BESCHLUSS
In dem Rechtsstreit
xxx,
– Antragsteller –
Prozessbevollmächtigte/r:
Rechtsanwalt Sven Adam, Lange Geismarstraße 55,
37073 Göttingen
gegen
Land Rheinland-Pfalz,
vertreten durch die Aufsichts- und Dienstleistungsdirektion,
Willy-Brandt-Platz 3, 54290 Trier
– Antragsgegner –
hat die 15. Kammer des Sozialgerichts Speyer am 10. Juli 2024 durch den
Richter am Sozialgericht xxx
beschlossen:
1. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller für die Zeit ab dem 15.06.2024 bis zum 30.09.2024 vorläufig höhere Leistungen nach Maßgabe der §§ 3, 3a Abs. 1 Nr. 1, 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylbLG zu erbringen, längstens jedoch bis zum Eintritt der Bestandskraft bzw. Rechtskraft einer Entscheidung über den Widerspruch des Antragstellers vom 20.02.2024.
2. Der Antragsgegner hat dem Antragsteller dessen notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
GRÜNDE
Der Antrag ist zulässig und begründet.
Der Zulässigkeit des Antrags steht insbesondere nicht entgegen, dass das seinerzeit örtlich zuständige Sozialgericht Trier einen im Wesentlichen gleich lautenden Antrag des Antragstellers auf einstweiligen Rechtsschutz mit rechtskräftigem Beschluss vom 15.04.2024 (S 3 AY 9/24 ER) abgelehnt hat. Der Beschluss des Sozialgerichts Trier ist zwar in materieller Rechtskraft erwachsen. Diese erstreckt sich sachlich jedoch nur auf den Zeitraum bis zur Entscheidung, also bis zum 15.04.2024, da eine Regelung über diesen Tag hinaus mit dem ablehnenden Beschluss nicht getroffen wurde. Dies ergibt sich auch aus dem Gebot des effektiven Rechtsschutzes. Ein Gericht kann das Vorliegen eines Anordnungsgrundes und eines Anordnungsanspruchs nur für den Zeitpunkt seiner Entscheidung verneinen. Für die Zukunft lässt sich diesbezüglich naturgemäß keine Aussage treffen.
1. Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Der Antrag ist insbesondere statthaft, weil es sich bei dem Rechtsstreit in der Hauptsache nicht um eine reine Anfechtungssituation handelt. Der Antragsteller begehrt die Gewährung von höheren Leistungen.
Voraussetzung für den Erlass einer Regelungsanordnung ist, dass sowohl ein Anordnungsanspruch (d. h. ein nach der Rechtslage gegebener Anspruch auf die einstweilig begehrte Leistung) wie auch ein Anordnungsgrund (im Sinne der Eilbedürftigkeit einer vorläufigen Regelung) bestehen. Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung – ZPO). Wegen des vorläufigen Charakters einer einstweiligen Anordnung soll durch sie eine endgültige Entscheidung in der Hauptsache grundsätzlich nicht vorweggenommen werden. Bei seiner Entscheidung kann das Gericht sowohl eine Folgenabwägung vornehmen als auch eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache anstellen. Drohen aber ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, dann dürfen sich die Gerichte nur an den Erfolgsaussichten orientieren, wenn die Sach- und Rechtslage abschließend geklärt ist. Ist dem Gericht dagegen eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist allein anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden (BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005 – 1 BvR 596/05 – alle Entscheidungen zitiert nach Juris). Handelt es sich – wie hier – um Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG), die der Sicherstellung eines menschenwürdigen Lebens dienen und damit das Existenzminimum absichern, muss die überragende Bedeutung dieser Leistungen für den Empfänger mit der Folge beachtet werden, dass ihm im Zweifel die Leistungen aus verfassungsrechtlichen Gründen vorläufig zu gewähren sind.
2. Der Antragsteller hat einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Er hat – was zwischen den Beteiligten unstreitig ist – einen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach § 3 AsylbLG. Diese Leistungen werden dem Antragsteller durch Sachleistungserbringung sowie durch tatsächliche Auszahlung des sog. notwendigen persönlichen Bedarfs (§ 3 Abs. 1 Satz 2 AsylbLG) dem Grunde nach bewilligt.
Der Antragsteller hat aller Wahrscheinlichkeit nach einen Anspruch auf Leistungen nach Maßgabe der §§ 3, 3a Abs. 1 Nr. 1, 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylbLG, obwohl er in einer Aufnahmeeinrichtung untergebracht ist und deshalb nach dem Gesetz die herabgesetzten Bedarfe nach § 3a Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 2 AsylbLG zur Anwendung kommen müssten.
Die erkennende Kammer geht allerdings aufgrund des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 19.10.2022 (1 BvL 3/21) davon aus, dass die Herabsetzung der Bedarfe bei in Gemeinschaftsunterkünften untergebrachten Leistungsberechtigten im Vergleich zu alleinstehenden erwachsenen Leistungsberechtigten verfassungswidrig ist und stattdessen (ggf. bis zu einer Gesetzesänderung) die Bedarfssätze nach Maßgabe der §§ 3, 3a Abs. 1 Nr. 1, 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylbLG zur Anwendung kommen müssen.
Sie macht sich an dieser Stelle die Ausführungen des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen im Beschluss vom 29.06.2023 (L 8 AY 18/23 B ER – Rn. 10) zu eigen:
„Das BVerfG hat mit seinem am 23.11.2022 veröffentlichten Beschluss vom 19.10.2022 – 1 BvL 3/21 – entschieden, dass die Sonderbedarfsstufe 2 für eine in einer Sammelunterkunft untergebrachte alleinstehende erwachsene Person nach der Parallelvorschrift des § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG mit dem Grundgesetz (Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m.Art. 20 Abs. 1 GG) unvereinbar ist (Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums). Die Annahme des Gesetzgebers, den Leistungsberechtigten sei es möglich und zumutbar, in den Unterkünften eröffnete Möglichkeiten zu gemeinsamem Wirtschaften zu nutzen, sowie die Berücksichtigung von dadurch erzielbaren Einsparungen bei der Bemessung des existenznotwendigen Bedarfs (vgl. BT-Drs. 19/10052, S. 24 f.), sei zwar im Ausgangspunkt verfassungsrechtlich nach dem Nachranggrundsatz nicht zu beanstanden. Diese Obliegenheit gemeinsamen Wirtschaftens sei aber nur dann verhältnismäßig im engeren Sinne, wenn hinreichend gesichert ist, dass in den Sammelunterkünften auch tatsächlich die Voraussetzungen dafür vorliegen, diese zu erfüllen und so Einsparungen in entsprechender Höhe erzielen zu können. Dafür haben sich bei einem gemeinsamen Aufenthalt in einer Gemeinschaftsunterkunft (§ 53 AsylG) oder Aufnahmeeinrichtung (§ 44 AsylG) keine Anhaltspunkte ergeben (vgl. BVerfG, Beschluss vom 19.10.2022 – 1 BvL 3/21 – juris Rn. 74 ff.). Das BVerfG hat eine Übergangsregelung angeordnet, nach der für alleinstehende Erwachsene, die in einer Gemeinschaftsunterkunft oder in einer Aufnahmeeinrichtung untergebracht sind, unter den Voraussetzungen von § 2 Abs. 1 Satz 1 und Satz 4 Nr. 1 AsylbLG ein Regelbedarf in Höhe der Regelbedarfsstufe 1 anerkannt wird und nicht in Höhe der Regelbedarfsstufe 2. Daraus ergibt sich ohne Zweifel auch die Verfassungswidrigkeit des § 3a Abs. 1 Nr. 2 lit. b AsylbLG bzw. § 3a Abs. 2 Nr. 2 lit. b AsylbLG und die Notwendigkeit, in diesen Fällen die Leistungssätze von § 3a Abs. 1 Nr. 1 und § 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylbLG anzuwenden. Es ist zu erwarten, dass der Gesetzgeber eine entsprechende verfassungskonforme Regelung schaffen wird. (…)“
3. Der Antragsteller hat auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Da es sich bei den begehrten Leistungen um Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums handelt, ist von Eilbedürftigkeit auszugehen. Der weit überwiegende Teil der zu gewährenden Leistungen ist für die jeweils aktuelle Bedarfsdeckung gedacht und wird hierzu auch benötigt. Das Zuwarten auf eine Entscheidung in der Hauptsache ist daher nicht zumutbar.
4. An der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes sind Fachgerichte für den Fall, dass sie die angegriffene Regelung für verfassungswidrig erachten, nicht dadurch gehindert, dass sie über die Frage der Verfassungswidrigkeit nicht selbst entscheiden könnten, sondern insoweit die Entscheidung des BVerfG nach Art. 100 Abs. 1 GG einholen müssten. Das dem BVerfG vorbehaltene Verwerfungsmonopol hat zwar zur Folge, dass ein Gericht Folgerungen aus der von ihm angenommenen Verfassungswidrigkeit eines formellen Gesetzes im Hauptsacheverfahren erst nach deren Feststellung durch das BVerfG ziehen darf. Die Fachgerichte sind jedoch durch Art. 100 Abs. 1 GG nicht gehindert, schon vor der ggf. im Hauptsacheverfahren einzuholenden Entscheidung des BVerfG auf der Grundlage ihrer Rechtsauffassung vorläufigen Rechtsschutz zu gewähren, wenn dies nach den Umständen des Falles im Interesse eines effektiven Rechtsschutzes geboten erscheint und die Hauptsacheentscheidung dadurch nicht vorweggenommen wird (BVerfG, Beschluss vom 24.06.1992 – 1 BvR 1028/91 –, Rn. 29). Prozessrechtlich ergibt sich die Notwendigkeit der Berücksichtigung der Verfassungswidrigkeit einer Rechtsvorschrift bei der Prüfung des Erlasses einer Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG aus dem Umstand, dass die Erfolgsaussichten in der Hauptsache zu bewerten sind. Dies schließt die Möglichkeit der Durchführung eines konkreten Normenkontrollverfahrens nach Art. 100 Abs. 1 GG im Hauptsacheverfahren und dessen Erfolgsaussichten mit ein (SG Speyer, Beschluss vom 17.08.2017 – S 16 AS 908/17 ER –, Rn. 75).
Hierbei geht es nicht um die Ableitung konkreter Leistungsansprüche unmittelbar aus dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (dies ablehnend: LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 16.03.2017 – L 19 AS 190/17 B ER –, Rn. 47), sondern um die Verpflichtung zur vorläufigen Erfüllung einfachgesetzlich geregelter Leistungsansprüche unter einstweiliger Nichtanwendung einer Beschränkung in der begründeten Erwartung, dass diese durch das BVerfG im Rahmen eines Hauptsacheverfahrens mit Bindungswirkung auch für das vorliegende Hauptsacheverfahren für verfassungswidrig erklärt wird (vgl. SG Speyer, Beschluss vom 17.08.2017 – S 16 AS 908/17 ER –, Rn. 76).
5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 3 SGG. Der Antragsteller hat durch seinen Antrag auf Prozesskostenhilfe schlüssig zum Ausdruck gebracht, dass er auch einen Antrag auf Erstattung seiner notwendigen außergerichtlichen Kosten durch die Antragsgegnerin stellt.
6. Die Entscheidung ist endgültig, da der Beschwerdewert von 750 Euro nicht erreicht wird (§ 172 Abs. 3 Nr. 2 SGG i.V.m. § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG).