Sozialgericht Heilbronn – Beschluss vom 29.04.2024 – Az.: S 16 AY 655/24 ER

BESCHLUSS

in dem Verfahren

xxx,

– Antragsteller –

Proz.-Bev.:
Rechtsanwalt Sven Adam
Lange-Geismar-Str. 55, 37073 Göttingen

gegen

Landkreis Ludwigsburg
vertreten durch das Landratsamt Ludwigsburg Fachbereich Asyl
Hindenburgstr. 40, 71638 Ludwigsburg

– Antragsgegner –

Die 16. Kammer des Sozialgerichts Heilbronn
hat am 29. April 2024 in Heilbronn
durch den Richter am Sozialgericht xxx
ohne mündliche Verhandlung beschlossen:

Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, vorläufig vom 22. März 2024 bis zu einer bestandskräftigen Entscheidung über den Widerspruch vom 22. März 2024 gegen den Bescheid vom 29. Februar 2024, längstens bis zum 31. August 2024, dem Antragsteller Leistungen nach § 2 Abs. 1 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) unter Anrechnung bereits erbrachter Leistungen zur gewähren.

Der Antragsgegner hat die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers zu erstatten.

GRÜNDE
I.

Der Antragsteller ist afghanischer Staatsangehöriger und reiste am 30. September 2021 erstmals ins Bundesgebiet ein und stellte einen Asylantrag, über den noch nicht entschieden ist. Der Antragsteller stellte bereits 2015 in Norwegen einen Antrag auf einen Schutzstatus, der abgelehnt wurde. Über sein Geburtsdatum und seine Fluchtgründe machte der Antragsteller sowohl in Norwegen als auch bei seiner Anhörung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) widersprüchliche Angaben.

Seit seiner Einreise bezog der Antragsteller Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, die Bewilligung nach den §§ 1, 3 ff AsylbLG erfolgte mit Bescheid des Antragsgegners vom 25. November 2021.

Mit Schreiben vom 22. November 2021 lehnte das „Norwegian Directorate of Immigration“ die Übernahme des Antragstellers ab.

Die Ausländerbehörde äußerte sich auf die Anfragen des Antragsgegners, ob der Antragsteller ein rechtsmissbräuchliches Verhalten im Sinne des § 2 Abs. 1 AsylbLG gezeigt habe, nicht.

Mit Bescheid vom 29. Februar 2024 lehnte der Antragsgegner einen Antrag des Antragstellers vom 12. Oktober 2023 – der sich nicht in der Akte des Antragsgegners findet – auf Leistungen nach § 2 AsylbLG ab. Der Antragsteller habe über sein Alter getäuscht, und damit gegen die allgemeinen Mitwirkungspflichten des § 15 Asylgesetz (AsylG) verstoßen.

Mit Bescheid vom 13. März 2024 änderte der Antragsgegner den Bescheid vom 25. November 2021 für die Monate Januar bis März 2024, aufgrund anrechenbaren Einkommens.

Gegen den Bescheid vom 29. Februar 2024 erhob der Antragsteller durch seinen Bevollmächtigten Widerspruch.

Gleichzeitig stellte er einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung beim Sozialgericht Heilbronn. Die „Wartefrist“ des § 2 Abs. 1 AsylbLG sei bereits lange überschritten und die Dauer des Aufenthaltes des Antragstellers sei nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst. Es bestehe mithin ein Anspruch auf Leistungen nach § 2 AsylbLG.

Der Antragstellerbevollmächtigte beantragt,
den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, dem Antragsteller vorläufig und unter dem Vorbehalt der Rückforderung bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung über den Widerspruch des Antragstellers vom 22. März 2024 gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 29. Februar 2024 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts die beantragten Leistungen in gesetzlicher Höhe ab Eingang dieses Antrages bei Gericht zu gewähren.

Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen.

Der Antragsteller habe gegen Mitwirkungs- und Meldepflichten im AsylG und Aufenthaltsgesetz (AufenthG) verstoßen. Er habe falsche Angaben zu seiner Identität gemacht, indem er im aktuell laufenden Asylverfahren zum Beispiel sein Geburtsdatum mit xxx angegeben habe. Weiterhin habe er entgegen seiner Pflichten aus § 15 AsylG zunächst nicht angegeben, dass er sich bereits in Norwegen aufgehalten habe und dort ein Asylverfahren durchlaufen habe. Dies habe er erst eingeräumt, als ihm dies durch EURODAC-Treffer vom 8. Dezember 2015 (Fingerabdrücke) nachgewiesen worden sei. Das BAMF habe noch nicht über eine Abschiebung entschieden, weder über das Land, in das abgeschoben werden soll, noch über ein mögliches Aufenthaltsrecht. Im Verfahren könnte auch festgestellt werden, dass ein anderes Land für seine Aufnahme in Frage kommt. Damit sei derzeit unklar, ob eine Abschiebung des Antragstellers im gesamten Zeitraum ab dem Zeitpunkt des Rechtsmissbrauchs hätte vollzogen werden können.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und die beigezogene Verwaltungsakte des Antragsgegners verwiesen.

II.

Der Antrag ist zulässig und begründet.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (§86b Abs. 2 Satz 2 SGG). Dies ist der Fall, wenn es dem Antragsteller nach einer Interessenabwägung unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls nicht zumutbar ist, die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten (Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG-Kommentar, 14. Auflage 2023, § 86b Rn. 28). Die Erfolgsaussicht des Hauptsacherechtsbehelfs (Anordnungsanspruch) und die Eilbedürftigkeit der erstrebten einstweiligen Regelung (Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO)). Ein Anordnungsanspruch ist glaubhaft gemacht, wenn der Antragsteller nach materiellem Recht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit einen Anspruch auf die begehrte Leistung hat (Burkiczak in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl., § 86b SGG Rn. 384 (Stand: 04.03.2024)). Das Gericht führt hierzu eine summarische Prüfung der Sach- und Rechtslage in dem Umfang durch, wie es in der zur Verfügung stehende Zeit möglich ist, wobei die Prüfung umso eingehender erfolgt, je schwerer die möglichen Folgen wiegen (Binder in Berchtold, Sozialgerichtsgesetz, 6. Auflage 2021, § 86b Rn. 41). Ein Anordnungsgrund ist nur dann glaubhaft gemacht, wenn überwiegend wahrscheinlich ist, dass dem Antragsteller bei einem Abwarten des Ausgangs des Hauptsacheverfahrens unzumutbare Nachteile entstünden (Burkiczak a.a.O. Rn. 412 (Stand: 10.01.2020)).

Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund stehen in einer Wechselbeziehung zueinander, nach der die Anforderungen an den Anordnungsanspruch mit zunehmender Eilbedürftigkeit bzw. Schwere des drohenden Nachteils (dem Anordnungsgrund) zu verringern sind und umgekehrt. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund bilden aufgrund ihres funktionalen Zusammenhangs ein bewegliches System (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 14. Auflage 2020, § 86b Rn. 27, 29 und 29a m.w.N.). Wäre eine Klage in der Hauptsache offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist der Antrag auf einstweilige Anordnung ohne Rücksicht auf den Anordnungs-grundgrundsätzlich abzulehnen, weil ein schützenswertes Recht nicht vorhanden ist. Wäre eine Klage in der Hauptsache dagegen offensichtlich begründet, so vermindern sich die Anforderungen an den Anordnungsgrund, auch wenn in diesem Fall nicht gänzlich auf einen Anordnungs-grund verzichtet werden kann. Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens, wenn etwa eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im einstweiligen Verfahren nicht möglich ist, ist im Wege der Folgenabwägung zu entscheiden, welchem Beteiligten ein Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache eher zuzumuten ist (LSG Hessen 13.03.2008 – L 7 SO 100/07 ER).

Jedoch stellt Art. 19 Abs. 4 GG besondere Anforderungen an die Ausgestaltung des Eilverfahrens, wenn ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen können, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären (BVerfG, Kammerbeschluss vom 12.05.2005 – BvR 569/05 Rn. 24 in juris). Die Entscheidung im Eilverfahren kann zwar auch dann, wenn existenzsichernde Leistungen zur Gänze im Streit stehen, statt auf eine Folgenabwägung auch auf eine summarische Prüfung der Hauptsache gestützt werden (BVerfG, Beschluss vom 06.08.2014, 1 BvR 1453/12). Dabei ist aber zu beachten, dass die Sach- und Rechtslage vom Gericht umso intensiver zu prüfen ist, je gewichtiger und wahrscheinlicher eine drohende Grundrechtsverletzung ist. Wenn eine endgültige Grundrechtsverletzung droht, muss das Gericht die Anforderungen an die Glaubhaftmachung verringern.

Ausgehend hiervon sind dem Antragsteller im Wege der einstweiligen Anordnung Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG zu gewähren, nachdem ein solcher Anspruch mit weit überwiegender Wahrscheinlichkeit besteht.

Gemäß § 2 Abs. 1 AsylbLG (in der Fassung vom 15.08.2019) ist das Zwölfte Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) auf diejenigen Leistungsberechtigten entsprechend anzuwenden, die sich seit 18 Monaten ohne wesentliche Unterbrechung im Bundesgebiet aufhalten und die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben. Der Antragsteller befindet sich bereits seit März 2023 seit 18 Monaten im Bundesgebiet. Der Antragsteller hat auch nicht die Dauer seines Aufenthalts selbst beeinflusst. Zwar hat er, wovon das Gericht überzeugt ist, mehrfach über Teile seiner Identität getäuscht, nämlich über sein Geburtsdatum. Eine Beeinflussung der Aufenthaltsdauer liegt aber vielmehr dann vor, wenn bei generell abstrakter Betrachtungsweise das rechtsmissbräuchliche Verhalten typischerweise die Aufenthaltsdauer verlängern kann, es sei denn, eine etwaige Ausreisepflicht des betroffenen Ausländers hätte unabhängig von seinem Verhalten ohnehin in dem gesamten Zeitraum ab dem Zeitpunkt des Rechtsmissbrauchs nicht vollzogen werden können (BSG, Urteil vom 2.2.2010, B 8 AY 1/08 R). Dabei geht das Gericht auch davon aus, dass in den bewusst falschen Angaben des Antragstellers zu seinem Geburtsfatum ein rechtsmissbräuchliches Verhalten liegt. Dies liegt dann vor, wenn der Antragsteller falsche bzw. unterschiedliche Angaben zu seiner Person mach (vgl. Sächsisches LSG, Beschluss vom 19.1.2011, L 7 AY 6/09 B ER). Allerdings hätte eine Ausreisepflicht des Antragstellers seit dem Zeitpunkt seiner Einreise nicht vollzogen werden können. Der Antragsteller hat die afghanische Staatsangehörigkeit. Davon ist das Gericht überzeugt, nachdem dies sowohl der Antragsteller selbst vorgetragen hat, als auch der Antragsgegner in seinem Schriftsatz vom 25. März 2024. Hinzu kommt, dass die norwegischen Behörden als auch das BAMF als auch die Ausländerbehörde keinen Zweifel an der afghanischen Staatsangehörigkeit haben, wie sich aus den in der Verwaltungsakte enthaltenen Schreiben der norwegischen Behörden, dem Anhörungsprotokoll des BAMF und dem Auszug aus dem Ausländerzentralregister ergibt. Hinzu kommt, dass die Anhörung beim BAMF in Dari erfolgt ist, der in Afghanistan gesprochenen Sprache.

Eine Abschiebung nach Afghanistan war seit dem Zeitpunkt der Einreise des Antragstellers nicht möglich, wie der Antragsteller auch in seinem Schriftsatz vom 24. April 2024 selbst eingeräumt hat.

Dafür, dass – wie der Antragsgegner anführt – eine Abschiebung in ein anderes Land als Afghanistan möglich gewesen wäre, gibt es keinerlei Hinweise. Dies erscheint auch eher fernliegend, nachdem trotz Abgleich mit Eurodac sich lediglich ein Treffer in Norwegen ergeben hat, das aber die Übernahme abgelehnt hat. Die Abschiebung in ein anderes Land erscheint auch vor dem Hintergrund der Rückführungsrichtlinie (Richtlinie 2008/115/EG) nicht möglich (vgl. hierzu VG Freiburg, Urteil vom 11.11.2020 – A 1 K 6531/18, m.w.N.).

Dem Anspruch des Antragstellers steht auch nicht entgegen, dass § 2 Abs. 1 AsylbLG in seiner aktuellen Fassung eine Aufenthaltsdauer von 36 Monaten fordert, die der Antragsteller noch nicht erreicht hat. Zwar hat der Gesetzgeber mit § 20 AsylbLG eine Übergangsregelung geschaffen, wonach für Leistungsberechtigte, die bis zum 26. Februar 2024 Leistungen gemäß § 2 Absatz 1 erhalten haben, § 2 dieses Gesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 5. August 1997 (BGBl. I S. 2022), das zuletzt durch Artikel 4 des Gesetzes vom 23. Mai 2022 (BGBl. I S. 760) geändert worden ist, weiter anzuwenden ist. Der Antragsteller hat jedoch bis zum 26. Februar 2024 keine Leistungen bezogen. Allerdings hat er bereits im Oktober 2023 einen entsprechenden Antrag gestellt, und der Antragsgegner hätte ihm mindestens seit diesem Zeitpunkt die Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG gewähren müssen. Da er aber einen rückwirkenden Anspruch auf Analogleistungen für die Zeit bis einschließlich 26. Februar 2024 hat, der ihm rechtswidrig verwehrt wurde, muss für diesen vergangenen Bewilligungszeitraum auch in der Zeit nach dem 27. Februar 2024 zunächst eine rückwirkende Gewährung erfolgen. Durch diese rückwirkende Bewilligung „erhält“ er auch „bis zum 26. Februar 2024 Leistungen“ gem. § 2 Abs. 1 AsylbLG a.F. Folglich hat er auch für die Zeit ab dem 27. Februar 2024 Anspruch auf Analogleistungen nach § 2 AsylbLG a.F. i.V.m. § 20 AsylbLG (vgl. hierzu Filges in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 3. Aufl., § 20 AsylbLG (Stand: 08.03.2024) Rn. 14).

Wegen der ganz überwiegenden Erfolgsaussicht in der Hauptsache liegt auch ein Anordnungsgrund vor (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 29.6.2023, L 8 AY 18/23 B ER).

Die Kostenfolge ergibt sich aus der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Es folgt die Rechtsmittelbelehrung.