BESCHLUSS
S 26 AS 4060/24 ER
In dem Rechtsstreit
xxx,
– Antragstellerin –
Prozessbevollmächtigter:
Rechtsanwalt Sven Adam,
Lange Geismarstraße 55, 37073 Göttingen
gegen
Landkreis Göttingen,
vertreten durch den Landrat,
Reinhäuser Landstraße 4, 37083 Göttingen
– Antragsgegner –
hat die 26. Kammer des Sozialgerichts Hildesheim am 5. Juni 2024 durch den Richter am Sozialgericht xxx beschlossen:
1. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig und unter dem Vorbehalt der Rückforderung Bürgergeld in Höhe weiterer 85,87 Euro anteilig für die Zeit ab Zugang des gerichtlichen Antrages am 08. Mai bis zum 31. Mai 2024 und für die Zeit vom 01. Juni bis zum 31. Oktober 2024 in Höhe von monatlich weiterer 112,– Euro zu gewähren, sofern nicht zuvor über die Klage zum Az.: S 26 AS 253/24 entschieden wird.
2. Der Antragsgegner hat der Antragstellerin ihre außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
3. Der Antragstellerin wird Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung unter Beiordnung von Rechtsanwalt Sven Adam, Göttingen, bewilligt.
GRÜNDE
I.
Die Antragstellerin erstrebt im Wege der einstweiligen Anordnung die vorläufige Gewährung höheren Bürgergeldes nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) – Bürgergeld, Grundsicherung für Arbeitssuchende – unter Berücksichtigung eines Regelbedarfes nach der Regelbedarfsstufe 1 ab gerichtlicher Antragstellung am 08. Mai 2024.
Die am xx.xxx 2002 geborene, erwerbsfähige, alleinstehende Antragstellerin steht seit dem Jahre 2022 unter gesetzlicher Betreuung und lebte zunächst bis November 2021 im Haushalt ihrer geschiedenen Mutter, deren neuem Partner und fünf Geschwistern in Nörten-Hardenberg. In der Zeit vom 19. November 2021 bis zum 19. Februar 2022 wurde sie im Asklepios Fachklinikum Göttingen stationär behandelt. Zur Verwaltungsakte gelangte eine Bescheinigung des xxx vom 28. März 2024, nach welcher bei der Antragstellerin eine Depression, eine Persönlichkeitsstörung und eine Essstörung diagnostiziert wurden.
Das Jobcenter Northeim erteilte am 08. September 2021 gemäß § 22 Absatz 5 SGB II eine Zusicherung zur Anmietung einer Wohnung und begründete dies damit, dass das Jugendamt eine unzumutbare Härte bezüglich des Zusammenlebens mit der Mutter festgestellt habe. Ihr neuer Partner habe die Antragstellerin der Wohnung verwiesen.
Die Antragstellerin hat seit der Entlassung aus dem Asklepiosklinikum keinen festen Wohnsitz und befindet sich auf Wohnungssuche, die bislang nicht erfolgreich war. Ausweislich der Bescheinigung der Einrichtung der „Lotsen – Ambulant Betreutes Wohnen“ vom 01. Juni 2022 nutzte sie wegen ihrer Wohnungslosigkeit als Postadresse die die Anschrift der Einrichtung in der Wiesenstr. 7 in Göttingen, ehe ab Januar 2024 die Anschrift Tilsiter Str. 2A in Göttingen wegen fehlenden festen Wohnsitzes folgte (vgl. Bescheinigung der Einrichtung Straßensozialarbeit vom 26. Januar 2024).
Zwischenzeitlich stellte die Antragstellerin am 16. Mai 2022 gegenüber dem Antragsgegner einen Antrag auf Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts und erklärte mit Stellungnahme vom 15. Juni 2022 u.a., dass unzumutbare Wohnumstände zu Hause bestanden hätten und sie lieber obdachlos sei, als bei ihren Eltern zu wohnen.
Nachdem der Antragstellerin Arbeitslosengeld II bzw. Bürgergeld ausschließlich in Form des Regelbedarfs nach der Regelbedarfsstufe 3 bis Ende Oktober 2023 bewilligt worden war, stellte sie am 06. Oktober 2023 einen Folgeantrag. Die im Auftrag des Antragsgegners handelnde Stadt Göttingen bewilligte ihr für die Zeit vom 01. November 2023 bis zum 31. Oktober 2024 vorläufig Bürgergeld, und zwar in Gestalt des Änderungsbescheides vom 27. November 2023 jeweils ausschließlich in Höhe des Regelbedarfs nach der Bedarfsstufe 3 u.a. monatlich in Höhe von 471,– Euro ab Januar 2024 (einschließlich des Sofortzuschlages für Kinder in Höhe von 20,– Euro). Die Bescheide waren jeweils an die Adresse Wiesenstraße 7 in Göttingen adressiert.
Der Antragsgegner wies den hiergegen eingelegten Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 19. April 2023 zurück und führte zur Begründung an, dass die Antragstellerin ohne vorherige Zusicherung aus dem Haushalt der Mutter ausgezogen sei. Aufgrund dessen seien ihr als Leistungsberechtigte, die das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet habe, Leistungen lediglich nach der Regelbedarfsstufe 3 zu gewähren.
Dagegen hat die Antragstellerin mit dem Sozialgericht Hildesheim am 08. Mai 2024 zugegangen Schriftsätzen Klage erhoben (S 26 AS 253/24) und einen Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtschutzes gestellt.
Sie trägt vor:
Es bestehe ein Leistungsanspruch nach der Regelbedarfsstufe 1, zumal die Antragstellerin laut Verwaltungsakte eine Zusicherung zum Umzug erhalten habe.
Die Antragstellerin beantragt:
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig und unter dem Vorbehalt der Rückforderung bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung über die Klage der Antragstellerin vom 03. Mai 2024 gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 09. Oktober 2023 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. April 2024 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts die beantragten Leistungen in gesetzlicher Höhe zu gewähren.
Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Er trägt unter Bezugnahme auf die erlassenen Bescheide vor:
Die Antragstellerin sei ohne vorherige Zusicherung umgezogen. Denn die Zustimmung des Jobcenters Northeim sei unwirksam geworden und nicht von Relevanz, weil sie tatsächlich nicht umgezogen oder in den Haushalt der Mutter zurückgekehrt sei. Sie habe sich nach der stationären Behandlung im Asklepios-Klinikum bei ihrem Freund aufgehalten. Zudem stünden schwerwiegende und soziale Gründen der Rückkehr in den Haushalt der Mutter nicht entgegen. Die Antragstellerin habe zwischenzeitlich keine Wohnung bezogen, sondern suche weiterhin eine Wohnung in den Landkreises Northeim und Göttingen.
Hinsichtlich des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und den beigezogenen Verwaltungsvorgang Bezug genommen.
II.
Der Antrag hat Erfolg.
Nach § 86 b Absatz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache, soweit ein Fall des Abs. 1 nicht vorliegt, auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechtes des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Das Gericht der Hauptsache ist das Gericht des I. Rechtzuges.
Voraussetzung für den Erlass der begehrten Regelungsanordnung nach § 86 b Absatz 2 Satz 2 SGG ist neben einer besonderen Eilbedürftigkeit der Regelung (Anordnungsgrund) ein Anspruch des Antragstellers auf die begehrte Regelung (Anordnungsanspruch). Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch sind glaubhaft zu machen (§ 86 b Absatz 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Absatz 2 Zivilprozessordnung (ZPO)). Dabei ist, soweit im Zusammenhang mit dem Anordnungsanspruch auf die Erfolgsaussichten abgestellt wird, die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen (vgl. Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes vom 12. Mai 2005 – 1 BvR 569/05 -). Die Glaubhaftmachung bezieht sich im Übrigen lediglich auf die reduzierte Prüfungsdichte und die nur eine überwiegende Wahrscheinlichkeit erfordernde Überzeugungsgewissheit für die tatsächlichen Voraussetzungen des Anordnungsanspruches und des Anordnungsgrundes (vgl. Beschlüsse des Hessischen Landessozialgerichtes (LSG) vom 29. Juni 2005 – L 7 AS 1/05 ER -, und vom 12. Februar 1997 – L 7 AS 225/06 ER -; Berlit, info also 2005, 3, 8).
Die gemäß § 19 Absatz 1 Satz 1 SGB II leistungsberechtigte, unter 25-jährige Antragstellerin hat zur Überzeugung der Kammer sowohl einen Anordnungsanspruch als auch einen Anordnungsgrund glaubhaft dargelegt. Sie hat aus Sicht der Kammer als alleinstehende, erwerbsfähige Person gemäß § 20 Absatz 2 Satz 1 SGB II Anspruch auf Bürgergeld nach der Regelbedarfsstufe 1, und zwar unter Zugrundelegung eines Regelbedarfes in Höhe von monatlich 563,– Euro, so dass sich bei einer Vorbewilligung von 451,– Euro die tenorierten Beträge für die Zeit vom 08. bis zum 31. Mai 2024 (unter Beachtung der Vorschrift des § 41 Absatz 1 Satz 2 SGB II) in Höhe von 85,87 Euro (112,– Euro x 23/30) bzw. für Juni bis zum Ende des aktuellen Bewilligungszeitraums am 31. Oktober 2024 in Höhe von monatlich 112,– Euro ergeben. Bezüglich dieses Zeitraums war die einstweilige Anordnung zu befristen, da über folgende Leistungszeiträume (mangels Folgeantrag) noch keine Bewilligungsentscheidung der Behörde vorliegt.
Gemäß § 20 Absatz 3 SGB II ist abweichend von § 20 Absatz 2 Satz 1 bei Personen, die das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben und ohne Zusicherung des zuständigen kommunalen Trägers nach § 22 Absatz 5 umziehen, bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres der in § 20 Absatz 2 Satz 2 Nr. 2 genannte Betrag (Regelbedarfsstufe 3) als Regelbedarf anzuerkennen.
Im vorliegenden Einzelfall hat die Antragsteller anlässlich des Auszuges aus dem Haushalt der Mutter eine fortwirkende und nicht unwirksam gewordene Zusicherung gemäß § 22 Absatz 5 SGB II am 08. September 2021 von dem zum damaligen Zeitpunkt örtlich zuständigen Jobcenter Northeim erhalten, wobei die Entscheidung nach eingehender Prüfung unter Hinzuziehung des Jugendamtes getroffen wurde. Diese Zusicherung stellt einen Verwaltungsakt gemäß §§ 34, 31 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X) dar, welche – anders als nach § 22 Absatz 4 SGB II – nicht an eine bestimmte Unterkunft gebunden ist (vgl. Urteil des Bundessozialgerichtes (BSG) vom 25. April 2018 – B 14 AS 21/17 R – (juris Rd. 23); Piepenstock/Senger, in Schlegel-Völzke, jurisPK-SGB II, 5. Auflage, Stand 06. Februar 2023, § 22, Rd. 225). Zudem bindet eine einmal erteilte Zusicherung gemäß § 34 Absatz 3 SGB X den Leistungsträger nach Art einer Grundentscheidung dauerhaft an die Rechtsfolge, dem unter 25-jährigen Leistungsberechtigten Unterkunftskosten zu gewähren, und gilt auch für den später zuständig werdenden Grundsicherungsträger (vgl. Urteil des Landessozialgerichtes (LSG) Berlin-Brandenburg vom 22. Dezember 2010 – L 18 AS 2041/09 -; Berlit, in LPK/SGB II, 8. Auflage 2024, § 22, Rd. 248; Luik, in Eicher/Luik/Harich, Kommentar zum SGB II, 5. Auflage 2021, § 22, Rd. 265).
So liegt es auch im vorliegenden Einzelfall. Der Antragsgegner ist an die gemäß § 22 Absatz 5 SGB II erteilte Zusicherung des Jobcenters Northeim vom 08. September 2021 nach dem zwischenzeitlichen Wechsel der örtlichen Zuständigkeit gebunden, ohne dass diese wegen Unterlassens eines zwischenzeitlichen Umzuges unwirksam geworden wäre. Denn die Zusicherung nach Absatz 5 ist anders als diejenige nach Absatz 4 nicht an ein konkretes Mietangebot gebunden. Die einmal erteilte Zusicherung ist aus Sicht der Kammer dergestalt zu verstehen, dass der Antragstellerin bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres im Sinne einer Grundentscheidung (ohne Verpflichtung zur tatsächlichen Wohnungsanmietung) gestattet ist, eine eigene Wohnung außerhalb des Haushalts der Eltern zu beziehen, ohne im Falle der Hilfebedürftigkeit den Leistungsanspruch auf Bedarfe für Unterkunft und Heizung gemäß § 22 Absatz 1 SGB II zu verlieren. Die Norm des § 20 Absatz 3 SGB II setzt einen Auszug aus dem Haushalt der Eltern voraus und knüpft die Regelbedarfsstufe an den formalen Akt der Zusicherung nach § 22 Absatz 5 SGB II (vgl. Saitzek, in Eicher/Luik/Harich, aaO., § 20, Rd. 38). Die entsprechenden Leistungsvoraussetzungen des § 20 Absatz 3 SGB II sind vorliegend gegeben. Einerseits entfaltet die erteilte Zusicherung nach § 22 Absatz 5 SGB II weiterhin Bindungswirkung. Die Antragstellerin ist andererseits zur Überzeugung der Kammer dauerhaft aus dem Haushalt der Mutter ausgezogen und befindet sich seit dem Ende des stationären Aufenthalts in der Asklepios-Klinik ohne festen Wohnsitz mit gewöhnlichem Aufenthalt im Zuständigkeitsbereich des Antragsgegners, dessen örtliche Zuständigkeit gemäß § 36 Absatz 1 SGB II unstreitig ist. Die Wohnungslosigkeit belegt insbesondere die Tatsache, dass der Antragsgegner die an die Antragstellerin adressierten Leistungsbescheide an die Adresse der Einrichtung „Die Lotsen“ (Wiesenstraße 7 in Göttingen) übersandte. Nach der Stellungnahme der letzteren vom 01. Juni 2022 sei die Antragstellerin wohnungslos. Ab Januar 2024 erhält sie Post unter der Adresse der Einrichtung Straßensozialarbeit (Tilsiter Str. 2A in Göttingen). Von der Wohnungslosigkeit geht somit offenbar auch die Behörde aus. Zudem verfolgt die anwaltlich vertretene Antragstellerin in diesem Rechtsstreit lediglich einen höheren Regelbedarf, ohne Bedarfe für Unterkunft und Heizung zu beanspruchen.
Die Antragstellerin hat zur Überzeugung der Kammer einen Anordnungsgrund glaubhaft dargelegt. Dieser ergibt sich aus der Tatsache, dass existenzsichernde Leistungen in Höhe von monatlich weiteren 112,– Euro streitig sind.
Bei Verpflichtung der Behörde zur vorläufigen Leistungsgewährung im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes ist maßgeblich auf den Zeitpunkt des Eingangs des Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung bei Gericht abzustellen (vgl. Beschlüsse des LSG Niedersachsen-Bremen vom 28. April 2005 – L 8 AS 57/05 ER -, vom 24. August 2005 – L 8 SO 78/05 ER -, 13. Februar 2008 – L 13 AS 237/07 -, Beschluss des Sächsischen LSG vom 30. Oktober 2007 – L 2 B 373/07 AS PKH -). Wegen der Vorläufigkeit des Eilverfahrens spricht das Gericht – wie beantragt – keine Leistungen für die Vergangenheit zu (vgl. Conradis in LPK/SGB II, 7. Auflage 2021, Anhang Verfahren Rd. 147; Krodel NZS 2007, 20, 21). Der vorhergehende Zeitraum kann nur im Hauptsacheverfahren geltend gemacht werden (vgl. Beschluss des Hessischen LSG vom 19. Juni 2005 – L 7 AS 1/05 ER -, info also 2005, 169, 174; Beschluss des LSG Baden-Württemberg vom 17. August 2005 – L 7 SO 2117/05 ER – B -).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Absatz 1 SGG analog.
Der Antragstellerin war wegen der Erfolgsaussicht des Antrages Prozesskostenhilfe ohne Anordnung von Ratenzahlung zu gewähren (§§ 73a SGG, 114 ff. ZPO).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar, weil die Beschwer des Antragsgegners mit 645,87 Euro (112,– Euro x 5 zuzüglich 85,87 Euro für den Teilmonat Mai 2024) den Schwellenwert von 750,– Euro nicht überschreitet (§§ 172 Absatz 3 Nr. 1, 144 Absatz 1 Satz 1 Nr. 1 SGG).