Sozialgericht Trier – Beschluss vom 05.06.2024 – Az.: S 3 AY 101/24 ER

BESCHLUSS

In dem Rechtsstreit

xxx,

– Antragsteller –

Prozessbevollmächtigter:
Rechtsanwalt Sven Adam,
Lange Geismarstraße 55,
37073 Göttingen

gegen

Land Rheinland-Pfalz, vertreten durch den Präsidenten der Aufsichts- und
Dienstleistungsdirektion, Willy-Brandt-Platz 3, 54290 Trier

– Antragsgegner –

hat die 3. Kammer des Sozialgerichts Trier am 5. Juni 2024 durch die Vizepräsidentin des Sozialgerichts xxx beschlossen:

1. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller für die Zeit ab dem 22.05.2024 bis zur Entscheidung über den Widerspruch vom 22.05.2024 vorläufig höhere Leistungen nach Maßgabe von §§ 3, 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylbLG zu erbringen.

2. Der Antragsgegner trägt die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers.

3. Dem Antragsteller wird zur Wahrnehmung seiner Rechte in der ersten Instanz Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt Sven Adam, Göttingen, zu den Bedingungen eines im Bezirk des Sozialgerichts Trier ansässigen Rechtsanwalts bewilligt.

GRÜNDE

Der Antragsteller begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes höhere Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG).

Der im Dezember 2004 geborene Antragsteller ist afghanischer Staatsbürger. Seinen am 10.10.2023 förmlich gestellten Asylantrag lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) durch Bescheid vom 23.11.2023 als unzulässig ab, stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) nicht vorlägen und ordnete die Abschiebung nach Belgien an. Außerdem ordnete das BAMF das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG an und befristete es auf 18 Monate ab dem Tag der Abschiebung. Der Asylantrag sei gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 Asylgesetz (AsylG) unzulässig, da Belgien auf Grund des dort bereits gestellten Asylantrages nach der Dublin-III-VO für die Behandlung des Asylantrages zuständig sei. Die belgischen Behörden hätten auf das entsprechende Übernahmeersuchen der Bundesrepublik Deutschland mit Schreiben vom 20.11.2023 ihre Zuständigkeit für die Bearbeitung des Asylantrages gemäß Art 18 Abs. 1a Dublin-III-VO erklärt. Der Bescheid ist seit dem 08.12.2023 bestandskräftig. Durch Bescheid vom 22.05.2024 hob das BAMF den Bescheid vom 23.11.2023 auf, weil die Zuständigkeit zur Durchführung des Asylverfahrens nach Ablauf der Überstellungsfrist gemäß Art. 29 der Dublin-Verordnung auf Deutschland übergegangen sei.

Der Antragsteller ist seit dem 21.09.2023 in einer Aufnahmeeinrichtung für Asylbegehrende (AfA) des Antragsgegners untergebracht, zunächst in der AfA Trier, zuletzt in der AfA Hermeskeil.

Der Antragsgegner gewährt dem Antragsteller Leistungen nach dem AsylbLG. Er zahlt auf entsprechende jeweilige Vorsprache des Antragstellers einen Barbetrag als notwendigen persönlichen Bedarf nach §§ 3, 3a Abs. 1 Nr. 2b AsylbLG aus. Die monatlichen Leistungen werden dabei zum Zweck der taggenauen Auszahlung auf einen Tagessatz (1/30) berechnet und regelmäßig 14-tägig, zum Teil auch wöchentlich, für den jeweiligen Zeitraum ausgezahlt. So zahlte der Antragsgegner am 13.05.2024 einen Betrag von 85,90 € für den Zeitraum bis zum 26.05.2024. Im Übrigen werden Leistungen durch Sachleistung gewährt.
Über die Leistungsgewährung wird kein (schriftlicher) Bescheid erteilt.

Mit Schreiben vom 22.05.2024 legte der Antragsteller Widerspruch gegen die ihm gewährten Leistungen nach dem AsylbLG ab der Zuweisung in die AfA ein und begehrte höhere Leistungen.

Am gleichen Tag hat der Antragsteller beim angerufenen Gericht den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt, mit der er die vorläufige Gewährung von höheren Leistungen nach dem AsylbLG begehrt. Er trägt zur Begründung vor, die Leistungen seien nach Bedarfsstufe 1 des § 3 AsylbLG zu bestimmen und nicht nach Bedarfsstufe 2 wie vom Antragsgegner vorgenommen. Die Regelungen der §§ 3, 3a Abs. 1 Nr. 2b, Abs. 2 Nr. 2b AsylbLG seien evident verfassungswidrig, da sie das durch Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) iVm Art. 20 Abs. 1 GG garantierte Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums verletzten und gegen den allgemeinen Gleichheitssatz verstießen. Der Gesetzgeber habe die zur Gewährleistung des Grundrechts erforderlichen Ermittlungen hinsichtlich des spezifischen Bedarfs von Leistungsberechtigten nach §§ 3, 3a Abs. 1 Nr. 2b, Abs. 2 Nr. 2b AsylbLG nicht angestellt, sondern halte, wie die Gesetzesbegründung zeige, Einspar- und Synergieeffekte wie in Paarhaushalten lediglich für möglich und zumutbar. Anders als bei Partnern, die sich gegenseitig unterstützten, könnten Alleinstehende, die in einer Unterkunft lebten, nicht auf Einsparmöglichkeiten verwiesen werden. Insoweit sei bereits die Annahme eines gemeinsamen Wirtschaftens der Bewohner tatsächlich unzutreffend. Es bestünden keine Unterschiede im Bedarf zu alleinstehenden erwachsenen Leistungsberechtigten nach § 2 AsylbLG, die in einer Wohnung im Sinne von § 8 Abs. 1 Satz 2 des Regelbedarfs-Ermittlungsgesetzes lebten, oder zu alleinstehenden erwachsenen Leistungsberechtigten nach dem SGB XII, die in einer Unterkunft lebten. Der Gesetzgeber stelle diese Personengruppen trotz gleichen Hilfebedarfs besser als ihn. Eine Ungleichbehandlung sei nicht gerechtfertigt. Inzwischen habe eine Reihe von Gerichten Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit der Leistungsgewährung entsprechend der Bedarfsstufe 2 im Fall des Bezugs von Leistungen nach § 2 AsylbLG und § 3a AsylbLG bei Personen, die in Gemeinschaftsunterkünften lebten, geäußert (Verweis auf SG Landshut, Beschluss vom 24.10.2019 – S 11 AY 64/19 ER; SG Freiburg vom 03.12.2019 – S 9 AY 4605/19 ER; SG München, Hinweis vom 31.01.2020 – S 42 AY 4/20 ER; SG Hannover, Beschluss vom 20.12.2019 – S 53 AY 107/19 ER; SG Leipzig, Beschluss vom 08.01.2020 – S 10 AY 40/19 ER; Sächsisches LSG, Beschluss vom 23.03.2020 – L 8 AY 4/20 B ER; SG Kassel, Urteil vom 19.11.2020 – S 12 AY 22/20; SG Marburg, Gerichtsbescheid vom 31.12.2020 – S 9 AY 1/20; SG Frankfurt, Beschluss vom 14.01.2020 – S 30 AY 26/19 ER; SG Dresden, Beschluss vom 04.02.2020 – S 20 AY 86/19 ER; LSG Hessen, Beschluss vom 13.04.2021 – L 4 AY 3/21 B ER).
Das Bundesverfassungsgericht habe zudem die in § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG vorgesehene Reduzierung des Leistungssatzes für alleinstehende Asylsuchende in Sammelunterkünften für verfassungswidrig erklärt und entschieden, dass bis zu einer Neuregelung für alleinstehende Personen in Sammelunterkünften der Regelbedarf nach der Stufe 1 zu bestimmen sei (Bezugnahme auf Beschluss vom 19.10.2022 – 1 BvL 3/21). §§ 3, 3a Abs. 1 Nr. 2b, Abs. 2 Nr. 2b AsylbLG müssten unter Berücksichtigung der Entscheidung des BVerfGs teleologisch eingeschränkt ausgelegt werden (Verweis auf Bayerisches LSG vom 31.05.2023 – L 8 AY 7/23). Auch ihm seien daher Leistungen nach Bedarfsstufe 1 zu gewähren. Da sein verfassungsrechtlich garantiertes Existenzminimum nicht gesichert sei, sei von einem Anordnungsgrund auszugehen.

Der Antragsteller beantragt,
den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm vorläufig und unter dem Vorbehalt der Rückforderung bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung über den Widerspruch vom 22.05.2024 gegen die faktische Leistungsgewährung durch den Antragsgegner unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts die beantragten Leistungen in verfassungsgemäßer Höhe in der Regelbedarfsstufe 1 ab 22.05.2024 zu gewähren.

Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen.

Zur Begründung trägt er vor,
die vom Antragsteller vorgebrachten Überlegungen zur Verfassungswidrigkeit von §§ 3, 3a AsylbLG teile er nicht. Die Entscheidung des BVerfG vom 19.10.2022 – 1 BvL 3/21 – könne zu Gunsten des Antragstellers keine Wirkung entfalten. Das BVerfG habe § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG für verfassungswidrig erklärt, zu dem nach dieser Norm berechtigten Personenkreis gehöre der Antragsteller jedoch nicht. Er erhalte vielmehr Leistungen nach §§ 3, 3a AsylbLG und auf den Anwendungsbereich dieser Vorschriften entfalte die Entscheidung des BVerfG keine Gesetzeskraft. Der Gesetzgeber habe trotz der Entscheidung des BVerfG bis heute keine Notwendigkeit gesehen, eine andere gesetzliche Regelung zu erlassen. Da keine Normverwerfungskompetenz der Verwaltung gegeben sei, fänden § 3a Abs. 1 Nr. 2b und Abs. 2 Nr. 2b AsylbLG weiterhin grundsätzlich Anwendung. Darüber hinaus sei zu berücksichtigen, dass sich eine Unterbringung in einer kommunalen Gemeinschaftsunterkunft grundlegend von einer Unterbringung in einer Aufnahmeeinrichtung unterscheide. Der in einer Aufnahmeeinrichtung durch Sachleistungen abgedeckte notwendige Bedarf an Ernährung, Unterkunft, Heizung, Kleidung, Gesundheitspflege sowie Gebrauchs- und Verbrauchsgüter des Haushaltes sei weitaus umfangreicher als in einer kommunalen Gemeinschaftsunterkunft. Das Existenzminimum und der existentielle Bedarf der Bewohner werde in Aufnahmeeinrichtungen durch Sachleistungen gedeckt mit der Folge, dass die Regelbedarfsstufe 1 zu Gunsten der Antragstellerin nicht anzuwenden sei. Die Empfehlung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) im Schreiben vom 23.01.2023, die im Beschluss des BVerfG vom 19.10.2022 getroffenen Anordnungen zu § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG auch in den Fällen der § 3a Abs. 1 Nr. 2b und Abs. 2 Nr. 2b AsylbLG anzuwenden, und der Umlaufbeschluss 04/2023 der Arbeits- und Sozialministerkonferenz, der feststelle, dass der Empfehlung des BMAS Folge geleistet werden könne, habe für die Verwaltungspraxis in Rheinland-Pfalz keine Verbindlichkeit.
Es bestehe auch kein Anordnungsgrund. Es gehe um 20 € mehr im Monat, hierdurch werde keine Existenzbedrohung des Antragstellers bedingt, da der überwiegende Teil der Leistungen in Form von Sachleistungen gewährt werde.

Das Gericht hat die Beteiligten auf § 1a Abs. 7 AsylbLG hingewiesen. Die Beteiligten haben sich dazu nicht geäußert.

Mit dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat der Antragsteller unter Vorlage der Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse die Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt Sven Adam, Göttingen, beantragt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Prozessakte sowie die von dem Antragsgegner vorlegte Verwaltungsakte und die beigezogenen Akte des BAMF sowie der Kreisverwaltung Trier- Saarburg Bezug genommen.

II.

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig und begründet.

Gemäß § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ist eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, zur Abwendung wesentlicher Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus anderen Gründen notwendig erscheint. Hierzu muss glaubhaft gemacht sein, dass das geltend gemachte Recht des Antragstellers gegenüber dem Antragsgegner besteht (Anordnungsanspruch) und der Antragsteller ohne den Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung wesentliche Nachteile erleidet (Anordnungsgrund). Nach dem Sinn und Zweck des § 86b Abs. 2 SGG sollen mittels des dort geregelten Instrumentes des einstweiligen Rechtsschutzes irreparable Entscheidungen durch die Verwaltung und damit endgültige, vom Gericht nicht mehr zu korrigierende Umstände, verhindert werden. Demzufolge kann eine einstweilige Anordnung vor einer gerichtlichen Entscheidung in der Hauptsache nur erlangt werden, wenn ohne die begehrte Anordnung für den Antragsteller schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden und diese auch nicht durch die spätere Entscheidung in der Hauptsache beseitigt werden könnten. Zudem muss der Erfolg in der Hauptsache wahrscheinlich sein und diese darf nicht durch die einstweilige Anordnung erledigt oder vorweggenommen werden. Lässt also die im Eilverfahren durchgeführte Prüfung bereits erkennen, dass das von dem Antragsteller behauptete Recht zu seinen Gunsten nicht besteht, so ist auch nach § 86b Abs. 2 SGG eine einstweilige Anordnung nicht möglich, weil dann eine sicherungsfähige und sicherungswürdige Rechtsposition fehlt. Sowohl die hinreichend hohe Wahrscheinlichkeit eines Anordnungsanspruchs als auch der Anordnungsgrund müssen glaubhaft gemacht werden, § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG iVm §§ 920 Abs. 2, 294 Abs. 1 Zivilprozessordnung (ZPO).
Zwischen Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch besteht dabei eine Wechselbeziehung. An das Vorliegen des Anordnungsgrundes sind dann weniger strenge Anforderungen zu stellen, wenn bei der Prüfung der Sach- und Rechtslage in dem vom BVerfG vorgegebenen Umfang (BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005 – 1 BvR 569/05 -, juris) das Obsiegen in der Hauptsache sehr wahrscheinlich ist. Ist eine in der Hauptsache erhobene Klage offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist wegen des fehlenden Anordnungsanspruches der Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen. Sind hingegen die Erfolgsaussichten in der Hauptsache offen, kommt dem Anordnungsgrund entscheidende Bedeutung zu.

Auch für den Erlass einer einstweiligen Anordnung müssen die allgemeinen Prozessvoraussetzungen vorliegen. Die Prozessvoraussetzungen müssen in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen geprüft werden; fehlen sie von Anfang an oder fällt eine Prozessvoraussetzung im Laufe des Rechtsstreits weg, darf eine Sachentscheidung nicht ergehen (Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Aufl., vor § 51 Rn. 13). Zu den allgemeinen Prozessvoraussetzungen gehört das Rechtsschutzbedürfnis (Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Aufl., § 86b Rn. 26). Dieser Begriff bedeutet, dass nur derjenige einen Anspruch auf eine gerichtliche Sachentscheidung hat, der mit dem von ihm angestrengten gerichtlichen Rechtsschutzverfahren ein rechtlich schützenswertes Interesse verfolgt. Niemand soll die Gerichte grundlos oder für unlautere Zwecke in Anspruch nehmen dürfen (BSG, Urteil vom 08.05.2007 – B 2 U 3/06 R -, juris). Ein Rechtsschutzbedürfnis für den Erlass einer einstweiligen Anordnung besteht in der Regel nur, wenn der Antragsteller sich zunächst an die Verwaltung wendet, dort sein Begehren vorbringt und die normale Bearbeitungszeit abwartet (Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Aufl., § 86b Rn. 26b). In einem Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz bei Gericht kann ein Antrag auf Gewährung der Leistung durch die Verwaltung enthalten sein; hat diese während des Eilverfahrens die Leistung abgelehnt oder ist die normale Bearbeitungszeit abgelaufen, darf der Eilantrag nicht mehr wegen fehlendem Rechtsschutzinteresse als unzulässig abgelehnt werden, weil sich der Antragsteller nicht zunächst an die Verwaltung gewandt hat. Maßgebend ist auch hinsichtlich des Rechtsschutzinteresses der Sach- und Streitstand im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Aufl., § 86b Rn. 26b; aA ohne weitere Begründung Roos/Wahrendorf, SGG, 3. Aufl., § 86b Rn. 189).

Gemessen hieran ist der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung im Zeitpunkt der Entscheidung durch das Gericht zulässig. Dem am 22.05.2024 gestellten Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, mit dem der Antragsteller nach seinem Vorbringen höhere Leistungen, nämlich nach Bedarfsstufe 1 begehrt, fehlte zwar das Rechtsschutzbedürfnis. Insoweit hat der Antragsteller ohne Zweifel eine übliche Bearbeitungszeit durch die Verwaltung nicht abgewartet, bevor er sich mit seinem Begehren auf Gewährung weiterer Leistungen an das Gericht gewandt hat. Er hat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung am gleichen Tag gestellt, an dem er Widerspruch eingelegt hat mit dem er offensichtlich ebenfalls höhere Leistungen begehrt. Der damit ursprünglich wegen fehlendem Rechtsschutzbedürfnis unzulässige Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist gleichwohl zulässig geworden. Der Antragsgegner hat in der Sache eine allgemeine Ablehnung des auf höhere Leistungen gerichteten Begehrens formuliert, nicht allein in Bezug auf den im einstweiligen Rechtsschutzverfahren gestellten Antrag oder unter Verweis auf das fehlende Rechtsschutzbedürfnis, da eine normale Bearbeitung des Widerspruchs gar nicht möglich war. Damit ist der Antrag zulässig geworden.

Der Antrag ist auch begründet, es besteht ein Anordnungsanspruch wie auch ein Anordnungsgrund. Der Antragsteller hat Anspruch auf höhere Leistungen.

Gemäß § 3 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG erhalten Leistungsberechtigte nach § 1 Leistungen zur Deckung des Bedarfs an Ernährung, Unterkunft, Heizung, Kleidung, Gesundheitspflege und Gebrauchs- und Verbrauchsgütern des Haushalts (notwendiger Bedarf). Zusätzlich werden ihnen gemäß § 3 Abs. 1 Satz 2 AsylbLG Leistungen zur Deckung persönlicher Bedürfnisse des täglichen Lebens gewährt (notwendiger persönlicher Bedarf). Wird der notwendige persönliche Bedarf vollständig durch Geldleistungen gedeckt, so beträgt er gemäß § 3a Abs. 1 AsylbLG in der Fassung der Bekanntmachung über die Höhe der Leistungssätze nach § 3a Absatz 4 des Asylbewerberleistungsgesetzes für die Zeit ab 1. Januar 2024 vom 19. Oktober 2023 (BGBl. 2023 I Nr. 288) monatlich

1. für erwachsene Leistungsberechtigte, die in einer Wohnung im Sinne von § 8 Abs. 1 Satz 2 des Regelbedarfs-Ermittlungsgesetzes leben und für die nicht Nummer 2 Buchstabe a oder Nummer 3 Buchstabe a gelten, sowie für jugendliche Leistungsberechtigte, die nicht mit mindestens einem Elternteil in einer Wohnung leben, je 204 Euro

2. für erwachsene Leistungsberechtigte je 184 Euro, wenn sie
a) in einer Wohnung im Sinne von § 8 des Regelbedarfs-Ermittlungsgesetzes mit einem Ehegatten oder Lebenspartner oder in eheähnlicher oder lebenspartnerschaftsähnlicher Gemeinschaft mit einem Partner zusammenleben,
b) nicht in einer Wohnung leben, weil sie in einer Aufnahmeeinrichtung im Sinne von § 44 Absatz 1 des Asylgesetzes oder in einer Gemeinschaftsunterkunft im Sinne von § 53 Absatz 1 des Asylgesetzes oder nicht nur kurzfristig in einer vergleichbaren sonstigen Unterkunft untergebracht sind;…….

Der Antragsteller, der über eine Aufenthaltsgestattung nach dem Asylgesetz verfügt, gehört gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 1 AsylbLG zum Kreis der Leistungsberechtigten. Er ist auch hilfebedürftig (vgl. § 7 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG), denn er verfügt, wie er in der Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse zur Gewährung von Prozesskostenhilfe versichert hat – ob der Antragsgegner eine Einkommens- und Vermögensabfrage durchgeführt hat ist der vorgelegten Verwaltungsakte nicht zu entnehmen – nicht über Einkommen und Vermögen.

Zur Überzeugung des Gerichts hat der Antragsteller auch Anspruch auf Gewährung des hier in Rede stehenden notwendigen persönlichen Bedarfs nach Bedarfsstufe 1 gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylbLG, obwohl er in einer Aufnahmeeinrichtung untergebracht ist und damit die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 3a Abs. 1 Nr. 2b AsylbLG erfüllt. Dieser Vorschrift begegnen unter Berücksichtigung der Entscheidung des BVerfG vom 19.10.2022 – 1 BvL 3/21 – erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken. Das BVerfG hat für die Parallelvorschrift in § 2 Abs. 1 Satz 4 AsylbLG entschieden, dass die danach vorgesehene Leistungsgewährung nach Bedarfsstufe 2 für eine in einer Sammelunterkunft untergebrachte alleinstehende erwachsene Person mit Art. 1 Abs. 1 GG iVm Art. 20 Abs. 1 GG unvereinbar ist. Die Annahme des Gesetzgebers, den Leistungsberechtigten sei es möglich und zumutbar, in den Unterkünften eröffnete Möglichkeiten zu gemeinsamem Wirtschaften zu nutzen sowie die Berücksichtigung von dadurch erzielbaren Einsparungen bei der Bemessung des existenznotwenigen Bedarfs, ist zwar im Ausgangspunkt verfassungsrechtlich nach dem Nachranggrundsatz nicht zu beanstanden. Eine pauschale Absenkung existenzsichernder Leistungen lässt sich auf eine solche Obliegenheit aber nur dann stützen, wenn in den Sammelunterkünften auch tatsächlich die Voraussetzungen dafür vorliegen, dass die Obliegenheit erfüllt und so Einsparungen in tatsächlicher Höhe erzielen werden können. Die pauschale Absenkung stützt sich allerdings gerade nicht auf hinreichend tragfähige, empirische Erkenntnisse dazu, dass Bedarfe durch Verhalten der Betroffenen in diesem Umfang tatsächlich verringert werden könnten. Die Annahme, die Betroffenen bildeten eine „Schicksalsgemeinschaft“ reicht nicht. Auf der Grundlage der vorliegenden Erkenntnisse kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Betroffenen in der Regel hinreichend verlässliche Möglichkeiten haben, ihre Ausgaben für existenzsichernde Bedarfe durch gemeinsames Wirtschaften mit Mitbewohnern in dem vom Gesetzgeber angenommenen Maße zu verringern. Die pauschale Absenkung des Regelbedarfs nach § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG ist unter Berücksichtigung ihrer Ausgestaltung insgesamt nicht angemessen (BVerfG, Beschluss vom 19.10.2022 – 1 BvL 3/21 -, juris). Das BVerfG hat eine Übergangsregelung angeordnet, nach der für alleinstehende Erwachsene, die in einer Gemeinschaftsunterkunft oder in einer Aufnahmeeinrichtung untergebracht sind, unter den Voraussetzungen von § 2 Abs. 1 Satz 1 und Satz 4 Nr. 1 AsylbLG ein Regelbedarf in Höhe der Regelbedarfsstufe 1 anerkannt wird.

Die Überlegungen und Ausführungen des BVerfG müssen zur Überzeugung des erkennenden Gerichts umso mehr bezüglich der Absenkung des hier in Rede stehenden notwendigen persönlichen Bedarfs für alleinstehende Personen in Sammelunterkünften und Aufnahmeeinrichtungen gelten. In Bezug auf diesen Bedarf ist ein Einsparpotential in der Gemeinschaftsunterkunft schon denklogisch ungleich kleiner und tatsächlich nur in Nähebeziehungen zu realisieren. Auch hier besteht keine ausreichende Basis für eine Vergleichbarkeit mit der Situation von Paarhaushalten, die darauf gestützte Annahme (tatsächlicher) Einspareffekte und eines geringeren Bedarfs. Das bloße gemeinsame Wohnen in einer Gemeinschaftsunterkunft bzw. Aufnahmeeinrichtung vermag die Annahme von Einsparungen weder zu belegen noch zu begründen. § 3a Abs. 1 Nr. 2b AsylbLG ist daher verfassungskonform auszulegen und im Wege der normerhaltenden teleologischen Reduktion ist als ungeschriebene Voraussetzung ein tatsächliches „Füreinandereinstehen“ in die Vorschrift hineinzulesen. Das erkennende Gericht schließt sich insoweit ausdrücklich der Rechtsauffassung des Bayerischen Landessozialgerichts (Urteile vom 30.10.2023 – L 8 AY 33/23, vom 31.05.2023 – L 8 AY 7/23, vom 29.04.2021 – L 8 AY 122/20, alle juris) an. § 3a Abs. 1 Nr. 2b AsylbLG greift mithin nur dann ein, wenn sich ein tatsächliches „Füreinandereinstehen“ wie in der Konstellation des § 3a Abs. 1 Nr. 2a AsylbLG feststellen lässt. Das ist hier jedoch nicht der Fall. Es liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass der Antragsteller sich mit einer anderen Person in der Aufnahmeeinrichtung in einem Verhältnis des „Füreinandereinstehens“ befindet, die ein gemeinsames Wirtschaften erlaubt.

Soweit der Antragsgegner aus der Entscheidung des BVerfGs für das vorliegende Verfahren keine erheblichen Schlüsse ziehen will, weil sich die Sachverhalte wegen der Unterbringung in einer Sammelunterkunft und nicht wie vorliegend in einer Aufnahmeeinrichtung maßgeblich unterscheiden, überzeugt diese Differenzierung nicht. Der Gesetzgeber unterscheidet in § 3a AsylbLG wegen der Höhe der zu gewährenden Geldleistungen gerade nicht zwischen Sammelunterkünften und Aufnahmeeinrichtungen, vielmehr stellt er diese gleich. Ebenso wenig verfängt der Hinweis, Bedarfe seien in der Aufnahmeeinrichtung in weitergehendem Umfang gesichert als in Sammelunterkünften. Das Gesetz unterscheidet in § 3 AsylbLG zwischen notwendigen Bedarfen (Abs. 1) und notwendigen persönlichen Bedarfen (Abs. 2). Werden letztere nicht als Sachleistungen zur Verfügung gestellt, sondern als Geldleistungen, bestimmt sich die Höhe nach § 3a AsylbLG, Mischformen sieht das Gesetz nicht vor. Unabhängig davon, dass der Antragsgegner bereits nicht konkretisiert hat, welche der dem notwendigen persönlichen Bedarfe unterfallenden Bedürfnisse in der AfA in Form einer Sachleistung tatsächlich befriedigt werden, sieht das Gesetz für den Fall einer anderweitigen Bedarfsdeckung aber keine Absenkung des zu gewährenden Geldbetrages vor.

Tatsachen, die dem Anspruch entgegenstehende Leistungseinschränkungen begründeten, sind bei der gegebenen Sach- und Rechtslage nicht anzunehmen. An dem mit Schreiben vom 03.06.2024 erteilten Hinweis auf § 1a Abs. 7 AsylbLG wird nach nochmaliger Überprüfung der Sach- und Rechtslage nicht festgehalten.

Wegen des offensichtlichen Vorliegens eines Anordnungsanspruchs liegt auch ein Anordnungsgrund vor, in dieser Situation verringern sich die Anforderungen an den Anordnungsgrund. Der Antragsteller, der die Geldbeträge auch regelmäßig abholt, benötigt diese offensichtlich zur Deckung seines persönlichen Bedarfs. 10% der Leistung, wie sie hier in Rede stehen, sind im Hinblick auf die Höhe des Leistungsanspruchs auch durchaus relevant.

Die Kostenentscheidung folgt aus der entsprechenden Anwendung des § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG.

III.

Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe erfolgt gemäß § 73a SGG, §§ 114 ff ZPO, weil der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung in der Sache, wie zuvor dargelegt, hinreichend Aussicht auf Erfolg hat und der Antragsteller unter Berücksichtigung der Angaben in der Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse die Mittel zum Führen des Rechtsstreits nicht selbst aufbringen kann. Die Beiordnung von Rechtsanwalt Sven Adam erfolgt gemäß § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG iVm § 121 Abs. 2 ZPO mit der Maßgabe, dass durch seine Beiordnung keine weiteren Kosten entstehen (§ 121 Abs. 3 ZPO).

Der Beschluss über die Bewilligung von Prozesskostenhilfe ist für die Beteiligten unanfechtbar – § 73a Abs. 1 SGG iVm § 127 Abs. 2 ZPO. Er kann jedoch mit der Beschwerde der Staatskasse innerhalb von drei Monaten seit der Verkündung der Entscheidung angefochten werden (§ 127 Abs. 3 ZPO).

Es folgt die Rechtsmittelbelehrung.


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