Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen – Beschluss vom 28.05.2024 – Az.: L 8 SO 112/23

BESCHLUSS

L 8 SO 112/23
S 44 SO 113/22 Sozialgericht Hildesheim

In dem Rechtsstreit

xxx,

– Kläger und Berufungskläger –

Prozessbevollmächtigter:
Rechtsanwalt Sven Adam,
Lange Geismarstraße 55, 37073 Göttingen

gegen

Stadt Göttingen Referat Recht,
Hiroshimaplatz 1 – 4, 37083 Göttingen

– Beklagte und Berufungsbeklagte –

hat der 8. Senat des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen am 28. Mai 2024 in Celle durch die Richter xxx und xxx sowie die Richterin xxx beschlossen:

Dem Kläger wird für das Berufungsverfahren Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt Adam, Göttingen, bewilligt. Ratenzahlung wird nicht angeordnet.

GRÜNDE
I.

Der Kläger begehrt die Bewilligung von Prozesskostenhilfe (PKH) für ein Berufungsverfahren, in dem er sich gegen das Urteil des Sozialgerichts (SG) Hildesheim vom 3.8.2023 wendet, mit dem seine Klage vom 28.9.2022 wegen doppelter Rechtshängigkeit als unzulässig abgewiesen worden ist.

Der 1988 geborene, dauerhaft erwerbsgeminderte und unter Betreuung durch seinen Vater stehende Kläger, bei dem ein GdB von 100 und die Merkzeichen G, H und B festgestellt sind, lebt in einer besonderen Wohnform der Göttinger Werkstätten gGmbH. Die Wohnkosten betrugen insgesamt 597,43 € monatlich (Kosten für Wohnraumüberlassung: 477,95 €; Wohnnebenkosten: 119,48 €). Er ist in einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) tätig und erzielt hieraus ein monatlich schwankendes Einkommen, das ihm jeweils im Folgemonat zufließt. Er nimmt an der Mittagsverpflegung durch die Werkstatt teil.

Mit vorläufigem Bewilligungsbescheid vom 8.11.2021 in der Fassung des vorläufigen Änderungsbescheides vom 15.11.2021 bewilligte die Beklagte dem Kläger Leistungen der Grundsicherung nach dem Vierten Kapitel des SGB XII (Grundsicherungsleistungen) für Januar bis Juni 2022 vorläufig gemäß § 44a SGB XII unter Zugrundelegung eines Beschäftigungsentgeltes von 220,00 €. Mit vorläufigem Änderungsbescheid vom 13.1.2022 passte sie die Bewilligung unter Berücksichtigung der ab Januar 2022 geänderten Höhe des Entgelts für das Mittagessen an. Gegen diesen Bescheid erhob der Kläger am 11.2.2022 Widerspruch.

Mit Bewilligungsbescheid vom 4.5.2022 bewilligte die Beklagte dem Kläger für den Folgezeitraum von Juli bis Dezember 2022 vorläufig gemäß § 44a SGB XII Grundsicherungsleistungen unter Zugrundlegung eines vorläufigen Beschäftigungsentgelts von 235,00 € monatlich. Hiergegen erhob der Kläger am 16.5.2022 Widerspruch.

Die Beklagte entschied über die Widersprüche vom 11.2. und 16.5.2022 gemeinsam mit Teilabhilfe- und Widerspruchsbescheid vom 19.9.2022, in dem sie für die Leistungszeiträume von

Januar bis Juni 2022 und Juli bis Dezember 2022 Kosten der Unterkunft und Heizung inklusive Zusatzleistungen von insgesamt 528,41 € monatlich als Bedarf anerkannte und im Übrigen den Widerspruch zurückwies. Hiergegen hat der Kläger zwei gesonderte Klagen vor dem SG Hildesheim erhoben: Mit dem Verfahren S 44 SO 112/22, das ruht, hat er sich gegen den Bescheid vom 13.1.2022 in Gestalt des „Widerspruchsbescheides“ vom 19.9.2022 gewandt. In dem Klageverfahren S 44 SO 113/22, das dem hiesigen Berufungsverfahren zugrunde liegt, hat er Klage gegen den Bescheid vom 4.5.2022 in Gestalt des „Widerspruchsbescheides“ vom 19.9.2022 erhoben, mit der er höhere Grundsicherungsleistungen für die Zeit von Juli bis Dezember 2022, insbesondere unter Anerkennung der tatsächlichen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung begehrt. Der Bescheid vom 4.5.2022 sei nicht als Folgebescheid analog § 86 SGG Gegenstand des Verfahrens S 44 SO 112/22 geworden. Für eine analoge Anwendung fehle es aufgrund der Gesetzesbegründung zu § 96 SGG an einer planwidrigen Regelungslücke und einer übereinstimmenden Interessenlage (unter Verweis auf B. Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl. 2020, § 86 Rn. 3; Hintz in BeckOK Sozialrecht, Stand: 1.9.2022). Es liege hier schon deshalb ein anderer Streitgegenstand vor, weil die Beklagte die durchschnittliche Warmmiete ab dem 1.7.2022 neu ermittelt habe. Zudem habe sie den Widerspruch gegen den Bescheid vom 4.5.2022 nicht als unzulässig verworfen. Der 4. Senat des BSG habe der Auffassung des 8. Senats widersprochen, der im Übrigen seit der letzten vom SG zitierten Entscheidung aus dem Jahr 2018 nahezu neu besetzt sei.

Mit Bescheid vom 29.9. bzw. 25.10.2022 hat die Beklagte die Höhe der Leistungen für Januar bis Juni 2022 abschließend gemäß § 44a Abs. 5 SGB XII festgestellt, nachdem der Betreuer die Verdienstbescheinigungen für diesen Zeitraum eingereicht hatte.

Das SG hat die Klage mit Urteil vom 3.8.2023 abgewiesen und die Berufung zugelassen, weil der vorläufige Bescheid vom 4.5.2022 analog § 86 SGG Gegenstand des Verfahrens S 44 SO 112/22 geworden sei, so dass ein weiteres Verfahren wegen dessen Sperrwirkung unzulässig sei. Dies entspreche ständiger Rechtsprechung des BSG und auch des Senats.

Hiergegen wendet sich der Kläger mit seiner am 13.9.2023 eingelegten Berufung, mit der er gleichzeitig die Bewilligung von PKH beantragt hat und die er damit begründet, dass zu der Frage der analogen Anwendung des § 86 SGG ein Streit in Literatur und der Rechtsprechung des 4. Senats des BSG auf der einen und dem 8. Senat des BSG auf der anderen Seite bestehe, der der Kläger nicht folge.

II.

Dem Kläger ist antragsgemäß PKH zur Durchführung des Berufungsverfahrens zu gewähren.

Gemäß § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO erhält ein Beteiligter, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder in Raten aufbringen kann, auf Antrag PKH, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder -verteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Eine Erfolgsaussicht ist anzunehmen, wenn unter Berücksichtigung des gegenwärtigen Sach- und Streitstandes ein Erfolg der Berufung für vertretbar gehalten wird und nicht lediglich fernliegend erscheint (B. Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Aufl. 2023, § 73a Rn. 7a).

Die form- und fristgerecht (§ 151 SGG) eingelegte und auch im Übrigen zulässige, insbesondere statthafte, weil vom SG zugelassene (§ 144 Abs. 3 SGG) Berufung weist hinreichende Erfolgsaussichten auf. Die Rechtsverfolgung ist auch nicht mutwillig.

Das SG hätte die Klage nicht im Wege des Prozessurteils abweisen dürfen. Die Klage ist nicht doppelt rechtshängig. Die Rechtshängigkeit des Klageverfahrens S 44 SO 112/22 hat einer (Sach-)Entscheidung im Verfahren S 44 SO 113/22 nicht entgegengestanden.

Der Kläger hat im Verfahren S 44 SO 112/22 Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 13.1.2022 in Gestalt des „Widerspruchsbescheides“ vom 19.9.2022 erhoben und beantragt, ihm Leistungen für den „Zeitraum 01.01.2022-30.06.2022“ in gesetzlicher Höhe zu gewähren. Diese Klage hat er wirksam auf diesen Zeitraum beschränkt und damit den Gegenstand seines Klagebegehrens (§ 92 SGG) definiert. Der Gegenstand des Klagebegehrens, der durch den Antrag des Klägers aufgrund seiner Dispositionsbefugnis bestimmt wird, ist nicht mit dem Begriff des Streitgegenstandes im prozessrechtlichen Sinne gleichzusetzen (Föllmer in jurisPK-SGG, 2. Aufl. 2022, § 92 Rn. 27; B. Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Aufl. 2023, § 92 Rn. 8, 11, § 95 Rn. 4, 5a). Der Kläger hat mithin daneben in zulässiger Weise Klage im Verfahren S 44 SO 113/22 gegen den Bescheid der Beklagten vom 4.5.2022 in Gestalt des „Widerspruchsbescheides“ vom 19.9.2022 erhoben, in dem er beantragt hat, ihm Leistungen für den „Zeitraum 01.07.2022-31.12.2022“ in gesetzlicher Höhe zu gewähren. Er hat damit sein Klagebegehr im jeweiligen Verfahren eindeutig bezeichnet, so dass für eine Auslegung nach dem Meistbegünstigungsgrundsatz (anders als etwa bei einem zukunftsoffenen Zeitraum; s. näher B. Schmidt, a.a.O., § 92 Rn. 12) kein Raum ist und die Frage der Gegenstandswerdung des Folgebescheides vom 4.5.2022 im Rahmen des Verfahrens S 44 SO 112/22 nach § 86 SGG analog insofern unerheblich ist. Das Klagebegehren bestimmt den Umfang der gerichtlichen Prüfung (Föllmer, a.a.O., Rn. 31). Der Kläger verfolgt sein Begehr zulässigerweise in zwei Klagen unter halbjährlicher Aufspaltung der streitgegenständlichen Zeiträume entsprechend der beiden Ausgangsbescheide vom 13.1. bzw. 4.5.2022 und handelt damit weder rechtsmissbräuchlich noch mutwillig. Auch wenn die Ausführungen des SG zur analogen Anwendung des § 86 SGG auf während des Widerspruchsverfahrens ergangene Folgebescheide zutreffend sind und der höchstrichterlichen Rechtsprechung des für Grundsicherungsansprüche nach dem SGB XII (allein) zuständigen 8. Senats des BSG (vgl. etwa BSG, Urteil vom 17.6.2008 – B 8 AY 11/07 R – juris Rn. 10; Urteil vom 14.4.2011 – B 8 SO 12/09 R – juris Rn. 11; Urteil vom 9.12.2016 – B 8 SO 14/15 R – juris Rn. 11; Urteil vom 25.4.2018 – B 8 SO 24/16 R – juris Rn. 22; Urteil vom 28.8.2018 – B 8 SO 31/16 R – juris Rn. 12-15; dies auch nach erfolgter Neubesetzung des Senats nach dem Jahr 2018: Urteil vom 2.9.2021 – B 8 SO 4/20 R – juris Rn. 11) sowie der ständigen Rechtsprechung des Senates (vgl. etwa Senatsbeschluss vom 11.12.2014 – L 8 SO 106/14 B – juris Rn. 8; Senatsurteil vom 26.1.2021 – L 8 SO 286/17 – juris Rn. 27; Senatsurteil vom 23.5.2019 – L 8 AY 49/18 – juris Rn. 17) entsprechen, kommt es auf die analoge Anwendung des § 86 SGG analog hier für die Bestimmung der Streitgegenstände der beiden Klagen nicht an.

Auch in der Sache besteht eine hinreichende Erfolgsaussicht, weil die Höhe von Aufwendungen für Unterkunft und Heizung in einer besonderen Wohnform umstritten ist und das SG im Wege einer Grundsatzentscheidung im Verfahren S 34 SO 130/22 hierüber entscheiden will.

Dem Kläger ist es nach seinen wirtschaftlichen Verhältnissen nicht zuzumuten, die Kosten der Prozessführung selbst zu bestreiten, auch nicht zum Teil oder in Raten.

Die Beiordnung des Rechtsanwaltes beruht auf § 121 Abs. 2 ZPO.

Der Beschluss ist unanfechtbar, § 177 SGG.