Hessisches Landessozialgericht – Beschluss vom 13.05.2024 – Az.: L 4 AY 1/24 B

Hessisches Landessozialgericht – Beschluss vom 13.05.2024 – Az.: L 4 AY 1/24 B

BESCHLUSS

In dem Beschwerdeverfahren

1. xxx,

Klägerin und Beschwerdeführerin,

2. xxx,
vertreten durch:
xxx,

Kläger und Beschwerdeführer,

3. xxx,
vertreten durch:
xxx,

Klägerin und Beschwerdeführerin,

Prozessbevollm.: zu 1-3: Rechtsanwalt Sven Adam,
Lange Geismarstraße 55, 37073 Göttingen,

gegen

Land Hessen, vertreten durch das Regierungspräsidium Gießen
– Erstaufnahmeeinrichtung des Landes Hessen -,
Lilienthalstraße 2, 35394 Gießen,

Beklagte und Beschwerdegegnerin,

hat der 4. Senat des Hessischen Landessozialgerichts in Darmstadt am 13. Mai 2024 durch die Richterin am Landessozialgericht Vogl als Vorsitzende, die Richterin am Landessozialgericht xxx und die Richterin am Landessozialgericht xxx beschlossen:

Auf die Beschwerde der Kläger wird der Beschluss des Sozialgerichts Gießen vom 23. Januar 2024 geändert und der Klägerin zu 1) Prozesskostenhilfe für das Verfahren vor dem Sozialgericht Gießen, Az. S 18 AY 76/22 B, ohne Ratenzahlung unter Beiordnung von Rechtsanwalt Sven Adam, Lange Geismarstraße 55, 37073 Göttingen, zu den Bedingungen eines im Bezirk des Gerichts ansässigen Rechtsanwalts beigeordnet.

Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

GRÜNDE

Die am 17. Februar 2024 über das Sozialgericht eingelegte Beschwerde der Klägerinnen mit dem sinngemäßen Antrag,

den Beschluss des Sozialgerichts Gießen vom 23. Januar 2024 aufzuheben und den Klägerinnen Prozesskostenhilfe für das Klageverfahren vor dem Sozialgericht Gießen mit dem Aktenzeichen S 18 AY 76/22 unter Beiordnung von Rechtsanwalt Sven Adam, Lange Geismarstraße 55, 37073 Göttingen, zu bewilligen,

ist zulässig und in dem sich aus dem Tenor ergebenden Umfang begründet.

Die Klägerin zu 1) hat Anspruch auf die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das erstinstanzliche Verfahren.

Nach § 73a Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) i.V.m. § 114 Zivilprozessordnung (ZPO) ist einem Beteiligten, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf seinen Antrag Prozesskostenhilfe zu gewähren, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.

Der Maßstab für die insoweit geforderten Erfolgsaussichten ist im Licht der grundrechtlich garantierten Rechtsschutzgleichheit zu bestimmen. Sie folgt aus dem Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) i.V.m. dem Rechtsstaatsgrundsatz aus Art. 20 Abs. 3 GG. Gefordert ist hiernach eine Angleichung der Rechtsschutzmöglichkeiten eines Unbemittelten mit denen eines Bemittelten, der seine Erfolgsaussichten unter Berücksichtigung des Kostenrisikos vernünftig abwägt. Eine hinreichende Erfolgsaussicht in diesem Sinne besteht, wenn das Gericht den Rechtsstandpunkt des Antragstellers aufgrund der Sachverhaltsschilderung und der vorliegenden Unterlagen zumindest für vertretbar hält und in tatsächlicher Hinsicht von der Erforderlichkeit und der Möglichkeit der Beweisführung überzeugt ist, also eine nicht fernliegende Möglichkeit besteht, das Rechtsschutzziel durch Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes jedenfalls unter Zuhilfenahme aller verfahrensrechtlich vorgesehenen Rechtsbehelfe durchzusetzen (BVerfGE 81, 347 <357>; ständige Rechtsprechung, vgl. insoweit auch: BVerfG, Beschlüsse vom 16. April 2019, 1 BvR 2111/17; vom 4. September 2017, 1 BvR 2443/16 und vom 14. Februar 2017, 1 BvR 2507/16 – juris – bei Fragen einer Beweisaufnahme). Hält das Gericht die Einholung eines Sachverständigengutachtens oder eine andere Beweiserhebung von Amts wegen für notwendig, so kann in der Regel die Erfolgsaussicht auch nicht verneint werden (Schmidt in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, Kommentar, 14. Auflage 2023, § 73a Rdnr. 7a). Prozesskostenhilfe darf der unbemittelten Partei von Verfassungswegen insbesondere auch dann nicht versagt werden, wenn die Entscheidung in der Hauptsache von der Beantwortung einer schwierigen, bislang ungeklärten Rechtsfrage abhängt (BVerfG, Beschluss vom 12. Februar 2020, 1 BvR 1246/19).

Streitgegenstand des Klageverfahrens ist der Bescheid vom 24. März 2022, mit dem der Beklagte den Antrag der Klägerinnen nach § 44 Zehntes Sozialgesetzbuch (SGB X) – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – vom 10. Februar 2022, gerichtet auf ungekürzte Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) nach der Regelbedarfsstufe 1 für die Klägerin zu 1) für den Zeitraum vom 20. Januar 2021 bis zur Abschiebung (nach Spanien am 11. Oktober 2021), abgelehnt hat. Mit Widerspruchsbescheid vom 18. Juli 2022 hat das Regierungspräsidium Gießen den Überprüfungsbescheid nur für den Zeitraum vom 28. Januar 2021 bis 11. Oktober 2021 hinsichtlich der Klägerin zu 1) aufgehoben. Das Regierungspräsidium Gießen, Erstaufnahmeeinrichtung des Landes Hessen (EAEH), sei für die Entscheidung über den Zeitraum vom 28. Januar 2021 bis zur Abschiebung für die Entscheidung über die Leistungen an die Klägerin zu 1) unzuständig. Bezüglich des Zeitraums vom 20. Januar 2021 bis zum 27. Januar 2021 habe die Klägerin zu 1) keinen Anspruch auf höhere Leistungen nach dem AsylbLG. Sie habe bis zu ihrer Zuweisung an den Landkreis Gießen am 28. Januar 2021 in der EAEH gewohnt und es seien ihr entsprechend §§ 3, 3a Abs. 1 Nr. 2 lit. b, Abs. 2 Nr. 2 lit. b AsylbLG Leistungen nach der Regelbedarfsstufe 2b gewährt worden, die ab dem 15. Januar 2021 gemäß § 1a Abs. 7 AsyIbLG rechtmäßig eingeschränkt worden seien. Die Voraussetzungen der Leistungskürzung nach § 1a Abs. 7 AsylbLG seien bei der Klägerin zu 1) erfüllt. Ihr Asylantrag sei mit Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 5. Oktober 2020 nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG als unzulässig abgelehnt und ihre Abschiebung in den für ihr Asylverfahren zuständigen Staat gemäß § 34a Abs. 1 AsylG angeordnet worden. Abschiebungsverbote hach § 60 Abs. 5 und 7 S. 1 AufenthG lägen nicht vor und es sei keine gerichtliche Anordnung der aufschiebenden Wirkung einer Klage gegen die Abschiebungsanordnung erfolgt. Sie sei daher im Zeitraum vom 20. Januar 2021 bis zur Ausreise am 11. Oktober 2021 vollziehbar ausreisepflichtig gewesen. Ein Anspruch der Klägerin zu 1) auf Leistungen des § 3 AsylbLG sei aufgrund der erfüllten Voraussetzungen der § 1a Abs. 7 S. 1 und S. 2 AsylbLG i. V. m. §§ 3 Abs. 1 S. 1, 4 Abs. 1 S. 1, 14 Abs. 1 AsylbLG nicht gegeben. Daher bestehe auch kein Anspruch auf Einstufung der Widerspruchsführerin zu 1) in die Regelbedarfsstufe 1 der §§ 3, 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylbLG.

Die hiergegen fristgerecht erhobene Klage bietet hinreichende Aussichten auf Erfolg hinsichtlich der Klägerin zu 1).

Der Beklagte ist bei der Berechnung der Leistungskürzung nach § 1a Abs. 7 AsylbLG von einer mit hinreichender Gewissheit verfassungswidrig bestimmten Sonderbedarfsstufe ausgegangen.

Das Bundesverfassungsgericht hat mit dem am 23. November 2022 veröffentlichten Beschluss vom 19. Oktober 2022 (1 BvL 3/21) entschieden, dass die Sonderbedarfsstufe für eine in einer Sammelunterkunft untergebrachte alleinstehende erwachsene Person nach der Parallelvorschrift des § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG mit dem Grundgesetz (Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG) unvereinbar ist (Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums). Die Annahme des Gesetzgebers, den Leistungsberechtigten sei es möglich und zumutbar, in den Unterkünften eröffnete Möglichkeiten zu gemeinsamem Wirtschaften zu nutzen, sowie die Berücksichtigung von dadurch erzielbaren Einsparungen bei der Bemessung des existenznotwendigen Bedarfs (vgl. BT-Drs. 19/10052, S. 24 f.), sei zwar im Ausgangspunkt verfassungsrechtlich nach dem Nachranggrundsatz nicht zu beanstanden. Diese Obliegenheit gemeinsamen Wirtschaftens sei aber nur dann verhältnismäßig im engeren Sinne, wenn hinreichend gesichert ist, dass in den Sammelunterkünften auch tatsächlich die Voraussetzungen dafür vorliegen, diese erfüllt werden und so Einsparungen in entsprechender Höhe erzielt werden können. Dafür haben sich bei einem gemeinsamen Aufenthalt in einer Gemeinschaftsunterkunft (§ 53 AsylG) oder Aufnahmeeinrichtung (§ 44 AsylG) keine Anhaltspunkte ergeben (vgl. BVerfG, Beschluss vom 19. Oktober 2022 – 1 BvL 3/21 – juris Rn. 74 ff.). Aus dieser Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ergeben sich hinreichende Anhaltspunkte für die Verfassungswidrigkeit des vorliegend für die Bemessung der streitgegenständlichen Leistungen maßgeblichen Norm des § 3a Abs. 1 Nr. 2 lit. b AsylbLG bzw. § 3a Abs. 2 Nr. 2 lit. b AsylbLG (Senatsbeschluss vom 20. Dezember 2022 – L 4 AY 28/22 B ER –, juris Rn. 39; vgl. hierzu Frerichs in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 4. Aufl., § 3a AsylbLG [Stand: 1. Mai 2024], Rn. 53: „ohne Zweifel“).

Die Beschränkung der Fortgeltungsgeltungsanordnung unter Anwendung der Regelbedarfsstufe 1 durch das Bundesverfassungsgericht auf nicht bestandskräftige Bescheide (BVerfG, Beschluss vom 19. Oktober 2022 – 1 BvL 3/21 – juris Rn. 98) steht den Erfolgsaussichten der Klage auf Änderung der Bescheide nach § 44 SGB X nicht entgegen, denn diese Begrenzung im Ausspruch des Bundesverfassungsgerichts betrifft wiederum nur die Parallelvorschrift des § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG. Unabhängig davon bestehen hinreichende Erfolgsaussichten am Maßstab von § 44 SGB X bereits deshalb, weil schon vor der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nach weit verbreiteter Ansicht eine verfassungskonforme Auslegung von § 3a Abs. 1 Nr. 2 lit. b AsylbLG bzw. § 3a Abs. 2 Nr. 2 lit. b AsylbLG notwendig und möglich gewesen ist (zum damaligen Meinungsstand vgl. Senatsbeschluss vom 13. April 2021 – L 4 AY 3/21 B ER –, juris Rn. 51).

Keiner Entscheidung bedarf es daher, ob auch vor dem Hintergrund der in der Rechtsprechung teilweise vertretenen Auffassung, dass § 1a Abs. 7 Satz 1 AsylbLG wegen der nicht an leistungsrechtlichen Bedarfen ausgerichteten Zweckrichtung verfassungskonform teleologisch dahin zu reduzieren sei, dass – als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal – den leistungsberechtigten Personen ein pflichtwidriges Verhalten vorzuwerfen sein müsse (vgl. SG München, Beschluss vom 10. Februar 2020 – S 42 AY 82/19 ER –, juris Rn. 36 – 37 m.w.N.; s. auch Oppermann in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 4. Aufl., § 1a AsylbLG [Stand: 1. Mai 2024], Rn. 167 m.w.N.), hinreichende Aussichten auf Erfolg des Rechtsschutzbegehrens der Klägerin zu 1) zu bejahen sind.

Keine hinreichenden Aussichten auf Erfolg bestehen demgegenüber für den Kläger zu 2) und die Klägerin zu 3), da sie zwar von den streitgegenständlichen Bescheiden als Adressat bzw. Adressatin formal beschwert sind, indessen ihre Aktivlegitimation nicht gegeben ist. Weder der Kläger zu 2) noch die Klägerin zu 3) sind nach Aktenlage von einer Einschränkung der Leistungen nach § 1a Abs. 7 AsylbLG betroffen. Weiter ist weder ersichtlich noch geltend gemacht, dass ihnen höhere Leistungen wegen der Verfassungswidrigkeit von §§ 3, 3a Abs. 1 Nr. 2 lit. b, Abs. 2 Nr. 2 lit. b AsylbLG zustehen würden: Als 2018 geborenem Kind der Klägerin zu 1) beurteilt sich der Anspruch des Klägers zu 2) nach §§ 3, 3a Abs. 1 Nr. 6 und Abs. 2 Nr. 6 AsylbLG, während die nach Aktenlage am 31. Dezember 2021 geborene Klägerin zu 3) erst nach Ablauf des streitgegenständlichen Zeitraums zur Welt kam.

Ausweislich der Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse ist Klägerin zu 1) weiterhin nicht in der Lage die Kosten der Prozessführung selbst aufzubringen.

Die Kostengrundentscheidung beruht auf § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG i. V. m. § 127 Abs. 4 ZPO.

Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.


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