Tacheles Rechtsprechungsticker KW 24/2024

1. Entscheidungen des Bundessozialgerichts zur Sozialhilfe (SGB XII)

1.1 – BSG, Urt. v. 12.12.2023 – B 8 SO 20/22 R

Sozialhilfe – Bestattungskosten – Anspruchsberechtigung – landesrechtliche Bestattungspflicht – Erbausschlagung

Hat ein nach Landesrecht vorrangig Bestattungspflichtiger, der das Erbe ausgeschlagen, aber die Bestattung durchgeführt hat, einen Anspruch nach § 74 SGB 12, wenn eine andere Person das Erbe angetreten hat?

BSG: Anspruch bejaht auf Übernahme von Bestattungskosten eines nachrangig Verpflichteten (Tacheles e. V.)

Leitsatz Redakteur v. Tacheles e. V.
1. Die Anspruchsberechtigung nach § 74 SGB XII dem Grunde nach ist nicht bereits unter Verweis auf vorrangig Verpflichtete ausgeschlossen. Ob einem (nachrangig) Verpflichteten ein Anspruch zusteht oder er auf vorrangige Ansprüche verwiesen werden kann, ist eine Frage der Prüfung des Tatbestandsmerkmals der Zumutbarkeit.

2. Die Mahn- und Verzugskosten aus dieser Rechnung gehören nur dann zu den erforderlichen Bestattungskosten, wenn sie für die Klägerin gerade wegen ihrer Mittellosigkeit unabwendbar waren und keine anderen Möglichkeiten (etwa Ratenzahlung oder Stundungsabrede) bestanden, um solche Kosten zu vermeiden.

3. Kosten für die Einäscherung, die mit der gewählten Bestattung zwingend verbunden sind, und die Kosten für die Trauerrede sind in voller Höhe als angemessene Bestattungskosten zu übernehmen.

Volltext: www.rechtsprechung-im-internet.de

Lesetipp:
BSG zum Vorrang von landesrechtlichen Bestattungspflichten bei Erbausschlagung

Schreibt das Landesrecht eine vorrangige Bestattungspflicht des Ehegatten vor, ist die Verpflichtung zur Kostentragung für den Ehegatten bindend, auch wenn er das Erbe ausgeschlagen hat.

weiter: www.wolterskluwer.com

2. Entscheidungen der Landessozialgerichte zum Bürgergeld (SGB II)

2.1 – LSG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 23.06.2021 – L 4 AS 305/20 – nachgehend BSG, 3. Dezember 2021, B 4 AS 230/21 B, Beschluss

Bedarfsbezogene Bewilligung von Leistungen des Grundsicherungsträgers für die Erstausstattung der Wohnung – Auszug aus der Wohnung vor Beschaffung der bewilligten Einrichtungsgegenstände

Orientierungssatz www.landesrecht.sachsen-anhalt.de
1. Nach § 24 Abs. 3 SGB 2 werden Leistungen für die Erstausstattung der Wohnung einschließlich Haushaltsgeräten gesondert erbracht. Ein geltend gemachter Bedarf kann sich immer nur auf eine konkrete Wohnung beziehen. (Rn.21)

2. Stehen dem Leistungsberechtigten Einrichtungsgegenstände, z. B. durch Mitbewohner, zur Nutzung zur Verfügung, so hat er für diese keinen nach § 24 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 SGB 2 relevanten Erstausstattungsbedarf. Gibt er die Wohnung auf, bevor er die benötigten und bewilligten Erstausstattungsgegenstände beschafft hat, so erledigt sich die bedarfs- und wohnungsbezogene Bewilligungsentscheidung auf sonstige Weise, § 39 Abs. 2 SGB 10. (Rn.34)

2.2 – LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss v. 04.04.2024 – L 2 AS 30/24 NZB

Leitsätze www.landesrecht.sachsen-anhalt.de
Die vom Grundsicherungsträger für das Jahr 2019 als angemessen ermittelten Unterkunftskosten in der Stadt Halle (Saale) werfen für einen Drei-Personen-Haushalt keine Fragen von grundsätzlicher Bedeutung auf.

2.3 – LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss v. 22.03.2024 – L 2 AS 29/24 NZB

Leitsätze www.sozialgerichtsbarkeit.de
Wird der angegriffene Verwaltungsakt während des Berufungsverfahrens vollständig ersetzt, fehlt für eine parallel betriebene Nichtzulassungsbeschwerde das Rechtsschutzbedürfnis. Der neue Bescheid ist gem § 96 SGG iVm § 153 Abs 1 SGG Gegenstand des Berufungsverfahrens geworden. Über ihn ist auch bei nicht statthafter Berufung (erstinstanzlich) “auf Klage” zu entscheiden.

2.4 – LSG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 31.01.2024 – L 4 AS 503/20

Aufforderung zur vorzeitigen Rentenantragstellung nach § 12a SGB II – Frist zur Antragstellung

Eine starre Frist war nicht angezeigt.

Orientierungshilfe Verein Tacheles e. V.
1. Eine starre Frist sei nicht angezeigt, denn im Einzelfall könne auch eine kurze Frist noch angemessen sein, die jedoch eine Woche nicht unterschreiten solle (LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 18. November 2016 – L 4 AS 550/16 B ER).

2. Eine Frist von 15 Tagen ist unbedenklich (LSG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 22.07.2020 – L 4 AS 647/18).

3. Außerdem habe er unter Verweis auf eine Entscheidung des 5. Senats des LSG (Beschluss vom 1. März 2016, L 5 AS 25/16 B ER) die Auffassung vertreten, dass eine zu kurze Frist die Aufforderung nicht unwirksam mache, sondern ggf. die ersatzweise Antragstellung auf einen Zeitpunkt nach Ablauf einer angemessenen Frist zu verschieben sei. So liege der Fall hier.

Rechtstipp Tacheles e. V.
1. Die Länge der Frist ist gesetzlich nicht geregelt. Eine starre Vorgabe wäre auch nicht sachgerecht. Das BSG hat in seiner bisherigen Rechtsprechung Fristen von ca. zwei bis drei Wochen nicht beanstandet. Es hat ausgeführt, zwar erscheine die Anordnung einer Umsetzungsfrist, die die Rechtsbehelfsfrist unterschreitet, grundsätzlich problematisch, habe aber im Ergebnis keine Konsequenz, weil Widerspruch und Anfechtungsklage gegen einen Verwaltungsakt, mit dem zur Beantragung einer vorrangigen Leistung aufgefordert wird, abweichend von § 86a Abs. 1 Satz 1 SGG keine aufschiebende Wirkung (§ 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG in Verbindung mit § 39 Nr. 2 SGB II) entfalten (vgl. BSG, Urteil vom 19. August 2015 – B 14 AS 1/15 R; zuletzt: Urteil vom 22. September 2022 – B 4 AS 60/21 R mit weit. Nachweisen).

2. Hinweis zum Bürgergeld: Abschaffung der generellen Pflicht zur vorzeitigen Rentenantragsstellung wegen Alters.

3. Bislang galt beim Arbeitslosengeld II eine generelle Pflicht zur Inanspruchnahme vorzeitiger Renten wegen Alters – wenn auch mit einem langen und komplizierten Ausnahmekatalog. Mit dem Bürgergeld-Gesetz ist diese Regelung weitgehend abgeschafft worden. Die Abschaffung ist allerdings befristet bis Ende 2026.

2.5 – LSG Niedersachsen-Bremen, Kostenbeschluß vom 22.05.2024 – L 9 AS 208/22

Wird die Berufung durch den Kläger zurückgenommen, so wird das angefochtene Urteil der Vorinstanz rechtskräftig, mithin auch die darin enthaltene Kostenentscheidung. Das Berufungsgericht ist dann nur befugt, wie bei der Verwerfung des Rechtsmittels als unzulässig, über die Kosten der Berufung zu befinden.

Anmerkung (RA Johannes Christian Heemann, Dresden):
Die von dem Berichterstatter des 9. Senats des LSG Niedersachsen-Bremen vertretene Rechtsauffassung ist abzulehnen.

Gemäß § 202 Satz 1 SGG i. V. m. § 269 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 ZPO wird bei Klagerücknahme ein bereits ergangenes, noch nicht rechtskräftiges Urteil wirkungslos, ohne dass es seiner ausdrücklichen Aufhebung bedarf. Dies ergibt sich im Umkehrschluss auch aus § 192 Abs. 3 Satz 1 SGG (LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 13.07.2016 – L 18 R 517/16 B).

Da bei Klagerücknahme in der Berufungsinstanz die in der Vorinstanz ergangene Entscheidung mit der darin enthaltenen Kostengrundentscheidung wirkungslos wird, betrifft die Kostenentscheidung nach § 102 Abs. 3 Satz 1 i. V. m. § 193 Abs. 1 Satz 3 SGG die Kosten des Rechtsstreits in allen Rechtszügen (BSG, Beschluss vom 16.05.2007 – B 7b AS 40/06 R; BSG, Urteil vom 06.06.2023 – B 12 R 14/21 R; Meyer-Ladewig et al., SGG, 12. Aufl. 2017, § 102 Rn. 9f.; Fichte/Jüttner, SGG, 3. Aufl. 2020, § 102 Rn. 13f.).

3. Entscheidungen der Sozialgerichte zum Bürgergeld (SGB II)

3.1 – SG Dresden, Urt. v. 31.01.2024 – S 20 AS 1478/20

Leitsätze www.sozialgerichtsbarkeit.de
1. Die Zuwendung der Sächsischen Aufbaubank in Höhe von 5.000 € (“Corona-Soforthilfe”) ist bei der Einkommensberechnung aus selbständiger Tätigkeit nicht als Betriebseinnahme zu berücksichtigen (ebenso: LSG BB, Urteil vom 15. September 2021 – L 18 AS 884/21 –).

2. Dem steht nicht entgegen, die Zuwendung auf die Betriebsausgaben anzurechnen. Denn sie verfolgte genau den Zweck der Finanzierung von Verbindlichkeiten aus dem fortlaufenden erwerbsmäßigen Sach- und Finanzaufwand des Unternehmens.

3. Betriebsausgaben, die über die Zuwendung der SAB finanziert werden konnten, müssen dann bei der grundsicherungsrechtlichen Einkommensberechnung außer Betracht bleiben, da sie andernfalls doppelt ausgeglichen würden.

Bemerkung
Anrechnung von Corona-Soforthilfe als Betriebseinnahme im SGB II

Rechtstipp Tacheles e. V.
1. LSG NRW, Urt. v. 21.02.2024 – L 12 AS 1422/22 – Corona-Soforthilfe ist keine Betriebseinnahme

2. ebenso Sächsisches LSG Beschluss vom 26.01.2021, L 8 AS 748/20 B ER; SG Berlin Urteil vom 04.07.2022, S 123 AS 8864/20; SG Detmold, Urt. v. 17.01.2023 – S 35 AS 1024/21 u. S 35 AS 1022/21, SG Hamburg, Beschluss v. 19.10.2020 – S 13 AS 2583/20 ER

3.2 – Sozialgericht Kassel – Gerichtsbescheid vom 24.05.2024 – Az.: S 4 AS 542/20

SG Kassel zu den Unterkunftskosten während der Pandemie: Anlehnung an BSG, Urteil vom 14.12.2023 – B 4 AS 4/23 R

Eine Angemessenheitsprüfung der KdUH wird nicht vorgenommen.

2. § 67 Abs. 3 SGB II findet nicht nur auf Neu-, sondern auch auf Fortzahlungsanträge Anwendung.

Orientierungssatz Verein Tacheles e. V.
1. Für Bewilligungszeiträume, die in der Zeit vom 1.3.2020 bis zum 31.3.2022 beginnen, sind aufgrund der im damaligen Zeitraum herrschenden COVID-Pandemie, Sonderregeln im SGB II geschaffen worden, die auch im vorliegenden Fall als einschlägig zu beachten sind. Nach § 67 Abs. 3 S. 1 SGB II ist der zitierte § 22 Abs. 1 SGB II im vorbenannten Zeitraum mit der Maßgabe anzuwenden, dass die tatsächlichen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung „für die Dauer von sechs Monaten als angemessen gelten“. Dies bedeutet, dass in solchen Fällen eine Angemessenheitsprüfung der KdUH nicht vorgenommen wird.

2. Diese Sondervorschrift gilt für alle im vorgenannten Zeitraum beginnenden Bewilligungszeiträume, also sowohl für „neue“ Bewilligungen an Berechtigte, die bisher noch nicht im SGB II-Leistungsbezug standen, als auch für Personen, die bereits länger im Leistungsbezug stehen und entsprechende Weiterbewilligungsanträge gestellt haben (vgl. BSG, Urteil vom 14.12.2023 – B 4 AS 4/23 R; Beschluss des Hessischen Landessozialgerichts vom 21.2.2022 – L 6 AS 585/21 B ER, Groth in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl. § 67, 1. Überarbeitung, Stand 30.5.2022, Rn 28).

Quelle: RA Sven Adam

3.3 – SG Chemnitz, Beschluss v. 07.05.2024 – S 6 AS 361/24 ER

SG Chemnitz: Existenzsicherung ist immer eilig…

Orientierungssatz RA Volker Gerloff (Newsletter – 08 – 2024)
Wenn existenzsichernde Leistungen nicht gewährt werden, kann eine Fristsetzung für die Entscheidung über einen Widerspruch von 5 Tagen angemessen sein (SG Chemnitz vom 07.05.2024 – S 6 AS 361/24 ER). Damit konnte zulässigerweise nach Ablauf der 5 Tage Eilrechtsschutz beantragt werden.

4. Entscheidungen der Landessozialgerichte zum Arbeitsförderungsrecht (SGB III)

4.1 – LSG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 06.05.2024 – L 2 AL 25/20

Leitsätze www.sozialgerichtsbarkeit.de
1. Arbeitslose, die zuvor in Altersteilzeit gearbeitet haben, werden bei der Bemessung des Arbeitslosengeldes nur bis zu dem Zeitpunkt durch die Berücksichtigung eines fiktiven Arbeitsentgelts privilegiert, zu dem sie erstmals eine Altersrente in Anspruch nehmen können. Dies gilt auch, wenn die Altersrente mit Abschlägen behaftet ist (vgl BSG, Urt v 15. Dezember 2005, B 7a AL 30/05 R, juris RN 14; BSG, Urt v 22. September 2022, B 11 AL 31/21 R, juris RN 26).

2. Wird die Altersteilzeitvereinbarung bis zum Ende der Freistellungsphase und damit bis zum möglichen Altersrentenbeginn durchgeführt und scheidet der Arbeitnehmer vereinbarungsgemäß aus dem Arbeitsverhältnis aus, kann er von der Privilegierung des § 10 Abs 1 Satz 1 AltTZG nicht profitieren. Dies gilt auch, wenn sich die Gesetzeslage nach Abschluss der Altersteilzeitvereinbarung geänderten hat (hier: durch das RV-Leistungsverbesserungsgesetz), der Arbeitslose dadurch die Möglichkeit erhalten hat, früher eine ungeminderte Rente in Anspruch zu nehmen, und er sich deshalb dafür entscheidet, für die nur wenige Monate dauernde Zwischenzeit Arbeitslosengeld in Anspruch zu nehmen.

5. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Sozialhilfe (SGB XII)

5.1 – LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss v. 16.04.2024 – L 8 SO 36/22

Leitsätze www.sozialgerichtsbarkeit.de
Im Rahmen der verfassungsrechtlich geschützten Elternrechte der sorgeberechtigten Kindesmutter und des ebenfalls verfassungsrechtlich geschützten Kindeswohls, das nach der Rechtsprechung des BVerfG eine eindeutige rechtliche Regelung verlangt, wer für das Kind rechtsverbindlich handeln kann, bedarf es der Mitwirkung der Kindesmutter für einen Wechsel von dem Bezug von Leistungen nach dem SGB II in der Bedarfsgemeinschaft der Mutter zu dem Bezug von Leistungen der Sozialhilfe nach dem SGB XII bei der Aufnahme in den Haushalt der Großmutter, soweit nicht eine Unterbringung oder Pflege auf rechtlicher Grundlage angeordnet oder rechtsverbindlich vereinbart ist.

5.2 – LSG BW, Urt. v. 17.11.2022 – L 7 SO 1468/22 – beim BSG anhängig unter dem Az.: B 8 SO 4/24 R

Waren die nach § 29 SGB XII bestimmten Regelsätze in der 1. Hälfte des Jahres 2022 verfassungskonform?

Orientierungssatz Verein Tacheles e. V.
1. Mindert ein Leistungsberechtigter gegenüber seinem Vermieter die Unterkunftskosten, sind dies die tatsächlich zu Berücksichtigenden laufenden Unterkunftskosten, sofern die Mietminderung nicht offensichtlich unwirksam ist (vgl. zum SGB II LSG Bayern, Urteil vom 14. Mai 2014 – L 11 AS 828/13 ; LSG Schleswig-Holstein, Urteil vom 29. Oktober 2020 – L 6 AS 21/18; LSG Sachsen, Urteil vom 17. März 2022 – L 3 AS 568/21; Berlit, jurisPR-SozR 26/2014 Anm. 1).

2. Kosten für einen Kabelanschluss können nur übernommen werden bei Verpflichtung zur Zahlung durch den Mietvertrag, heir nicht vorliegend.

3. Auch ein Anspruch der Klägerin auf Übernahme der Kabelgebühren als Hilfe in sonstigen Lebenslagen gemäß § 73 SGB XII scheidet aus ((vgl. auch SG Detmold, Urteil vom 8. Juli 2017 – S 8 SO 200/13; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 23. September 2013 – L 20 SO 279/12 -).

4. Weiterhin auch keinen Anspruch auf Gewährung der Kosten für einen Kabelanschluss gemäß § 42 SGB XII i.V.m. § 27a SGB XII.

5. Die Vorschrift in § 141 Abs. 2 SGB XII ist jedenfalls für die Zeit ab 1. Januar 2022 nicht anwendbar, weil die Nichtberücksichtigung von Vermögen (nur) für die Dauer von sechs Monaten gilt, beginnend mit dem ersten Bewilligungszeitraum, hier also dem Zeitraum vom 1. Juli 2021 bis 31. Dezember 2021 (so auch LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 28. Juni 2022 – L 9 SO 140/22 B ER – juris Rdnr. 8; Kirchhoff in Hauck/Noftz, SGB XII, Stand August 2022, § 141 Rdnr. 14; Groth in jurisPK-SGB XII, 3. Auflage 2020 [Stand 30. Mai 2022], § 141 Rdnrn. 18 f.).

6. Bewilligungen von Sozialhilfeleistungen (§ 42 SGB XII) können auch für kürzere Zeiträume ausgesprochen werden (hier aufgrund der Pandemie).

Anmerkung:
Kann man die aktuelle Rechtsprechung des BSG zur KdU B 4 AS 4/23 R während Pandemie auch auf das Vermögen übertragen, soll heißen, nicht nur 6 Monate?

BSG:
Das BSG hat mit Urteil vom 14. Dez. 2023 – B4 AS 4/23 R entschieden, dass die Angemessenheitsfiktion der Unterkunfts- und Heizkosten des § 67 Abs. 1 und Abs. 3 SGB II im gesamten Zeitraum aller Bewilligungsabschnitte, die zwischen 03/2020 bis 12/2022 begonnen haben, anzuwenden ist.

Verschiedene Rechtsanwälte, Harald Thome, aber auch ich meinen jetzt, diese Rechtsprechung müsste auch auf das Vermögen im SGB XII (§ 141 Abs. 2 SGB XII) übertragbar sein!

5.3 – SG Berlin, Beschluss vom 31.05.2024 – S 184 SO 911/24 ER

SG Berlin: Eilantrag ist stattzugeben, wenn Behörde nicht reagiert

Dazu RA Volker Gerloff (Newsletter – 08- 2024 -)
Immer wieder verzögern sich Eilverfahren, weil die Behörde nicht auf Anfragen des Gerichts reagiert. Bei mir kam es auch schon vor, dass das Gericht immer wieder die Behörde erinnerte und schließlich erklärte „sonst muss dem Antrag stattgegeben werden“. Im Gegenzug werden Antragstellenden nicht selten Fristen von 2-3 Tagen gesetzt…
Das SG Berlin hat gezeigt, wie effektiver Rechtsschutz geht: Wenn die Behörde eine Stellungnahmefrist verstreichen lässt, dann hat sie auf Ihr rechtliches Gehör verzichtet und dem schlüssigen Antrag ist stattzugeben – immerhin wurde auch hier ca. 4 Wochen abgewartet.

6. Entscheidungen zum Asylrecht und AsylbLG

6.1 – Sozialgericht Trier – Beschluss vom 31.05.2024 – Az.: S 5 AY 76/24 ER

Normen: § 3 AsylbLG, § 3a AsylbLG, § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG – Schlagworte: Regelbedarfsstufe 1, Regelbedarfsstufe 2, Leistung nach §3 AsylbLG, Leistung nach §3a AsylbLG, Sozialgericht Trier

Es bestehen erhebliche Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit der in § 3a Abs 1 Nr 2 Buchst b und § 3a Abs 2 Nr 2 Buchst b AsylbLG geregelten Bedarfsstufen für erwachsene Leistungsberechtigte ohne Partner, die in Aufnahmeeinrichtungen, Gemeinschaftseinkünften oder vergleichbaren Unterkünften untergebracht sind (Verein Tacheles e. V.)

Orientierungssatz Verein Tacheles e. V.
1. Gewährung von Leistungen gemäß §§ 3, 3a Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) in der Regelbedarfsstufe 1.

2. Diverse Gerichte hätten bereits Bedenken im Hinblick auf die Verfassungsmäßigkeit der Leistungsgewährung nach Bedarfsstufe 2 im Fall des Bezugs von Leistungen nach §§ 2, 3, 3a AsylbLG bei Personen, welche in Gemeinschaftsunterkünften lebten, geäußert (beispielsweise Verweis auf Sozialgericht <SG> Landshut, Beschluss vom 24.10.2019 – S 11 AY 64/19 ER; SG Kassel, Beschluss vom 26.11.2019 – S 11 AY 19/19 ER; SG Freiburg, Beschluss vom 03.12.2019 – S 9 AY 4605/19 ER; SG München, Hinweis vom 31.01.2020 – S 42 AY 4/20 ER; SG Hannover, Beschluss vom 20.12.2019 – S 53 AY 107/19 ER; SG Leipzig, Beschluss vom 08.01.2020 – S 10 AY 40/19 ER; SG Frankfurt, Beschluss vom 14.01.2020 – S 30 AY 26/19 ER; SG Dresden, Beschluss vom 04.02.2020 – S 20 AY 86/19 ER; Landessozialgericht <LSG> Sachsen, Beschluss vom 23.03.2020 – L 8 AY 4/20 B ER; SG Kassel, Urteil vom 19.11.2020 – S 12 AY22/20; SG Marburg, Gerichtsbescheid vom 31.12.2020 – S 9 AY 1/20; LSG Hessen, Beschluss vom 13.04.2021 – L 4 AY 3/21 B ER).

3. Die Annahme von Einsparungen dürfte bei lebensnaher Auslegung der tatsächlichen Situation in den Unterkünften, welche durch zufällige vorübergehende Unterbringung fremder Menschen gekennzeichnet ist, allenfalls nur bei besonderen Nähebeziehungen in Betracht kommen und nicht pauschal angenommen werden. Eine solche Bindung kann regelmäßig nicht mit derjenigen von Lebenspartnern, die füreinander einstehen (wollen) und sich vertrauensvoll untereinander absprechen, vergleichbar sein (vgl. SG Frankfurt, Beschluss vom 14.01.2020 – S 30 AY 26/19 ER, juris). Das bloße gemeinsame Wohnen in einer Gemeinschaftsunterkunft bzw. Aufnahmeeinrichtung vermag die Annahme von tatsächlichen Einspareffekten und somit eines geringen lebensnotwendigen Bedarfs weder zu belegen noch zu begründen.

4. Daher ist § 3a Abs. 1 Nr. 2 b AsylbLG verfassungskonform auszulegen und im Wege der normerhaltenden teleologischen Reduktion ein „Füreinandereinstehen“ als ungeschriebene Tatbestandsvoraussetzung in die Vorschrift hineinzulesen. Das Gericht schließt sich damit ausdrücklich der Rechtsauffassung des Bayerischen Landessozialgerichts und des Sozialgerichts Trier sowie des Sozialgerichts Heilbronn an (vgl. LSG Bayern, Urteil vom 29.04.2021 – L 8 AY 122/20, juris; LSG Bayern, Urteil vom 31.05.2023 – L 8 AY 7/23; LSG Bayern, Urteil vom 30.10.2023 – L 8 AY33/23, juris; SG Trier,Beschluss vom 15.04.2024 – S 3 AY7/24 ER; SG Trier, Beschluss vom 07.05.2024 – S 3 AY65/24 ER; SG Trier,Beschluss vom 14.05.2024 – S 3 AY 66/24 ER; SG Heilbronn, Beschluss vom 05.03.2024 – S 16 AY 395/24 ER).

5. § 3a Abs. 1 Nr. 2 b AsylbLG greift mithin nur dann ein, wenn sich ein tatsächliches „Füreinandereinstehen“, wie der Konstellation des § 3a Abs. 1 Nr. 2 a AsylbLG immanent, feststellen lässt. Zu den anerkannten Auslegungsmethoden des Gesetzes zählt neben der Auslegung von Wortlaut, Entstehungsgeschichte, Gesamtzusammenhang und Sinn und Zweck der Gesetzesregelung ebenfalls eine sogenannte verfassungskonforme Auslegung (vgl. LSG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 21.01.2021 – L 9 AY 27/20 B ER juris; BVerfG, Beschluss vom 19.06.1973 – 1 BvL 39/69, juris).

Quelle: RA Sven Adam

6.2 – Hessisches Landessozialgericht – Beschluss vom 13.05.2024 – Az.: L 4 AY 1/24 B – veröffentlicht im Tacheles Rechtsprechungsticker KW 21/2024

Normen: § 3 AsylbLG, § 3a AsylbLG, § 44 SGB X – Schlagworte: Regelbedarfsstufe 1, Regelbedarfsstufe 2, Leistung nach § 3 AsylbLG, Leistung nach §3a AsylbLG, Prozesskostenhilfe, Überprüfungsantrag

Keine niedrigere Regelbedarfsstufe bei alleinstehenden Leistungsberechtigten in einer Gemeinschaftsunterkunft – Gewährung auch mittels Überprüfungsantrag möglich – Gewährung Prozesskostenhilfe (Tacheles e. V.)

Dazu jetzt auch RA Volker Gerloff:
Das LSG Hessen hat am 13.05.2024 (L 4 AY 1/24 B) entschieden, dass zumindest für Grundleistungen nach §§ 3, 3a AsylbLG auch im Überprüfungsverfahren nach § 44 SGB X die Bedarfsstufe 1 für alleinstehende und alleinerziehende Erwachsene in Sammelunterkünften zu gewähren ist (Newsletter von RA Volker Gerloff – 08 – 2024).

7. Fragen zum Bürgergeld, Sozialhilfe und anderen Gesetzesbüchern – Urheberrechtsschutz – Zitieren nur mit Verweis auf Tacheles e. V. Gestattet!

7.1 – Newsletter von RA Volker Gerloff – 08- 2024 –

Beispielhaft aus dem Newsletter: Ernährungsarmut und Regelsatz

Die Anteile für Ernährung im Grundbedarfssatz und Regelsatz reichen nicht aus, um eine menschenwürdige gesunde Vollwertkosten zu gewährleisten. Eins meiner „Lieblingsthemen“ und ein Thema, das von Behörden und Gerichten regelmäßig mit einem Augenrollen ignoriert wird.

Dazu ein brandneuer Text von Sarah Lincoln (GFF) und Ulrike Müller (Juristin und Rechtssoziologin): Ernährung am Existenzminimum – Wie viel Gesundheit verlangt das Grundgesetz?

Und – zum wiederholten Mal – weil es hier gut passt: Wissenschaftlicher Dienst zu Kosten einer Ernährung nach den Empfehlungen der DGE und das Gutachten von „Rechtsanwälte Günther“

Zum ganzen Newsletter

7.2 – Folgende 2 Rechtsfragen sind beim 8. Senat des Bundessozialgerichts hinsichtlich der Regelsatzhöhe im SGB XII anhängig

B 8 SO 4/24 R
Vorinstanz: Landessozialgericht Baden-Württemberg, L 7 SO 1468/22, 17.11.2022

Waren die nach § 29 SGB XII bestimmten Regelsätze in der 1. Hälfte des Jahres 2022 verfassungskonform?

B 8 SO 5/24 R
Vorinstanz: Landessozialgericht Baden-Württemberg, L 7 SO 296/23, 27.04.2023

Waren die nach § 29 SGB XII bestimmten Regelsätze in der 2. Hälfte des Jahres 2022 verfassungskonform?

7.3 – Sozialleistungen für den Monat der Fälligkeit einer Nebenkostennachforderung, ein Beitrag von RA Helge Hildebrandt

Auch Menschen, die aufgrund ihres regelmäßigen Einkommens keinen Anspruch auflaufende Sozialleistungen haben, können aufgrund einer Nachforderung aus einer Betriebs- oder Heizkostenabrechnung hilfebedürftig werden. Sie haben dann einen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II (Bürgergeld) bzw. SGB XII (Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung) für den Monat, in dem die Nachforderung fällig wird, also zu bezahlen ist. Gleiches gilt bei Bevorratung mit Heizmittel (z.B. Öl) bei einer selbst betriebenen Heizungsanlage.

Weiter zu RA Helge Hildebrandt

7.4 – Jobcenter zahlt Miete: Mieter hat kein Recht auf Rückerstattungen

Wer vom Jobcenter als Teil des ALG II oder heute des Bürgergelds die Miete bezahlt bekommt, der kann, sollte es Rückerstattungen der Mietzahlungen etwa wegen Mietwuchers geben, diese nicht beanspruchen. Denn der BGH hat entschieden, dass diese auf den Sozialleistungsträger übergehen.

weiter: rsw.beck.de

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Verfasser des Rechtsprechungstickers: Redakteur von Tacheles Detlef Brock
Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker