BESCHLUSS
in dem Verfahren
xxx,
– Antragsteller –
Proz.-Bev.:
Rechtsanwalt Sven Adam
Lange-Geismar-Str. 55, 37073 Göttingen
gegen
Land Baden-Württemberg
vertreten durch das Landratsamt Ludwigsburg Fachbereich Asyl
Hindenburgstr. 40, 71638 Ludwigsburg
– Antragsgegner –
Die 16. Kammer des Sozialgerichts Heilbronn
hat am 3. Juli 2024 in Heilbronn
durch den Richter am Sozialgericht xxx
ohne mündliche Verhandlung beschlossen:
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, vorläufig vom 7. Juni 2024 bis zum 30. November 2024, dem Antragsteller Leistungen nach § 2 Abs. 1 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) unter Anrechnung bereits erbrachter Leistungen zu gewähren.
Der Antragsgegner hat die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers zu erstatten.
Dem Antragsteller wird Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt Sven Adam gewährt.
GRÜNDE
I.
Der Antragsteller ist afghanischer Staatsangehöriger und reiste am 24. Februar 2022 erstmals ins Bundesgebiet ein und stellte einen Asylantrag, über den noch nicht entschieden ist. Der Antragsteller stellte bereits zuvor in Slowenien einen Antrag auf einen Schutzstatus. Über sein Geburtsdatum machte der Antragsteller widersprüchliche Angaben.
Seit seiner Einreise bezog der Antragsteller Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, die Bewilligung nach den §§ 1, 3 ff AsylbLG erfolgte mit Bescheid des Antragsgegners vom 4. Juli 2022. Mit diesem Bescheid gewährte der Antragsgegner die tatsächlichen Kosten der zugewiesenen Unterkunft als auch Leistungen nach der jeweiligen Regelbedarfsstufe 2. Mit Bescheid vom 28. Februar 2024 änderte der Antragsgegner den Bescheid vom 4. Juli 2022 für die Monate Januar und Februar 2024, da es aufgrund einer verspätet mitgeteilten Arbeitsaufnahme zu einer Überzahlung für Januar 2024 gekommen sei und im Februar 2024 ebenfalls der Lohn anzurechnen sei. Im Übrigen, also ab März 2024, verbleibe es bei dem Bescheid vom 4. Juli 2022.
Gegen den Bescheid vom 28. Februar 2024 erhob der Antragsteller durch seinen Bevollmächtigten am 5. April 2024 Widerspruch, mit dem er auch geltend machte, ihm Leistungen gemäß § 2 AsylblG zu gewähren. Dieser sei nicht verfristet, da die Rechtsbehelfsbelehrung unvollständig gewesen sei.
Ein Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes, das der Antragsteller am 7. April 2024 zum Sozialgericht Heilbronn anhängig machte (S 16 AY 733/24 ER), blieb ohne Erfolg, da es bezogen auf den Antrag am 5. April 2024 am Rechtsschutzbedürfnis zu diesem Zeitpunkt fehlte. Die Beschwerde hiergegen blieb ebenfalls ohne Erfolg (L 7 AY 1388/24 ER-B).
Am 7. Juni 2024 hat der Antragsteller durch seinen Bevollmächtigten einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung beim Sozialgericht Heilbronn gestellt. Die „Wartefrist“ des § 2 Abs. 1 AsylbLG sei bereits lange überschritten und die Dauer des Aufenthaltes des Antragstellers sei nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst. Es bestehe mithin ein Anspruch auf Leistungen nach § 2 AsylbLG.
Der Antragstellerbevollmächtigte beantragt,
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig und unter dem Vorbehalt der Rückforderung bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung über den Widerspruch des Antragstellers vom 05.04.2024 gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 28.02.2024 (Az.: 3345.921821) unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts die beantragten Leistungen in gesetzlicher Höhe ab Eingang dieses Antrages bei Gericht zu gewähren.
Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Im Wesentlichen verweist er darauf, dass der Bescheid vom 28. Februar 2024 bereits bestandskräftig sei, da der Widerspruch unzulässig gewesen sei, da die Widerspruchsfrist nicht eingehalten worden sei.
Den Widerspruch hat der Antragsgegner mit Widerspruchsbescheid vom 28. Juni 2024 zurückgewiesen, der Widerspruch sei bereits unzulässig, da verfristet.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und die beigezogene Verwaltungsakte des Antragsgegners verwiesen.
II.
Der Antrag ist zulässig und begründet.
Nach § 86b Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (§86b Abs. 2 Satz 2 SGG). Dies ist der Fall, wenn es dem Antragsteller nach einer Interessenabwägung unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls nicht zumutbar ist, die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten (Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG-Kommentar, 14. Auflage 2023, § 86b Rn. 28). Die Erfolgsaussicht des Hauptsacherechtsbehelfs (Anordnungsanspruch) und die Eilbedürftigkeit der erstrebten einstweiligen Regelung (Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO)). Ein Anordnungsanspruch ist glaubhaft gemacht, wenn der Antragsteller nach materiellem Recht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit einen Anspruch auf die begehrte Leistung hat (Burkiczak in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl., § 86b SGG Rn. 384 (Stand: 04.03.2024)). Das Gericht führt hierzu eine summarische Prüfung der Sach- und Rechtslage in dem Umfang durch, wie es in der zur Verfügung stehende Zeit möglich ist, wobei die Prüfung umso eingehender erfolgt, je schwerer die möglichen Folgen wiegen (Binder in Berchtold, Sozialgerichtsgesetz, 6. Auflage 2021, § 86b Rn. 41). Ein Anordnungsgrund ist nur dann glaubhaft gemacht, wenn überwiegend wahrscheinlich ist, dass dem Antragsteller bei einem Abwarten des Ausgangs des Hauptsacheverfahrens unzumutbare Nachteile entstünden (Burkiczak a.a.O. Rn. 412 (Stand: 10.01.2020)).
Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund stehen in einer Wechselbeziehung zueinander, nach der die Anforderungen an den Anordnungsanspruch mit zunehmender Eilbedürftigkeit bzw. Schwere des drohenden Nachteils (dem Anordnungsgrund) zu verringern sind und umgekehrt. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund bilden aufgrund ihres funktionalen Zusammenhangs ein bewegliches System (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 14. Auflage 2020, § 86b Rn. 27, 29 und 29a m.w.N.). Wäre eine Klage in der Hauptsache offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist der Antrag auf einstweilige Anordnung ohne Rücksicht auf den Anordnungsgrund grundsätzlich abzulehnen, weil ein schützenswertes Recht nicht vorhanden ist. Wäre eine Klage in der Hauptsache dagegen offensichtlich begründet, so vermindern sich die Anforderungen an den Anordnungsgrund, auch wenn in diesem Fall nicht gänzlich auf einen Anordnungs-grund verzichtet werden kann. Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens, wenn etwa eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im einstweiligen Verfahren nicht möglich ist, ist im Wege der Folgenabwägung zu entscheiden, welchem Beteiligten ein Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache eher zuzumuten ist (LSG Hessen 13.03.2008 – L 7 SO 100/07 ER).
Jedoch stellt Art. 19 Abs. 4 GG besondere Anforderungen an die Ausgestaltung des Eilverfahrens, wenn ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen können, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären (BVerfG, Kammerbeschluss vom 12.05.2005 – BvR 569/05 Rn. 24 in juris). Die Entscheidung im Eilverfahren kann zwar auch dann, wenn existenzsichernde Leistungen zur Gänze im Streit stehen, statt auf eine Folgenabwägung auch auf eine summarische Prüfung der Hauptsache gestützt werden (BVerfG, Beschluss vom 06.08.2014, 1 BvR 1453/12). Dabei ist aber zu beachten, dass die Sach- und Rechtslage vom Gericht umso intensiver zu prüfen ist, je gewichtiger und wahrscheinlicher eine drohende Grundrechtsverletzung ist. Wenn eine endgültige Grundrechtsverletzung droht, muss das Gericht die Anforderungen an die Glaubhaftmachung verringern.
Ausgehend hiervon sind dem Antragsteller im Wege der einstweiligen Anordnung Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG zu gewähren, nachdem ein solcher Anspruch mit weit überwiegender Wahrscheinlichkeit besteht.
Ohne Bedeutung ist zunächst, ob der Bescheid vom 28. Februar 2024 bestandskräftig geworden ist oder nicht. Denn mit dem Bescheid vom 28. Februar 2024 hat der Antragsgegner den Bescheid vom 4. Juli 2022 für die Monate Januar und Februar 2024 geändert, eine Ablehnung der Leistungen gemäß § 2 AsylbLG für den hier im Eilverfahren geltend gemachten Zeitraum lag hierin nicht. Vielmehr fehlt es nach wie vor an einer Entscheidung des Antragsgegners zu der Gewährung von Leistungen gemäß § 2 Abs. 1 AsylbLG.
Gemäß § 2 Abs. 1 AsylbLG (in der Fassung vom 15.08.2019) ist das Zwölfte Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) auf diejenigen Leistungsberechtigten entsprechend anzuwenden, die sich seit 18 Monaten ohne wesentliche Unterbrechung im Bundesgebiet aufhalten und die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben. Der Antragsteller befindet sich bereits seit August 2023 seit 18 Monaten im Bundesgebiet. Der Antragsteller hat auch nicht die Dauer seines Aufenthalts selbst beeinflusst. Zwar hat er, wovon das Gericht überzeugt ist, über Teile seiner Identität getäuscht, nämlich über sein Geburtsdatum. Eine Beeinflussung der Aufenthaltsdauer liegt aber vielmehr dann vor, wenn bei generell abstrakter Betrachtungsweise das rechtsmissbräuchliche Verhalten typischerweise die Aufenthaltsdauer verlängern kann, es sei denn, eine etwaige Ausreisepflicht des betroffenen Ausländers hätte unabhängig von seinem Verhalten ohnehin in dem gesamten Zeitraum ab dem Zeitpunkt des Rechtsmissbrauchs nicht vollzogen werden können (BSG, Urteil vom 2.2.2010, B 8 AY 1/08 R). Dabei geht das Gericht auch davon aus, dass in den bewusst falschen Angaben des Antragstellers zu seinem Geburtsdatum ein rechtsmissbräuchliches Verhalten liegt. Dies liegt dann vor, wenn der Antragsteller falsche bzw. unterschiedliche Angaben zu seiner Person mach (vgl. Sächsisches LSG, Beschluss vom 19.1.2011, L 7 AY 6/09 B ER). Allerdings hätte eine Ausreisepflicht des Antragstellers seit dem Zeitpunkt seiner Einreise nicht vollzogen werden können. Der Antragsteller hat die afghanische Staatsangehörigkeit. Dies ergibt sich bereits aus dem Vortrag des Antragsgegners.
Eine Abschiebung nach Afghanistan war seit dem Zeitpunkt der Einreise des Antragstellers nicht möglich, nachdem diese durch das Bundesministerium des Innern und für Heimat bereits zu diesem Zeitpunkt und auch immer noch ausgesetzt sind.
Dafür, dass eine Abschiebung in ein anderes Land als Afghanistan möglich gewesen wäre, gibt es keinerlei Hinweise.
Dem Anspruch des Antragstellers steht auch nicht entgegen, dass § 2 Abs. 1 AsylbLG in seiner aktuellen Fassung eine Aufenthaltsdauer von 36 Monaten fordert, die der Antragsteller noch nicht erreicht hat. Zwar hat der Gesetzgeber mit § 20 AsylbLG eine Übergangsregelung geschaffen, wonach für Leistungsberechtigte, die bis zum 26. Februar 2024 Leistungen gemäß § 2 Absatz 1 erhalten haben, § 2 dieses Gesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 5. August 1997 (BGBl. I S. 2022), das zuletzt durch Artikel 4 des Gesetzes vom 23. Mai 2022 (BGBl. I S. 760) geändert worden ist, weiter anzuwenden ist. Der Antragsteller hat jedoch bis zum 26. Februar 2024 keine Leistungen bezogen. Allerdings hätte ihm bereits ab August 2023 die Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG gewähren müssen. Da er aber einen rückwirkenden Anspruch auf Analogleistungen für die Zeit bis einschließlich 26. Februar 2024 hat, der ihm rechtswidrig verwehrt wurde, muss für diesen vergangenen Bewilligungszeitraum auch in der Zeit nach dem 27. Februar 2024 zunächst eine rückwirkende Gewährung erfolgen. Durch diese rückwirkende Bewilligung „erhält“ er auch „bis zum 26. Februar 2024 Leistungen“ gem. § 2 Abs. 1 AsylbLG a.F. Folglich hat er auch für die Zeit ab dem 27. Februar 2024 Anspruch auf Analogleistungen nach § 2 AsylbLG a.F. i.V.m. § 20 AsylbLG (vgl. hierzu Filges in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 3. Aufl., § 20 AsylbLG (Stand: 08.03.2024) Rn. 14).
Wegen der ganz überwiegenden Erfolgsaussicht in der Hauptsache liegt auch ein Anordnungsgrund vor (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 29.6.2023, L 8 AY 18/23 B ER).
Die Kostenfolge ergibt sich aus der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe (PKH) erfolgt gemäß § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO. Die erforderliche hinreichende Erfolgsaussicht des nicht mutwilligen Antrags ergibt sich aus den vorstehenden Ausführungen. Der Antragsteller erfüllt auch die wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Bewilligung von PKH. Die Beiordnung des Rechtsanwalts erfolgt gemäß § § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 121 Abs. 2 ZPO.
Es folgt die Rechtsmittelbelehrung.