URTEIL
In dem Rechtstreit
xxx,
Klägerin,
Prozessbevollm.:
Rechtsanwalt Sven Adam
Lange-Geismar-Straße 55, 37073 Göttingen,
gegen
Jobcenter Werra-Meißner,
vertreten durch den/die Geschäftsführer/in,
Fuldaer Straße 6, 37269 Eschwege,
Beklagter,
hat die 14. Kammer des Sozialgerichts Kassel auf die mündliche Verhandlung vom 13. Juni 2024 durch den Vorsitzenden, Richter am Sozialgericht xxx, sowie die ehrenamtlichen Richter Frau xxx und Herr xxx, für Recht erkannt:
Der Beklagte wird unter Abänderung der Bescheide vom 29.9.2022, 31.1.2023 und 4.1.2023 einschließlich der mit diesen Bescheiden ausgesprochenen Erstattungsforderungen dem Grunde nach verpflichtet, der Klägerin höhere Leistungen unter Berücksichtigung von weiteren Kosten der Unterkunft in Höhe von monatlich 20,80 Euro zu bewilligen und die Erstattungsforderung entsprechend zu reduzieren.
Der Beklagte hat der Klägerin ihre Kosten zu erstatten.
TATBESTAND
Die Klägerin verlangt höhere Leistungen für Bedarfe für Unterkunft und Heizung in den Monaten Februar 2022 bis Juli 2022.
Die Klägerin bezieht seit Jahren Alg II vom beklagten Jobcenter. Der Beklagte forderte die Klägerin im Dezember 2015 erstmals zur Senkung der Unterkunftskosten auf und bewilligte nach Ablauf der Frist Leistungen lediglich in Höhe der seiner Auffassung nach angemessenen Kosten. Ab Mai 2018 ermittelte der Beklagte neue Angemessenheitswerte für die Unterkunftskosten, und berücksichtigte ohne erneute Kostensenkungsaufforderung die sich nach dem neuen Konzept ergebenden Angemessenheitswerte. Nachdem das Hessische LSG Ende 2018/Anfang 2019 entschieden hatte, dass das Konzept des Beklagten für die Zeit ab Januar 2016 nicht schlüssig sei, und die Nichtzulassungsbeschwerde erfolglos gewesen war wurden für die Zeit bis April 2018 die Leistungen mit Bescheid vom 11.2.2022 zur Umsetzung eines Urteils des SG Kassel auf die Werte nach der Wohngeldtabelle zzgl. 10-%-Zuschlag erhöht. Für die Zeit ab Mai 2018 wurden die Bedarfe aufgrund eines Vergleichs im Jahr 2022 nachträglich erhöht.
Ab dem 1.1.2020 hatte der Beklagte neue Angemessenheitswerte ermittelt und diese ohne neuerliche Kostensenkungsaufforderung zugrunde gelegt.
Auf den Antrag der Klägerin bewilligte der Beklagte der Klägerin vorläufig Alg II für den streitbefangenen Zeitraum unter Berücksichtigung von Bedarfen für Unterkunft in Höhe von insgesamt 317,22 Euro und Heizkosten in tatsächlicher Höhe unter Anrechnung von geschätztem Einkommen in Höhe von 560,69 Euro nach Freibeträgen (vorläufiger Bescheid vom 3.1.2022).
Auf den Widerspruch der Klägerin änderte der Beklagte die Bewilligung ab und Bewilligte der Klägerin vorläufige Leistungen unter Berücksichtigung von 351 Euro (Änderungsbescheid vom 31.1.2022). Dieser Wert für die Unterkunftskosten ergibt sich aus dem Konzept des Beklagten (Bericht der Firma Analyse & Konzepte aus Dezember 2021).
Der Beklagte wies den darüber hinausgehenden Widerspruch zurück (Widerspruchsbescheid vom 22.3.2022).
Die Klägerin hat am 4.4.2022 Klage erhoben.
Der Beklagte hat die Leistungen endgültig festgesetzt und eine Erstattungsforderung festgesetzt und diese Bescheide wegen einer geringfügigen Erhöhung der Absetz- und Freibeträge auf Einkommen später korrigiert (endgültige Festsetzung und Erstattung jeweils vom 29.9.2022 und endgültige Festsetzung vom 3.1.2023 und 4.1.12023). Zuletzt ergab sich eine Erstattungsforderung in Höhe von 185,25 Euro.
Die Klägerin trägt vor, dass eine Kostensenkungsaufforderung unterblieben sei. Deswegen seien an sich die tatsächlichen Kosten der Unterkunft zu übernehmen. Die Klägerin begrenzt ihren Anspruch jedoch auf die Werte nach der Wohngeldtabelle zzgl. Zuschlag in Höhe von 10 %. Dazu verweist die Klägerin auf ein Urteil der 12. Kammer dieses Gerichts (S 12 SO 22/21). Die vom Beklagten in Bezug genommene Kostensenkungsaufforderung aus Dezember 2015 sei veraltet und damit unbeachtlich.
Die Klägerin beantragt schriftsätzlich wie folgt zu erkennen:
Der Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides des Beklagten vom 03.01.2022 (Az.: 763 43520//0004661) in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.03.2022 (Az.: 98.D – 43520//0004661 – W-43520-00035/22) verurteilt, der Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts im Zeitraum 01.02.2022-31.07.2022 unter Anrechnung bereits gewährter Leistungen für die Kosten der Unterkunft unter Zugrundelegung der Werte der Anlage 1 zu § 12 WoGG in der im Zeitraum 01.02.2022-31.07.2022 geltenden Fassung zzgl. Eines Sicherheitszuschlages von 10% zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Beklagte trägt vor, dass die Klägerin mangels erneuter Kostensenkungsaufforderung Leistungen für Bedarfe für Unterkunft nach den Werten der Wohngeldtabelle zzgl. 10-%-Zuschlag erhalten habe. Die Werte nach der Wohngeldtabelle seien jedoch nicht zu dynamisieren. Vielmehr seien die Werte der Wohngeldtabelle aus dem Jahr 2018 maßgeblich. Denn ab dem 1.1.2020 würden sich die angemessenen Kosten nicht mehr aus der Wohngeldtabelle ergeben, sondern aus dem schlüssigen Konzept.
Die Kammer hat die Verwaltungsakte des Beklagten beigezogen.
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE
Die Klage ist begründet, weil die Klägerin mangels Kostensenkungsaufforderung einen Anspruch auf Berücksichtigung von Kosten jedenfalls in Höhe der aktuellen Werte nach der Wohngeldtabelle zzgl. Sicherheitszuschlag hat.
1. Streitgegenstand sind nach endgültiger Leistungsfestsetzung und Erlass der Erstattungsbescheide nur noch die Erstattungsbescheide vom 29.9.2022 und 4.1.2023 und die endgültigen Festsetzungen vom 3.1.2023 und 4.1.2023. Mit den endgültigen Bescheiden erledigen sich die vorläufigen Bescheide kraft Gesetzes im Sinne von § 39 SGB X. Die Erstattungsbescheide bilden mit dem endgültigen Festsetzungen eine rechtliche Einheit. Das gilt unmittelbar für den Erstattungsbescheid vom 29.9.2022. Der zweite Erstattungsbescheid erging zwar nicht zeitgleich mit einem Bescheid über die endgültige Festsetzung und bildet damit keine rechtliche Einheit. Die Einbeziehung erfolgt jedoch über § 96 SGG, weil der erste – als rechtliche Einheit zu qualifizierende Erstattungsbescheid – abgeändert wird.
2. Die Sachentscheidungsvoraussetzungen sind erfüllt. Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage statthaft, weil die Klägerin höhere als die vorläufig und die zuletzt endgültig bewilligten Leistungen verlangt, nämlich jeden Monat 20,80 Euro mehr (Wert nach der Wohngeldtabelle zzgl. Zuschlag von 10 % abzüglich 351 Euro). Der zuletzt schriftsätzlich gestellte Antrag war unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des BSG (BSG vom 11.11.2021 – B 14 AS 41/20 R, Rn. 11 ff.) nach dem Meistbegünstigungsprinzip auszulegen. Über den Antrag der Klägerin wird damit nicht hinausgegangen. Mithin geht die Kammer von dem Antrag aus, den Beklagten unter Abänderung der Bescheide vom 29.9.2022, 31.1.2023 und 4.1.2023 und Aufhebung der mit diesen Bescheiden ausgesprochenen Erstattungsforderungen dem Grunde nach zu verurteilen, der Klägerin höhere Leistungen unter Berücksichtigung der tatsächlichen Kosten der Unterkunft zu bewilligen.
3. Rechtsgrundlage für die endgültige Festsetzung ist § 41a SGB II. Die Leistungen waren endgültig festzusetzen, weil vorläufig bewilligt worden war. Die Leistungen wurden auch innerhalb der Jahresfrist endgültig festgesetzt. Die Leistungen konnten nach § 67 Abs. 4 Satz 2 ohne Antrag endgültig festgesetzt werden.
4. Rechtsgrundlage für den Anspruch auf Alg II sind §§ 7 ff., 19 ff. SGB II und für die Bedarfe für Unterkunft und Heizung speziell § 22 SGB II. Die Klägerin ist dem Grunde nach leistungsberechtigt, weil sie das 15. Lebensjahr vollendet hat, die Altersgrenzen nach § 7a SGB II noch nicht erreicht hat, hilfebedürftig und erwerbsfähig ist, sowie sich gewöhnlich im Inland aufhält. Ihre Erwerbsfähigkeit ist, soweit wie hier kein Feststellungsverfahren (vgl § 44a SGB II) eingeleitet worden ist, bereits aus rechtlichen Gründen anzunehmen (BSG vom 27.1.2021 – B 14 AS 25/20 R, SozR 4-4200 § 7 Nr. 59 Rn. 13).
An der Hilfebedürftigkeit bestehen keine Zweifel. Wegen der Höhe der Einkünfte und Absetzungsbeträge wird auf den Bescheid vom 31.1.2023 Bezug genommen (§ 136 Abs. 3 SGG). Anlass zu Ermittlungen vom Amts wegen bestanden insoweit nicht.
Wegen der Höhe der Regelbedarfe wird ebenfalls auf den Bescheid vom 31.1.2023 Bezug genommen (§ 136 Abs. 3 SGG).
5. Die Bedarfe für Unterkunft waren jedenfalls in Höhe der Werte nach der Wohngeldtabelle zzgl. Zuschlag in Höhe von 10 % zu übernehmen. Rechtsgrundlage ist insoweit § 22 SGB II, nach dem Geltungszeitraumprinzip in der Fassung vom 17.7.2017 (die ab dem 1.7.2022 maßgebliche Fassung des § 22 SGB II vom 10.8.2021 ändert nichts am hier allein einschlägigen Abs. 1). Nach § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II werden die tatsächlichen Kosten der Unterkunft als Bedarf berücksichtigt, soweit sie angemessen sind. Nach § 22 Abs. 1 Satz 3 SGB II gilt: Soweit die Aufwendungen für die Unterkunft und Heizung den der Besonderheit des Einzelfalles angemessenen Umfang übersteigen, sind sie als Bedarf so lange anzuerkennen, wie es der oder dem alleinstehenden Leistungsberechtigten oder der Bedarfsgemeinschaft nicht möglich oder nicht zuzumuten ist, durch einen Wohnungswechsel, durch Vermieten oder auf andere Weise die Aufwendungen zu senken, in der Regel jedoch längstens für sechs Monate. Voraussetzung einer Absenkung der tatsächlichen Kosten auf das angemessene Maß ist eine Kostensenkungsaufforderung (Luthe in Hauck/Noftz, SGB II, § 22 Rn. 181; Senger/Piepenstock in jurisPK-SGB II, § 22 Rn. 147 ff., jeweils mit weiteren Nachweisen). Erforderlich ist, dass die nach Auffassung des Jobcenters angemessenen Kosten genannt und eine Frist für die Senkung der Kosten gesetzt wird (Luthe in Hauck/Noftz, SGB II, § 22 Rn. 181).
Daran fehlt es hier, weil sich zwar aus der vorläufigen Bewilligung die nach Auffassung des Beklagten maßgeblichen Werte ableiten lassen. Eine Kostensenkungsaufforderung stellt dies jedoch nicht dar. Der Widerspruchsbescheid enthält zwar eine Darstellung der Kosten, nicht jedoch eine Aufforderung unter Fristsetzung die Kosten zu senken.
Dass der Beklagte in der Vergangenheit auf die Senkung der Kosten hingewiesen hat, ist unerheblich. Zwar ist nicht Voraussetzung für eine wirksame Kostensenkung, dass die vom Beklagten ermittelten und mitgeteilten Werte richtig sind. Denn die Kostensenkungsaufforderung ist nur ein Angebot an den Leistungsempfänger und ein Einstieg in einen Dialog über die richtige Höhe der Kosten (vgl. BSG vom 30.01.2019 – B 14 AS 11/18 R SozR 4-4200 § 22 Nr. 100 Rn. 33 f.). Jedoch können nach der Rechtsprechung des BSG spätere Konzepte nicht als nachgeschobene Gründe für vergangene Kostensenkungsverfahren herangezogen werden (BSG vom 30.1.2019 – B 14 AS 11/18 R, SozR 4-4200 § 22 Nr. 100 Rn. 33 f.). Da das Konzept des Beklagten durch das HLSG kassiert wurde und danach methodisch offenbar neue bzw. andersartige Konzepte entwickelt wurden und schließlich zur Grundlage der Angemessenheitsbewertung im hier streitigen Fall sein sollten, ist die Kostensenkungsaufforderung aus dem Jahr 2015 veraltet und nicht mehr heranzuziehen. Die späteren Konzepte können jedenfalls nicht im Sinne der Rechtsprechung des BSG Grundlage für die Kostensenkung im Jahr 2015 und einen sich daran anschließenden „Dialog“ über die richtige Höhe der Unterkunftskosten sein.
Zu Unrecht hat sich der Beklagte im Termin auf Rechtsprechung des HLSG berufen, um seine Auffassung zu belegen, dass eine fehlende Kostensenkungsaufforderung dann unschädlich ist, wenn erst gar keine Umzugsbemühungen gezeigt werden. Das HLSG hat in den vom Beklagten im Termin zitierten Urteilen lediglich entschieden, dass unrichtige Werte nicht zur gänzlichen Unzumutbarkeit der Kostensenkung führen, wenn erst gar keine Umzugsbemühungen gezeigt werden (HLSG vom 23.2.2024 – L 9 AS 138/19, Rn. 105 und HLSG vom 23.2.2024 – L 9 AS 193/19, Rn. 102). Dies setzt voraus, dass eine an sich den Anforderungen genügende Kostensenkungsaufforderung ausgesprochen wurde und sich lediglich herausstellt, dass die Werte nicht richtig sind. Hiervon unterschiedet sich der vorliegende Fall, weil es aufgrund der Entscheidung des HLSG zum Konzept für die Zeit bis April 2018 schon gar keine valide Grundlage für einen Dialog im Nachgang zum Kostensenkungsverfahren gibt. Umzugsbemühungen muss ein Betroffener in dieser Situation gar nicht zeigen.
6. Angesichts dessen besteht kein Raum, nur die angemessen Werte zu berücksichtigen. Soweit der Beklagte meint, dass ab dem 1.1.2020 das Konzept für die Angemessenheitswerte maßgeblich sei, führt dies nicht weiter. Denn dies ist nur relevant, soweit überhaupt auf die angemessenen Kosten abgestellt werden kann. Dies ist mangels Kostensenkung nicht der Fall. Wegen § 123 SGG kann jedoch nicht mehr zugesprochen werden als verlangt wird.
Nach der WogV in der Fassung ab dem 1.1.2022 gilt für die Stadt Eschwege die Mietstufe I. Nach der Anlage zu § 12 WoGG in der Fassung vom 1.1.2021 bis zum 31.12.2022 gilt ein Höchstbetrag von 338 Euro, der um 10 % zu erhöhen ist, insgesamt 371,80 Euro. Es ergeben sich höhere Leistungen in Höhe von 20,80 Euro pro Monat (371,80 – 351), sodass sich eine Reduktion der Erstattungsforderung von 124,80 Euro ergibt.
7. Die genaue Ermittlung der monatlichen Leistungsbeträge und die Ermittlung eines neuen Gesamtsaldos bleibt nach Umsetzung des Grundurteils dem Beklagten überlassen.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183, 193 SGG.
Es folgt die Rechtsmittelbelehrung.