Sozialgericht Stuttgart – Beschluss vom 06.06.2024 – Az.: S 9 AY 1434/24 ER

BESCHLUSS

in dem Rechtsstreit

xxx,

– Antragsteller –

Proz.-Bev.: Rechtsanwalt Sven Adam
Lange-Geismar-Str. 55, 37073 Göttingen

gegen

Landeshauptstadt Stuttgart – Sozialamt –
vertreten durch den Oberbürgermeister
Eberhardstr. 33, 70173 Stuttgart

– Antragsgegnerin –

Die 9. Kammer des Sozialgerichts Stuttgart
hat am 5.6.2024 in Stuttgart
durch die Richterin am Sozialgericht xxx
ohne mündliche Verhandlung beschlossen:

Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig und unter dem Vorbehalt der Rückforderung ab dem 17.4.2024 bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung über den Widerspruch des Antragstellers vom 15.4.2024 Grundleistungen gemäß §§ 3 und 3a AsylbLG in der Regelbedarfsstufe 1 zu gewähren

Die Antragsgegnerin trägt die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers.

GRÜNDE
I.

Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung von Grundleistungen nach den §§ 3, 3a AsylbLG in der Regelbedarfsstufe 1 streitig.

Der ledige Antragsteller ist in einer Gemeinschaftsunterkunft im Sinne von § 53 Abs. 1 AsylG untergebracht.

Die Antragsgegnerin gewährte dem Antragsteller mit Bescheid vom 5.4.2024 ab 1.4.2024 Grundleistungen gemäß §§ 1, 3 AsylbLG i.V.m. § 3a Abs. 1 Nr. 2b und § 3a Abs. 2 Nr. 2b AsylbLG in Höhe der Regelbedarfsstufe 2.

Mit Schreiben vom 15.4.2024 legte der Antragsteller gegen den Bescheid Widerspruch ein, über den die Antragsgegnerin bisher nicht entschieden hat.

Am 17.4.2024 hat der Antragsteller den Erlass einer einstweiligen Anordnung beim Sozialgericht Stuttgart mit der Begründung beantragt, dass ihm entsprechend der Entscheidung des BVerfG vom 19.10.2022 – 1 BvL 3/21 – Leistungen der Regelbedarfsstufe 1 zustünden.

Der Antragsteller beantragt,
Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig und unter dem Vorbehalt der Rückforderung bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung über den Widerspruch des Antragstellers vom 15.4.2024 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 05.4.2024 (Az.: 2602.758039) unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts die beantragten Leistungen in verfassungsgemäßer Höhe in der Regelbedarfsstufe 1 ab Eingang dieses Antrages bei Gericht zu gewähren.

Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzuweisen.

Die Antragsgegnerin ist der Auffassung, dass es für die Regelbedarfsstufe 1 keine gesetzliche Grundlage gebe. Die Bundesverfassungsgerichtsentscheidung beziehe sich lediglich auf Analogleistungen nach § 2 AsylbLG. Zudem habe der Antragsteller auch keinen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Es sei nicht erkennbar, dass die finanziellen Kapazitäten des Antragstellers ausgeschöpft seien und er habe nicht dargelegt, welche Nachteile zu erwarten seien, wenn er auf den Ausgang des Hauptsacheverfahrens verwiesen werde.

Hinsichtlich und der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die beigezogene Papierverwaltungsakte der Antragsgegnerin und die elektronisch geführte Gerichtsakte Bezug genommen.

II.

Der Antrag auf einstweilige Anordnung ist zulässig und begründet.

Der einstweilige Rechtschutz richtet sich hier nach § 86 Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Danach kann das Gericht der Hauptsache zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn die Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint.

Dies ist der Fall, wenn dem Antragsteller bei summarischer Prüfung ein Anspruch auf die begehrte Leistung zusteht (Anordnungsanspruch) und die Durchsetzung des Anspruchs wegen besonderer Eilbedürftigkeit nicht bis zur Entscheidung in der Hauptsache warten kann (Anordnungsgrund). Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind glaubhaft zu machen (§ 86b Absatz 2 Satz 4 SGG i. V. m. § 920 Absatz 2 Zivilprozessordnung – ZPO).

Der Antragsteller hat sowohl Anordnungsanspruch wie Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.

Der Anspruch ergibt sich nach der Überzeugung des Gerichts bereits aus dem Beschluss des BVerfG vom 19. 10.2022 (Az. 1 BvL 3/21).

Mit diesem Beschluss hat das BVerfG § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AsylbLG mit Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m. dem Sozialstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 1 GG zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums unvereinbar erklärt, soweit für eine alleinstehende erwachsene Person ein Regelbedarf lediglich in Höhe der Regelbedarfsstufe 2 anerkannt wird, und hat bis zu einer Neuregelung angeordnet, dass auf Leistungsberechtigte nach § 2 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG § 28 SGB XII i. V. m. dem Regelbedarfsermittlungsgesetz und §§ 28a, 49 SGB XII mit der Maßgabe entsprechende Anwendung findet, dass bei der Unterbringung in einer Gemeinschaftsunterkunft i. S. v. § 53 Abs. 1 AsylG oder einer Aufnahmeeinrichtung nach § 44 Abs. 1 AsylG für jede alleinstehende erwachsene Person der Leistungsbemessung ein Regelbedarf in Höhe der jeweils aktuellen Regelbedarfsstufe 1 zugrunde gelegt wird.

Hieraus ergibt sich ohne Zweifel auch die Verfassungswidrigkeit der Parallelregelung des § 3a Abs. 1 Nr. 2 lit. b AsylbLG bzw. § 3a Abs. 2 Nr. 2 lit. b AsylbLG, die zudem niedrigere Leistungen als die Analogleistungen nach § 2 AsylbLG vorsieht (so auch: Hessisches LSG, Beschluss vom 20.12.2022 – L 4 AY 28/22 B ER; Frerichs in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 3. Aufl., § 3a AsylbLG, Rn. 44).

Auch ein Anordnungsgrund ist gegeben. Allein der Umstand, dass Grundleistungen der sozialen Sicherung betroffen sind, genügt zwar nicht, um generell einen im Hauptsacheverfahren nicht mehr korrigierbaren, irreparablen Nachteil anzunehmen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 19.9.2017 – 1 BvR 1719/17, juris, Rn. 8); Landessozialgericht Baden-Württemberg, Beschluss vom 28. August 2019 – L 7 AY 2735/19 ER-B, Rn. 8, juris).
Angesichts der dargestellten überwiegenden Erfolgsaussichten in der Hauptsache unter Verweis auf die Entscheidung des BVerfG 19. Oktober 2022 (Az. 1 BvL 3/21) ist nach Auffassung des Gerichts Kammer vorliegend jedoch eine restriktive, an der Glaubhaftmachung der Eilbedürftigkeit ausgerichtete Rechtsprechung (vgl. Burkiczak in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl., § 86b SGG, Rn. 425 m.w.N.), nicht angezeigt.

Das Gericht erachtet vor diesem Hintergrund die hier streitige monatliche Differenz von 47,- Euro, die etwa 11 % des derzeit bewilligten Regelbedarfs ausmacht, als ausreichend, um eine Eilbedürftigkeit zu begründen (vgl. zum Regelbedarf 2023 auch Landessozialgericht Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 21.1.2021 – L 9 AY 27/20 B ER, Rn. 25, juris).

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG und berücksichtigt, dass der Antrag in vollem Umfang Erfolg hatte.

Das Gericht geht davon aus, dass bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens vorläufige Leistungen länger als ein Jahr zu bewilligen sind, weswegen in der Hauptsache die Berufung nach § 144 Abs. 1 Satz 2 SGG zulässig wäre und hier demnach die Beschwerde (§ 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG).

Es folgt die Rechtsmittelbelehrung.