung des BVerfG denknotwendigerweise nur dann ausgeübt werden, wenn der Betroffene ermessenslenkende Tatsachen mitteile, die gegen die gesetzgeberische Grundwertung abgewogen werden könnten. Fehle solcher Vortrag, bleibe es bei beim gesetzlichen Regelfall. Regelfall der Akteneinsicht sei, dass sie gemäß § 29 Abs. 3 Satz 1 HVwVfG bei der aktenführenden Behörde erfolge. Von diesem Grundsatz könne ausnahmsweise – und damit eng und restriktiv auszulegen – nach § 29 Abs. 3 Satz 2 HVwVfG abgewichen werden. D.h. die Darlegungs- und Beweislast für besondere Umstände des Einzelfalls liege bei dem Beteiligten, der die Akteneinsicht begehre und sie daher besonders rechtsfertigen müsse, nicht bei der Behörde. Die sei ständige Übung im Verwaltungsprozessrecht, wohingegen die Entscheidungsgründe im Urteil zu dem Parallelverfahren S 12 AY 20/21 (juris) sowohl das Regel-Ausnahme-Verhältnis als auch die Darlegungs- und Beweislast geradezu auf den Kopf stelle. Weder im Parallelverfahren noch hier habe der Prozessbevollmächtigte irgendwelche besonderen Gründe vorgetragen, warum ihm eine Akteneinsicht in den Räumlichkeiten des Sozialamtes nicht möglich oder unzumutbar gewesen sollte. Im Parallelverfahren entbehre die Annahme einer Ermessensreduzierung auf Null daher der erforderlichen Rechts- und Tatsachengrundlage. Da die Kammer ausweislich der Entscheidungsgründe des Urteils im Parallelverfahren besondere Umstände, die einer Aktenübersendung im Weg gestanden hätten, für „nicht erkennbar“ gehalten habe, seien, ungeachtet des Regel-Ausnahme-Verhältnisses bzw. der Darlegungs- und Beweislast bei § 29 Abs. 3 HVwVfG, doch noch einmal die besonderen Umstände vor Augen zu halten, die zur Zeit des Akteneinsichtsgesuchs vom 28.05.2020 und der Bewilligung der Akteneinsicht in den Räumlichkeiten der Beklagten vom 17.06.2020 geherrscht hätten. Mitte März 2020 sei es pandemiebedingt – durch innerdienstliche Regelungen auch bei der Beklagten –zum sog. lock down gekommen. Bis 2021 seien aus der regulären Sachbearbeitung des sog. nicht-versorgungskritischen Bereichs Personalkapazitäten für die Covid-19-Kontaktpersonenverfolgung abgezogen, Teile aus Gründen des Eigen- und Fremdinfektionsschutzes in das sog. Homeoffice geschickt und die Bearbeitung der laufenden Geschäfte in den Amtsräumen auf das Unerlässliche beschränkt worden. Jedes andere Handeln hätte u.a. gegen Organisationspflichten verstoßen, zumal das Virus zu der Zeit kaum erforscht gewesen sei, Inzidenzen und Todesfälle gestiegen seien, die Impfkampagne erst ca. ein Jahr später gestartet sei und an sich zeitweise mit selbstgenähten Hand-Mund-Nase-Bedeckungen beholfen habe. Im Frühjahr/ Sommer 2020/2021 habe das Sozialamt deshalb priorisiert gearbeitet. Die eAkten seien überorbligatorisch erst im Zuge des Dienststellenwechsels aus der Holländischen Straße ins Rathaus zum Jahreswechsel 2021/2022 eingeführt worden. Wäre das Sozialamt dem Wunsch des Bevollmächtigten gefolgt und hätte seinerseits eine Kopie oder eine eAkte übersandt, hätten die ausgedünnten Personalkapazitäten es erfordert, dass ein Mitarbeiter aus dem priorisierten Präsenzbetrieb für die nicht unerhebliche Dauer des Kopier- bzw. Scanvorgangs der zu dieser Zeit 190 blattstarken Akte und des damit zusammenhängenden Schriftwechsels, priorisierte Arbeit aus einem Leistungsfall hätte liegen lassen müssen. Die Originalakte hätte nicht außer Haus gegeben werden können, da sich der Aktenbestand für die geordnete Aktenbearbeitung von Schriftwechsel durch das wechselnde Personal im Homeoffice generell im Amt habe befinde müssen. Demgegenüber habe der Bevollmächtigte, so wies andere Bevollmächtigte in jener Zeit getan hätten, bei einer Akteneinsicht im Sozialamt unter Einhaltung der Abstands- und Kontaktvorschriften in einem belüfteten Raum separiert werden können. Einen besonderen Infektionsschutzbedarf habe der Bevollmächtigte weder vorgetragen, noch belegt. Besonderen Personal- und Verwaltungsaufwand hätte die Einsicht vor Ort anders als die Vorbereitung und Durchführung der Aktenübersendung nicht ausgelöst. Dass der Bevollmächtigte aus Göttingen hätte anreisen müssen, möge unbequem erscheinen, bleibe aber unbeachtlich. Der Kläger hätte ja auch einfach einen ortsansässigen Rechtsanwalt mandatieren können. Zwar habe das Sozialamt in dem Ausgangsbescheid darum gebeten, wegen der Corona-Pandemie auf persönlichen Vorsprachen zu verzichten. Zum einen handele es sich bei einer Akteneinsicht aber nicht um eine persönliche Vorsprache. Zum anderen weise der Textbaustein auch darauf hin, dass die Betroffenen weiterhin Gelegenheit, zu den Geschäftszeiten telefonisch einen Präsenztermin zu vereinbaren und dann wahrzunehmen. Es entspreche nicht den Tatsachen, dass die Beklagte dem Bevollmächtigten die Aktenübersendung im Vorverfahren unbillig verweigert habe. Der Hinweis vom 17.06.2020 auf den möglicherweise verzögerten Versandprozess sei erkennbar ergänzend gemeint gewesen („Zudem ist derzeit…“). Die Annahme einer gebundenen Entscheidung überspiele sowohl den Wortlaut als auch die Wertung des § 29 Abs. 3 HVwVfG und lasse sich bei den praktischen Abläufen in der Corona-Hochphase keinesfalls rechtfertigen. An dem für die streitentscheidende Quotelung nach § 80 Abs. 1 HVwVfG maßgeblichen Rechtsmittelerfolgs hätte die Form der dem Grunde nach gewährter Akteneinsicht ohnehin nichts geändert.
Wegen der weiteren Einzelheiten und Unterlagen und wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen, die Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE
Die Zuständigkeit des Sozialgerichts ergibt sich aus § 51 Abs. 1 Nr. 6 SGG. Streitigkeiten um die Kosten des Widerspruchsverfahrens folgen der Rechtswegzuständigkeit in der Sache. In Angelegenheiten des AsylbLG entscheiden auch insoweit die Sozialgerichte, § 51 Abs. 1 Nr. 6 SGG (vgl. Flint in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl., § 51 SGG (Stand: 10.03.2023), Rn. 345).
Die Klage hat Erfolg. Sie ist zulässig und begründet. Die Kostenentscheidung des Widerspruchsbescheides vom 09.04.2021 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.
Die Widerspruchsbehörde hat die Kostenentscheidung des Widerspruchsbescheides vom 09.04.2021 zwar auf eine entsprechende Anwendung des § 63 SGB X gestützt. Rechtsgrundlage dürfte jedoch § 80 Abs. 1 Satz 1 HVwVfG sein, denn das AsylbLG gilt nicht als besonderer Teil des SGB (vgl. § 68 Sozialgesetzbuch Erstes Buch), mit der Folge, dass die Verwaltungsverfahrensgesetze der Länder auf das Verwaltungsverfahren nach dem AsylbLG Anwendung finden, sofern § 9 Abs. 3 AsylbLG nicht ausdrücklich eine entsprechende Anwendung bestimmter Vorschriften des SGB X vorsieht. Einen Verweis auf § 63 SGB X enthält § 9 Abs. 3 AsylbLG jedoch nicht (LSG Nordrhein-Westfahlen, Beschluss vom 01.04.2014 – L 20 AY 70/13 B, juris, Rn. 20, m.w.N.)
Nach § 80 Abs. 1 Satz 1 HVwVfG hat der Rechtsträger, dessen Behörde den angefochtenen Verwaltungsakt erlassen hat, demjenigen, der Widerspruch erhoben hat, die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen zu erstatten, soweit der Widerspruch erfolgreich ist. Die Vorschrift entspricht vom Wortlaut des § 63 Abs. 1 Satz 1 SGB X.
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Widerspruchsbehörde dem Widerspruch des Klägers gegen den Bescheid vom 05.05.2020 vollständig oder teilweise abgeholfen hat. Dies erfordert eine Auslegung des mit der Einlegung des Widerspruchs verfolgten Begehren des Widerspruchsführers (BeckOK VwVfG/Kunze, 58. Ed. 1.1.2023, VwVfG § 80 Rn. 26). Ist dem Widerspruchsschreiben nicht klar zu entnehmen, inwieweit der Widerspruchsführer eine Aufhebung des angefochtenen Verwaltungsakts oder weitere Leistungen und Feststellungen begehrt hat, ist zunächst zu versuchen, dies durch Auslegung zu ermitteln. Ist hierdurch keine Klarheit zu gewinnen, ist – soweit erforderlich – von Amts wegen des ursprünglichen Umfangs des Widerspruchbegehrens zu ermitteln (zu § 63 Abs. 1 Satz 1 SGB X: BSG vom 12.06.2013 – B 14 AS 68/12 R, juris Rn.24). Teilweise wird vertreten, dass bei Erfolglosigkeit der Auslegung und der Ermittlungen von einem vollen Erfolg des Widerspruchs auszugehen sei (Becker, in: Hauck/Noftz SGB X, § 63 Erstattung von Kosten im Vorverfahren, Rn. 36).
Vorliegend wurde der Widerspruch nicht begründet, so dass es (entsprechend der Vorgehensweise der Widerspruchsbehörde) zunächst zwar naheliegend erscheint, davon auszugehen, dass der Kläger eine vollumfängliche Prüfung des Ausgangsbescheides begehrte. Allerdings darf nach Auffassung der Kammer im vorliegend zu entscheidenden Fall das Akteneinsichtsgesuch des Prozessbevollmächtigten bei der Ermittlung des Umfangs des Widerspruchsbegehrens nicht unberücksichtigt bleiben.
Zur Überzeugung der Kammer hat die Beklagte mit dem Schreiben vom 17.06.2020 die Übersendung der Akten an den Bevollmächtigten im Rahmen des Akteneinsichtsgesuchs ermessensfehlerhaft abgelehnt. Unter Berücksichtigung des Verfahrensfehlers im Rahmen des Akteneinsichtsgesuchs geht die Kammer vorliegend davon aus, dass der Widerspruch auf die von der Widerspruchsbehörde vorgenommene Korrektur beschränkt und somit vollumfänglich erfolgreich war.
Nach § 29 Abs. 1 Satz 1 HVwVfG hat die Behörde den Beteiligten Einsicht in die das Verfahren betreffenden Akten zu gestatten, soweit deren Kenntnis zur Geltendmachung oder Verteidigung ihrer rechtlichen Interessen erforderlich ist. Vorliegend stellt die Beklage das Akteneinsichtsrecht des Klägers bzw. seines Bevollmächtigten nicht in Frage und hat im Widerspruchsverfahren die Bereitschaft zur Akteneinsichtnahme erklärt. § 29 Abs. 3 HVwVfG regelt die Frage, wo die Akteinsicht in Papierakten zu erfolgen hat. Grundsätzlich wird diese bei der aktenführenden Behörde vorgenommen. Gemäß § 29 Abs. 3 Satz 2 HS. 2 HVwVfG sind Ausnahmen hinsichtlich des Orts der Akteneinsicht nach pflichtgemäßem Ermessen der Behörde möglich. Im Unterschied zur Regelung der Akteneinsicht im gerichtlichen Verfahren (vgl. § 120 Abs. 3 Satz 3 SGG) hat der Gesetzgeber eine Möglichkeit zur Aktenmitnahme bzw. zur Übersendung an eine bevollmächtige Person nicht ausdrücklich in § 29 HVwVfG geregelt. Die Kammer geht aber – wie die h. M. – davon aus, dass eine solche Praxis durch die Regelung in Absatz 3 Satz 1 nicht ausgeschlossen wird, sondern dass die Behörde nach § 29 Abs. 3 Satz 2 HS. 2 HVwVfG nach ihrem pflichtgemäßen Ermessen über eine Mitnahme bzw. Übersendungsmöglichkeit an die bevollmächtigte Person zu entscheiden hat. Zwar kann im Einzelfall ein besonderes Interesse der Behörde an der jederzeitigen Verfügbarkeit der Akten das gegenläufige Interesse des Beteiligten an einer Übersendung an den Bevollmächtigten überwiegen. Aufgrund der heute gängigen sowie weit verbreiteten Praxis und der heutigen mit wenig Aufwand verbundenen Vervielfältigungsmöglichkeiten auch für eine Papierakte sowie entsprechend der für das gerichtliche Verfahren ausdrücklich geregelten Möglichkeit dürfte das Ermessen der Behörde insoweit im Regelfall aber häufig auf Null reduziert sein, wenn nicht im Einzelfall der besondere Umfang der Akten bzw. eine besondere Komplexität des Verfahrens oder andere vom Normalfall abweichende besondere Umstände, wie eine im Einzelfall begründete Sorge einer unkontrollierten Verbreitung des Akteninhalts, einer Mitnahme bzw. Übersendung zumindest einer Ablichtung entgegenstehen (Ritter in: Ory/Weth, jurisPK-ERV Band 3, 2. Aufl., § 29 VwVfG (Stand: 15.12.2022), Rn. 41). In dem Urteil vom 28.02.2023 im Parallelverfahren (S 12 AY 20/21, juris) ist die Kammer insoweit von einer Ermessensreduzierung auf Null ausgegangen. Die Kammer führt dazu unter Rn. 27 aus: „Die Beklagte hat in dem Schreiben vom 17.06.2020 insoweit angegeben, dass “derzeit eine gesicherte schnelle Übersendung und Rücksendung der Originalakte wegen der Auswirkungen der Covid19-Pandemie nicht gewährleistet“ sei. Zwar dürfte es während der Corona-Pandemie wohl infolge verstärkter Nutzung der Versandwege, insbesondere infolge verstärkter Inanspruchnahme des Online-Versandhandels, zu gewissen unüblichen Verzögerungen gekommen sein. Diese dürften aber über Verzögerungen in sonstigen Stoßgeschäftszeiten wie Weihnachten oder Ostern nicht hinausgegangen sein. Berichte über einen unzuverlässigen Transport sind der Kammer jedenfalls nicht bekannt (vgl. Meßling in: Schlegel/Meßling/Bockholdt, COVID-19 – Corona-Gesetzgebung – Gesundheit und Soziales, 2. Auflage 2022, § 20, Rn. 118). Davon abgesehen wiederspricht die Ablehnung der Aktenübersendung auch dem Hinweis in dem Ausgangsbescheid vom 29.04.2020, wonach darum gebeten wurde, „wegen der Corona-Pandemie“ auf persönliche Vorsprachen im Sozialamt zu verzichten. Letztlich geht die Kammer daher davon aus, dass die Ablehnung der Aktenübersendung an den Bevollmächtigten verfahrensfehlerhaft erfolgt ist.“
Soweit die Beklagte im hiesigen Verfahren nun ausführlich zu den Gründen, die aus Sicht der Beklagten einer Aktenübersendung im Jahr 2020 während der Corona-Pandemie entgegengestanden haben, vorträgt, kann allerdings offenbleiben, ob eine Ermessensreduzierung auf Null vorgelegen hat. Die Kammer geht jedenfalls von einer ermessensfehlerhaften Ablehnung der Aktenübersendung aus. Die Beklagte hat dem Prozessbevollmächtigten des Klägers in dem Schreiben vom 17.06.2020 die Akteneinsicht in den Räumen der aktenführenden Stelle angeboten und ausgeführt, dass eine Aktenübersendung nicht möglich sei und auf § 29 HVwVfG verwiesen. Für die Kammer ist nicht erkennbar, dass sich die Beklagte überhaupt darüber bewusst war, dass eine Ermessenentscheidung zu treffen war. Der Vortrag der Beklagte, dass der Prozessbevollmächtigte des Klägers keine Gesichtspunkte vorgetragen habe, die in eine Ermessenentscheidung hätten eingestellt werden können und der Verweis auf das Urteil des BSG vom 26.09.1990 (9b/7 RAr 30/89), vermag an dieser Bewertung nicht zu ändern. Zum einen erweckt die von der Beklagten in dem Schreiben vom 17.06.2020 gewählte Formulierung vielmehr den Eindruck, als sei die Beklagte von einer gebundenen Entscheidung ausgegangen („Eine Aktenübersendung gem. § 84 SGG i.V.m. § 25 Abs. 4 SGB X scheidet insofern aus, da hiernach nur § 25 Abs. 4 Sozialgesetzbuch (SGB) X keine Anwendung findet, jedoch nicht die Regelungen des § 29 Abs. 3 VwVfG außer Kraft gesetzt werden“). Zum anderen war der Beklagten bekannt, dass der Antrag auf Aktenübersendung von einem Rechtsanwalt, somit einem Organ der Rechtspflege, gestellt worden ist, der zudem seinen Kanzleisitz nicht vor Ort in Kassel, sondern in Göttingen hat. Es ist in dem Schreiben vom 17.08.2020 weder erkennbar, dass die Beklagte diese Gesichtspunkte in ihrer Entscheidung über das Akteneinsichtsgesuch berücksichtigt hat, noch, dass sie sich überhaupt darüber bewusst war, dass eine Ermessensentscheidung zu treffen war. Der Eindruck, dass die Beklagte hinsichtlich des Ausschlusses der Aktenübersendung an den Rechtsanwalt ausgegangen ist, wird insoweit verstärkt, als die Beklagte in dem Schreiben vom 17.06.2020 auch eine Übersendung an andere Behörden ausgeschlossen hat, da “derzeit eine gesicherte schnelle Übersendung und Rücksendung der Originalakte wegen der Auswirkungen der Covid19-Pandemie nicht gewährleistet“ sei. Die gewählte Formulierung erweckt den Eindruck, dass die Beklagte davon ausgegangen ist, dass eine Aktenübersendung an einen Rechtsanwalt in § 29 HVwVfG schlicht nicht vorgesehen sei und allenfalls eine Übersendung an eine Behörde möglich gewesen wäre. Soweit die Beklagte nun im Klageverfahren ausführlich Gründe darlegt, die einer Aktenübersendung im Jahr 2020 während der Corona-Pandemie entgegengestanden hätten, führt dies zu keiner anderen Bewertung. Diese Gründe wurden dem Prozessbevollmächtigten des Klägers weder in dem Schreiben vom 17.06.2020 noch nachfolgende bis zum Erlass des Widerspruchsbescheides mitgeteilt. Der Prozessbevollmächtigte hat somit keine Möglichkeit, diese Aspekte in seiner Entscheidung über das weitere Vorgehen hinsichtlich der begehrten Akteneinsicht einzubeziehen.
Unter Berücksichtigung des Akteneinsichtsbegehrens geht die Kammer im Rahmen des § 80 Abs. 1 Satz 1 HVwVfG zu Gunsten des Klägers davon aus, dass die Akteneinsicht insbesondere der Begründung des Widerspruchs dienen sollte. Da die Akteneinsicht durch Übersendung ermessensfehlerhaft abgelehnt wurde, ist der Widerspruch nach Auffassung der Kammer zugunsten des Klägers so auszulegen, dass das Begehren auf den Umfang der sodann erfolgten Abhilfe beschränkt gewesen ist. Dabei berücksichtigt die Kammer, dass das Recht auf Akteneinsicht auch der Verwirklichung eines effektiven Rechtsschutzes dient. Das Vorgehen, den Widerspruch fristwahrend einzulegen und dann erst nach erfolgter Akteneinsicht zu begründen, ist nachvollziehbar. Indem die Beteiligten alle Tatsachen und Umstände kennen, die der Behördenentscheidung zugrunde liegen, kann das Verwaltungshandeln überprüft und gegebenenfalls nachvollzogen werden. Dies wiederum fördert die Positionierung des Betroffenen, ob eine Entscheidung für zutreffend gehalten wird oder Rechtsmittel ergriffen werden (Engin in: Ory/Weth, jurisPK-ERV Band 3, 2. Aufl., § 25 SGB X (Stand: 15.12.2022), Rn. 10). An der zwischenzeitlichen Überlegung, ob der vorliegende Sachverhalt ggf. anders als der Sachverhalt im Parallelverfahren S 12 AY 20/21 zu bewerten sein könnte, da die fehlende Anrechnung der Freibeträge bereits allein aus dem Ausgangsbescheid vom 05.05.2020 erkennbar sei, hält das Gericht nicht mehr fest. Zum einen waren die konkret abzuziehenden Freibeträge (z.B. für Arbeitskleidung) tatsächlich nicht allein aus dem Bescheid erkennbar. Zum anderen weist der Prozessbevollmächtigte des Klägers zutreffend darauf hin, dass eine mögliche Erkennbarkeit der Rechtswidrigkeit in einem Bescheid auch ohne Akteneinsicht den Anspruch auf Akteneinsicht nicht verschließt, da durch die Akteneinsicht z.B. auch mögliche Verfahrensfehler oder anderweitige materiell-rechtliche Ansprüche vor einer abschließenden Widerspruchsbegründung geprüft werden können. Ob der Bevollmächtigte den Widerspruch nach erfolgter Akteneinsicht tatsächlich begründet hätte und ob ihm eine Begründung des Widerspruchs ohne Akteneinsicht nicht möglich gewesen ist, ist dem Beweis nicht zugänglich. Hinzu kommt, dass die Beklagte wegen der Begründung bzw. des Umfangs des Widerspruchs auch nicht weiter bei dem Prozessbevollmächtigten nachgefragt hat. Aufgrund des Verfahrensfehlers im Rahmen des Akteneinsichtsgesuchs geht die Unaufklärbarkeit im Rahmen der Auslegung des Widerspruchsbegehrens zu Lasten der Beklagten.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt der Hauptsache. Zwar hat der Kläger den Antrag auf höhere Leistungen nach dem AsylbLG mit Schriftsatz vom 10.06.2021 auf die Kostenentscheidung im Widerspruchsverfahren beschränkt. Dies führt jedoch nach § 193 SGG nicht zwingend zu einer Kostenquotelung. Neben dem Erfolgsprinzip sind zudem die Gründe für den Anlass des Rechtsstreits zu berücksichtigen (sogenanntes Veranlassungsprinzip). Im Rahmen der Ermessensentscheidung bedarf es einer Abwägung aller Kriterien des Einzelfalles. Im Hinblick auf die im Widerspruchsverfahren nicht erfolgte Akteneinsicht ist es für die Kammer nachvollziehbar, dass der Prozessbevollmächtigte die Klage zunächst uneingeschränkt erhoben und diese dann erst nach der im Klageverfahren durchgeführten Akteneinsicht auf die Kostenentscheidung im Widerspruchsbescheid beschränkt hat.
Die Berufung bedurfte der Zulassung durch das Sozialgericht, da der Wert des Beschwerdegegenstandes 750,00 Euro nicht übersteigt (§ 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG), es sich nicht um einen Erstattungsstreit nach § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG handelt, und wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr nicht im Streit sind (§ 144 Abs. 1 Satz 2 SGG). Gründe für eine Zulassung der Berufung im Sinne von § 144 Abs. 2 SGG liegen jedoch nicht vor.
Es folgt die Rechtsmittelbelehrung.