Tacheles Rechtsprechungsticker KW 26/2024

1. Entscheidungen des Bundessozialgerichts zur Sozialhilfe (SGB XII)

1.1 – BSG, Urt. v. 29.02.2024 – B 8 SO 2/23 R

Sozialhilfe – Nothelferkosten – Datenübermittlung – Jobcenter – Datenschutzgrundverordnung

BSG: Zulässigkeit der Übermittlung von personenbezogenen Daten

Orientierungssatz Verein Tacheles e. V.
1. Zur Zulässigkeit der Übermittlung von personenbezogenen Daten einer einen Nothelferanspruch geltend machenden Person durch den Sozialhilfeträger an das vermeintlich zuständige Jobcenter.

Volltext: www.rechtsprechung-im-internet.de

2. Entscheidungen der Landessozialgerichte zum Bürgergeld (SGB II)

2.1 – LSG BB, Urt. v. 17.04.2024 – L 32 AS 405/22 – Die Revision wird zugelassen

Leitsätze www.sozialgerichtsbarkeit.de
Eine wortlautgetreue Anwendung des § 212 Abs. 1 Nr. 1 BGB kommt im Rahmen des § 50 Abs. 4 Satz 2 SGB X nicht in Betracht. Der Anwendungsbereich erschließt sich nur aus dem Sinn der Vorschrift:

Sie sieht den Schuldner dann nicht als durch die Vorschriften der Verjährung schutzbedürftig an, wenn er durch eigene Handlungen unmissverständlich klarstellt, dass er den Anspruch als bestehend ansieht.

Zahlungen ohne Tilgungsbestimmung nach einer Zahlungsaufforderung, die sich auf einen mitgeteilten Saldo der ausstehenden Verbindlichkeiten bezieht, sind dann als Anerkenntnis aller dem Saldo zugrunde liegenden Einzelforderungen anzusehen, wenn weder der Saldo in Frage gestellt noch die Aufschlüsselung nach zugrunde liegenden Einzelforderungen verlangt wird.

Darauf, ob die vom Jobcenter mit der Vollstreckung beauftragten Behörden der Bundesagentur für Arbeit rechtmäßig tätig geworden sind, im Besonderen aufgrund einer wirksamen Übertragung gemäß § 44b Abs. 4 SGB II dafür zuständig waren, kommt es nicht an.

2.2 – LSG NRW, Urt. v. 20.03.2024 – L 12 AS 400/23 – Revision wird zugelassen

Orientierungssatz Tacheles e. V.
Zur Frage, ob die fruchtlose Pfändung einen Durchsetzungsverwaltungsakt im Sinne des § 52 SGB X darstellt.

Orientierungshilfe Tacheles e. V.
1. § 52 SGB X findet auf die Konstellation eines Erstattungsbescheides, der den Anspruch eines Leistungsträgers auf Erstattung zu Unrecht erbrachter Leistungen erstmals nach § 50 Abs. 3 SGB X festsetzt und damit den Lauf einer Verjährung beginnen lässt, nach dem Wortlaut und der Regelungssystematik beider Vorschriften keine Anwendung.

2. Der fruchtlose Pfändungsversuch erschöpft sich in einem schlicht-hoheitlichen Verwaltungshandeln. Mangels Verwaltungsaktes kann die fruchtlose Pfändung nicht zu der Rechtsfolge des § 52 Abs. 2 SGB X führen.

3. § 52 SGB X findet auf die Konstellation eines Erstattungsbescheides, der den Anspruch eines Leistungsträgers auf Erstattung zu Unrecht erbrachter Leistungen erstmals nach § 50 Abs. 3 SGB X festsetzt und damit den Lauf einer Verjährung beginnen lässt, nach dem Wortlaut und der Regelungssystematik beider Vorschriften keine Anwendung (dazu ausführlich BSG Urteil vom 04.03.2021, B 11 AL 5/20 R; ebenso LSG Sachsen-Anhalt Urteil vom 09.11.2022, L 5 AS 252/19; Schleswig-Holsteinisches LSG Urteil vom 19.01.2023, L 6 AS 44/21).

§ 52 SGB X erfasst nur solche Verwaltungsakte, die eine Hemmung einer bereits laufenden Verjährungsfrist des vom öffentlich-rechtlichen Rechtsträger aus einer anderen Rechtsgrundlage geltend gemachten Anspruch bewirken können (BSG Urteil vom 04.03.2021, B 11 AL 5/20 R -).

In den Fallgestaltungen des § 50 SGB X kann jedoch erst ein weiterer Bescheid die erstmals durch den Erstattungsbescheid nach § 50 Abs. 3 SGB X in Gang gesetzte Verjährung hemmen und erst ein (weiterer) Verwaltungsakt zur Feststellung oder Durchsetzung des Anspruchs eines öffentlich-rechtlichen Rechtsträgers im Sinne des § 52 Abs. 1 SGB X löst nach dessen Unanfechtbarkeit den Übergang in eine längere Verjährungsfrist von 30 Jahren nach § 52 Abs. 2 SGB X aus.

3. Entscheidungen der Sozialgerichte zum Arbeitsförderungsrecht (SGB III)

3.1 – SG Nordhausen, Urt. v. 11.03.2024 – S 8 AL 1110/22 –

Leitsatz Verein Tacheles e. V.
1. Vergibt die Agentur für Arbeit einen falschen Termin zur persönlichen Arbeitslosenmeldung, kann das ALG 1 auch rückwirkend gewähren zu sein, zum bsp bei fehlender Dienstbereitschaft der Agentur für Arbeit.

Leitsatz www.sozialgerichtsbarkeit.de
§ 141 Abs. 2 SGB III ist auch dann anwendbar, wenn die fehlende Dienstbereitschaft der Agentur für Arbeit zwar nicht objektiv, wohl aber in der Vorstellung des Arbeitslosen bestand, und die Agentur für Arbeit diese falsche Vorstellung zu verantworten hat (hier: Vergabe eines zu späten Vorsprachetermins in Verkennung des Beginns der Arbeitslosigkeit).

4. Entscheidungen der Sozialgerichte zur Grundsicherung/Bürgergeld (SGB 2)

4.1 – SG Nordhausen, Urt. v. 11.03.2024 – S 13 AS 760/23 – Berufung zugelassen

Zur Frage, ob an der bisherigen Rechtsprechung des BSG zur Anrechnung eines Guthabens aus einer Betriebs- und Heizkostenabrechnung auf die tatsächlichen KdUH im Anrechnungsmonat auch nach der Neuregelung in § 22 Abs. 3 SGB II ab 1. August 2016 festzuhalten ist, hier bejahend!

Diese Frage ist auch weiterhin klärungsbedürftig, da § 22 Abs. 3 SGB II nach dem Zwölften Gesetz zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze – Einführung eines Bürgergeldes ab 1. Januar 2023 unverändert weiter gilt (vgl. LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 21. Dezember 2022, L 5 AS 283/22).

Leitsätze
Rückzahlungen und Guthaben mindern die tatsächlichen Kosten der Unterkunft und Heizung auch nach der Änderung des § 22 Abs. 3 SGB II ab dem 1. August 2016 (entgegen LSG Sachsen-Anhalt vom 21. Dezember 2022, L 5 AS 283/22 -).

Rechtstipp:
ebenso SG Berlin, Urt. v. 12.05.2020 – S 116 AS 4758/20 –

4.2 – SG Berlin, Urt. v. 12.05.2020 – S 116 AS 4758/20 – rechtskräftig

Bürgergeld: Keine Anrechnung eines Betriebskostenguthabens bei sparsamen Verhalten (§ 22 Abs. 3 HS. 2 SGB II)

Dazu Urteilsbesprechung mit RA Kay Füßlein, Berlin:
Die Grundkonstellation ist im Gesetz klar geregelt: § 22 Abs. 3 HS. 2 SGB 2

Rückzahlungen, die sich auf die Kosten für Haushaltsenergie oder nicht anerkannte Aufwendungen für Unterkunft und Heizung beziehen, bleiben außer Betracht.

weiter: www.ra-fuesslein.de

5. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Sozialhilfe (SGB XII)

5.1 – LSG Hamburg, Urt. v. 07.03.2024 – L 4 SO 20/23 D

Sozialhilfe – Nothilfe – Erstattungsanspruch eines Krankenhausträgers – Anspruch des Hilfebedürftigen auf Krankenhilfe im Falle einer Kenntnis des Sozialhilfeträgers vom Leistungsfall – Leistungsausschluss für Ausländer ohne Aufenthaltsrecht – Überbrückungsleistungen – Behandlung akuter Erkrankungen

Erstattungsanspruch eines Krankenhausträgers gegen den Sozialhilfeträger bei Nothelferkosten i. S. d. § 25 SGB II

Orientierungssatz Verein Tacheles e. V.
1. In materiell-rechtlicher Hinsicht setzt der Anspruch sowohl nach § 25 SGB XII als auch nach § 6a AsylbLG zunächst als bedarfsbezogenes Moment die Eilbedürftigkeit des Eingreifens selbst voraus (BSG, Urteil vom 13.7.2023 – B 8 SO 11/22 R –, m.w.N.). Beim Nothilfeempfänger muss ein unabwendbarer Bedarf bestehen, der ein sofortiges Einschreiten des Nothelfers erforderlich macht.

2. Der Erstattungsanspruch des Nothelfers setzt zudem als sozialhilferechtliches Moment voraus, dass bei rechtzeitiger Kenntnis des Sozialhilfeträgers Leistungen erbracht worden wären (BSG, Urteil vom 23.8.2013 – B 8 SO 19/12 R-).

3. Der Anspruch sowohl nach § 25 SGB XII als auch nach § 6a AsylbLG setzt das Vorliegen aller weiteren Voraussetzungen eines Anspruchs des Betroffenen, insbesondere die Hilfebedürftigkeit im Sinne des SGB XII bzw. AsylbLG, voraus. Diese sog. hypothetische Leistungspflicht der Beklagten lag hier vor.

4. Die Vorschrift des § 23 Abs. 3 SGB XII (i.d.F. v. 22.12.2016 – a.F.) stünde einer Leistungspflicht der Beklagten nicht entgegen.

6. Entscheidungen zum Asylrecht und AsylbLG

6.1 – Sozialgericht Speyer – Beschluss vom 05.06.204 – Az.: S 15 AY 9/24 ER

Normen: § 3 AsylbLG, § 3a AsylbLG, § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG – Schlagworte: Regelbedarfsstufe 1, Regelbedarfsstufe 2, Leistungen nach den §§ 3, 3a AsylbLG, Sozialgericht Speye

Orientierungssatz Tacheles e. V.
1. Gewährung von vorläufig höheren Leistungen nach Maßgabe der §§ 3, 3a Abs. 1 Nr. 1, 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylbLG, es besteht ein Anspruch auf Bedarfsstufe 1.

2. Die erkennende Kammer geht aufgrund des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 19.10.2022 (1 BvL 3/21) davon aus, dass die Herabsetzung der Bedarfe bei in Gemeinschaftsunterkünften untergebrachten Leistungsberechtigten im Vergleich zu alleinstehenden erwachsenen Leistungsberechtigten verfassungswidrig ist und stattdessen (ggf. bis zu einer Gesetzesänderung) die Bedarfssätze nach Maßgabe der §§ 3, 3a Abs. 1 Nr. 1, 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylbLG zur Anwendung kommen müssen.

3. Hierbei geht es nicht um die Ableitung konkreter Leistungsansprüche unmittelbar aus dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (dies ablehnend: LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 16.03.2017 – L 19 AS 190/17 B ER), sondern um die Verpflichtung zur vorläufigen Erfüllung einfachgesetzlich geregelter Leistungsansprüche unter einstweiliger Nichtanwendung einer Beschränkung in der begründeten Erwartung, dass diese durch das BVerfG im Rahmen eines Hauptsacheverfahrens mit Bindungswirkung auch für das vorliegende Hauptsacheverfahren für verfassungswidrig erklärt wird (vgl. SG Speyer, Beschluss vom 17.08.2017 – S 16 AS 908/17 ER –).

Quelle: RA Sven Adam

6.2 – Landessozialgericht Rheinland-Pfalz – Beschluss vom 05.06.2024 – Az.: L 3 AY 11/24 B ER

Normen: § 202 SGG i.V.m. § 4 ZPO – Schlagworte: Regelbedarfsstufe 2 statt 1, Sammelunterkunft, Erstaufnahmeeinrichtung, Beschwerdewert, Landessozialgericht Rheinland-Pfalz

weiter bei RA Sven Adam

6.3 – Sozialgericht Speyer – Beschluss vom 10.06.2024 – Az.: S 15 AY 10/24 ER

Normen: § 3 AsylbLG, § 3a AsylbLG, § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG – Schlagworte: Regelbedarfsstufe 1, Regelbedarfsstufe 2, Leistung nach §3 AsylbLG, Leistung nach §3a AsylbLG, Stadt Kaiserslautern, Sozialgericht Speyer

Orientierungssatz Verein Tacheles e. V.
1. Gewährung von vorläufig höhere Leistungen nach Maßgabe der §§ 3, 3a Abs. 1 Nr. 1, 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylbLG, Anspruch auf Regelbedarfsstufe 1 für den Antragsteller.

Quelle: RA Sven Adam

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Verfasser des Rechtsprechungstickers: Redakteur von Tacheles Detlef Brock
Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker