Tacheles Rechtsprechungsticker KW 27/2024

1. Entscheidungen des Bundessozialgerichts zum Arbeitsförderungsrecht (SGB III)

1.1 – BSG, Urt. v. 14.12.2023 – B 11 AL 2/22 R

Arbeitslosenversicherung – Arbeitslosengeld – Ruhen – Altersleistungen aus schweizerischer Personalvorsorgestiftung

BSG: Kein Ruhen des Arbeitslosengeldes 1 aufgrund einer einmaligen Kapitalleistung, die von einer schweizerischen Pensionskasse bewilligt wurde (Tacheles e. V.)

Orientierungssatz Redakteur v. Tacheles e. V.
1. Bei dieser Kapitalleistung handelt es sich nicht um eine der Altersrente aus der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung vergleichbare Leistung eines ausländischen Trägers.

2. Die Ruhensvorschrift erfasst ausschließlich wiederkehrende Leistungen, nicht dagegen Einmalzahlungen. Die im Gesetz ausdrücklich aufgezählten Sozialleistungen, die zum Ruhen des Arbeitslosengelds führen, sind ausnahmslos wiederkehrender Art.

Volltext: www.sozialgerichtsbarkeit.de

2. Entscheidungen der Landessozialgerichte zum Bürgergeld (SGB II)

2.1 – LSG BB, Beschluss v. 06.03.2024 – L 32 AS 39/24 B ER –

Jobcenter dürfen keine Vermutung ins Blaue führen

Leitsätze www.sozialgerichtsbarkeit.de
1. Geht das Gericht von einem besonders starken Anordnungsanspruch aus, sind die Anforderungen an den Anordnungsgrund – jedenfalls bei einer Regelungsanordnung für die Zukunft – sehr gering. Allein eine drohende ordentliche Kündigung wegen der noch bestehenden Mietschulden genügt im Hinblick auf die vom BVerfG gesehene besondere grundrechtliche Bedeutung der Unterkunftssicherung als drohender wesentlicher Nachteil.

2. Personen dürfen sich gerade in einer Situation, in der sich ihre Hilfebedürftigkeit erhöht, an den Grundsicherungsträger mit einem Antrag wenden, ohne dass ihnen dies nachteilig ausgelegt wird.

Lesetipp:
Jobcenter dürfen keine Vermutung ins Blaue führen – Grundsicherungsträger müssen von Amts wegen ermitteln

weiter: www.gegen-hartz.de

2.2 – LSG Sachsen, Beschluss v. 22.05.2024 – L 7 AS 142/24 B ER –

Leitsätze Verein Tacheles e. V.
1. Nach einem Wechsel der örtlichen Zuständigkeit muss die bisher zuständige Behörde die (von ihr bewilligten) Leistungen bis zu deren Fortsetzung durch die zuständig gewordene Behörde erbringen, die wiederum nach dem Zuständigkeitswechsel erbrachte Leistungen auf Anforderung zu erstatten hat (§ 2 Abs. 3 Satz 1 f., § 1 Abs. 2 SGB X, hier i.V.m. § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II). Dadurch soll durch den Wechsel der örtlichen Zuständigkeit keine Unterbrechung des Leistungsverhältnisses eintreten und gewährleistet werden, dass der vorleistende Träger nicht die Kosten der Weiterleistung zu tragen hat.

2. Damit ist eine auf diese Änderung gestützte Aufhebung der Bewilligung von Leistungen durch den bisher zuständigen Leistungsträger grundsätzlich ausgeschlossen! (vgl. nur LSG Berlin-Brandenburg v. 18.11.2021 – L 19 AS 1806/18).

Leitsätze www.sozialgerichtsbarkeit.de
Nach einem umzugsbedingten Wechsel der örtlichen Zuständigkeit ist der bisher örtlich zuständige Leistungsträger nicht berechtigt, aufgrund eines angenommenen Wegfalls der Erreichbarkeit die von ihm bewilligten Leistungen vor Fortsetzung der Leistungserbringung durch den nunmehr zuständigen Leistungsträger aufzuheben, soweit der erwerbsfähige Leistungsberechtigte für den örtlich zuständig gewordenen Leistungsträger erreichbar ist.

2.3 – LSG Sachsen, Urt. v. 17.08.2023 – L 3 AS 1036/19 –

Leitsätze www.sozialgerichtsbarkeit.de
1. Ein erwerbsfähiger Leistungsberechtigter kann sich nicht während eines laufenden Bewilligungszeitraums aus dem Leistungsbezug „abmelden“, um eine Nichtberücksichtigung von Einnahmen aus einem bestimmten Zeitraum zu erreichen.

2. § 3 Abs. 1 Satz 3 Alg IIV ist nicht anwendbar auf Fälle, in denen die Erwerbstätigkeit während des ganzen Bewilligungszeitraums ausgeübt wird, aber nur in einzelnen Monaten Einnahmen erzielt werden.

3. Die Nichtfeststellbarkeit der eine Hilfebedürftigkeit begründenden Tatsachen geht zu ihren Lasten des Klägers.

2.4 – LSG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 05-06.2024 – L 5 AS 249/23 –

Leitsatz Verein Tacheles e. V.
    Sozialhilfe: Im Einzelfall Anspruch auf Übernahme der unangemessenen Kosten der Unterkunft länger wie 6 Monate (Anlehnung an BSG, Urteil vom 6. Oktober 2022, B 8 SO 7/21 R -).

    Gesundheitliche Gründe können einen Umzug unzumutbar machen, außerdem kein angemessener Wohnraum verfügbar ist und somit einen Verbleib in der Wohnung recht fertigen.

Leitsätze www.sozialgerichtsbarkeit.de
    Ein Anspruch auf Bewilligung der unangemessen hohen Kosten der Unterkunft und Heizung kann im Einzelfall vorliegen, wenn eine schwere, länger andauernde psychiatrische Erkrankung einen Umzug außerhalb der konkreten örtlichen Lebensverhältnisse verbietet und dort angemessener Wohnraum nicht anmietbar ist.

    2.
a. Im Fall der rückwirkenden Bewilligung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung besteht für diesen Zeitraum kein Anspruch mehr auf weitere Leistungen nach dem SGB II. Vielmehr richtet sich der weitere Leistungsanspruch nach dem SGB XII.

    b. Der Träger der Grundsicherung kann nach Beiladung im laufenden Klageverfahren zur Zahlung weiterer, als unangemessen abgelehnter Kosten der Unterkunft und Heizung verurteilt werden.

3. Entscheidungen der Sozialgerichte zum Bürgergeld (SGB II)

3.1 – SG Lüneburg, Beschluss v. 07.11.2023 – S 33 AS 90/23 ER –

Kostenübernahme für Wohnung bei 7-Personenhaushalt

Leitsatz Verein Tacheles e. V.
Zwillinge benötigen jeder eigenes Zimmer, um sich schulisch und gesundheitlich entwickeln zu können.

Orientierungssatz Verein Tacheles e. V.
1. Bei der Übernahme der Kosten der Unterkunft und Heizung eines 7-Personenhaushalts hat das Jobcenter qualifiziert darzulegen, dass ein Wohnungsmarkt vorhanden ist.

2. Der Umzug war erforderlich, weil es sich um eine Bedarfsgemeinschaft bestehend aus der Mutter und ihren sechs Kindern handelt, von denen mindestens die Zwillinge über eigene Zimmer verfügen sollten, um sich schulisch und gesundheitlich positiv entwickeln zu können (Bescheinigung der Klassenlehrerin, wonach die Zwillinge Konzentrationsschwierigkeiten haben, gesundheitliche Einschränkungen beider Zwillinge, alle raten zu getrennten Zimmern.

3.2 – SG Lüneburg, Urt. v. 15.03.2024 – S 19 AS 38/21 –

Orientierungssatz Verein Tacheles e. V.
Von einer Einstehens- und Verantwortungsgemeinschaft kann auch bei einem Zusammenleben unter einem Jahr ausgegangen werden.

Rechtstipp:
SG Potsdam, Urteil vom 29. September 2023 – S 44 AS 675/21 –

Bürgergeld:
Auch dann, wenn Partner kürzer als ein Jahr zusammenleben, kann eine Bedarfsgemeinschaft angenommen werden, wenn besonders gewichtige Umstände die Annahme einer Verantwortungs- und Einstandsgemeinschaft rechtfertigen, hier längere Vorbeziehung und Schwangerschaft (Leitsatz Tacheles e. V.)

4. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Sozialhilfe (SGB XII)

4.1 – LSG NSB, Urt. v. 15.02.2024 – 15.02.2024 – L 8 SO 68/22

Bewilligungszeitraum; Darlehen; Einkommens- oder Vermögensberücksichtigung; Erbschaft; Grundsicherung für Arbeitsuchende; Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung; Prognoseentscheidung; Zeitpunkt des Erbfalls während des Leistungsbezugs; Zufluss der Geldmittel bei nahtlosem Leistungsbezug nach dem SGB II und dem Vierten Kapitel des SGB XII; Zuflusstheorie; Zuschuss; Zur Abgrenzung von Einkommen und Vermögen im Falle einer Erbschaft bei einem nahtlosen Leistungsbezug nach dem SGB II und dem Vierten Kapitel des SGB XII

Zur Berücksichtigung einer Erbschaft als Vermögen (Tacheles e. V.)

Amtlicher Leitsatz
Bei einem nahtlosen Bezug von existenzsichernden Leistungen nach dem SGB II und dem Vierten Kapitel des SGB XII ist für die Abgrenzung von Einkommen und Vermögen im Falle einer Erbschaft, also bezogen auf das Eintreten des Erbfalls vor oder nach der ersten Antragstellung des laufenden Leistungsfalls (vgl. etwa BSG v. 08.05.2019 – B 14 AS 15/18 R – juris Rn. 15), nicht der frühere Antrag auf Leistungen nach dem SGB II (bisheriger Leistungsfall), sondern der (erstmalige) Antrag auf Sozialhilfe (neuer Leistungsfall) maßgeblich.

Quelle: voris.wolterskluwer-online.de

5. Entscheidungen zum Asylrecht und AsylbLG

5.1 – Sozialgericht Trier – Beschluss vom 17.06.2024 – Az.: S 3 AY 103/24 ER

Normen: § 3 AsylbLG, § 3a AsylbLG, § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG – Schlagworte: Regelbedarfsstufe 1, Regelbedarfsstufe 2, Leistung nach §3 AsylbLG, Leistung nach §3a AsylbLG, Stadt Trier, Sozialgericht Trier

Orientierungssatz Verein Tacheles e. V.
1.Vorläufige Gewährung von höheren Leistungen nach Maßgabe von §§ 3, 3a AsylbLG – Regelbedarfsstufe 1.

2. Inzwischen habe eine Reihe von Gerichten Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit der Leistungsgewährung entsprechend der Bedarfsstufe 2 im Fall des Bezugs von Leistungen nach § 2 AsylbLG und § 3a AsylbLG bei Personen, die in Gemeinschaftsunterkünften lebten, geäußert (Verweis auf SG Landshut, Beschluss vom 24.10.2019 – S 11 AY64/19 ER; SG Freiburg vom 03.12.2019 – S 9 AY 4605/19 ER; SG München, Hinweis vom 31.01.2020 – S 42 AY 4/20 ER; SG Hannover, Beschluss vom 20.12.2019 – S 53 AY 107/19 ER; SG Leipzig, Beschluss vom 08.01.2020 – S 10 AY 40/19 ER; Sächsisches LSG, Beschluss vom 23.03.2020 – L 8 AY 4/20 B ER; SG Kassel, Urteil vom 19.11.2020 – S 12 AY 22/20; SG Marburg, Gerichtsbescheid vom 31.12.2020 – S 9 AY 1/20; SG Frankfurt, Beschluss vom 14.01.2020 – S 30 AY 26/19 ER; SG Dresden, Beschluss vom 04.02.2020 – S 20 AY 86/19 ER; LSG Hessen, Beschluss vom 13.04.2021 – L 4 AY 3/21 B ER).

3. Das Bundesverfassungsgericht habe zudem die in § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG vorgesehene Reduzierung des Leistungssatzes für alleinstehende Asylsuchende in Sammelunterkünften für verfassungswidrig erklärt und entschieden, dass bis zu einer Neuregelung für alleinstehende Personen in Sammelunterkünften der Regelbedarf nach der Stufe 1 zu bestimmen sei (Bezugnahme auf Beschluss vom 19.10.2022 – 1 BvL 3/21). §§ 3, 3a Abs. 1 Nr. 2b, Abs. 2 Nr. 2b AsylbLG müssten unter Berücksichtigung der Entscheidung des BVerfGs teleologisch eingeschränkt ausgelegt werden (Verweis auf Bayerisches LSG vom 31.05.2023 – L 8 AY 7/23).

Quelle: RA Sven Adam

5.2 – SG Dresden, Beschluss v. 22.03.2024 – S 20 AY 13/24 ER

Leitsätze www.sozialgerichtsbarkeit.de
Im Wege einer teleologisch-systematischen Reduktion der Vorschrift des § 1a Abs. 7 Satz 1 AsylbLG ist als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal zu fordern, dass ein pflichtwidriges Verhalten des betreffenden Leistungsberechtigten gegeben ist. Dies wiederum beinhaltet, dass mit Fristsetzung auf die Möglichkeit der freiwilligen Ausreise zur Vermeidung leistungsrechtlicher Konsequenzen hingewiesen wird (Im Anschluss an: Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 31. Mai 2023 – L 8 AY 7/23 –, Rn. 46, juris).

6. Verschiedenes zum Bürgergeld, zur Sozialhilfe, zum Asylrecht, Wohngeldrecht und anderen Gesetzesbücher

6.1 – LSG NSB, Urt. v. 18.01.2024 – L 8 BL 1/20 – anhängig BSG – B 9 BL 1/24 R –

Kann der Landesgesetzgeber den Anspruch auf Landesblindengeld für Pflegeheimbewohner, die zum Zeitpunkt ihrer Aufnahme in die Einrichtung ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen Bundesland haben, durch einen Verweis auf die entsprechende Anwendung des § 109 SGB XII ausschließen?

Leitsätze
1. Nach § 1 Abs 1 Nr 1 i.V.m. der in § 1 Abs 5 BlindGeldG ND angeordneten entsprechenden Anwendung von § 109 SGB XII gilt als gewöhnlicher Aufenthalt i.S.d. § 1 Abs 1 Nr 1 BlindGeld ND u.a. nicht der Aufenthalt in einer Einrichtung i.S.d. § 98 Abs 2 SGB XII, so dass blinde Menschen keinen Anspruch auf niedersächsisches Landesblindengeld haben, wenn sie vor dem Eintritt in ein Heim ihren gewöhnlichen Aufenthalt außerhalb von Niedersachsen hatten (Zuzug aus einem anderen Bundesland).

2. § 1 Abs 1 Nr 1 i.V.m der in § 1 Abs 5 BlindGeldG ND angeordneten entsprechenden Anwendung von § 109 SGB XII lässt sich nicht im Wege der teleologischen Reduktion dahingehend eingeschränkt auslegen, dass der gewöhnliche Aufenthalt i.S.d. § 1 Abs 1 Nr 1 BlindGeldG ND nur für diejenigen sich in Niedersachsen in einer stationären Einrichtung aufhaltenden blinden Menschen Leistungsvoraussetzung ist, die Anspruch auf Blindengeld gegenüber einem anderen Bundesland haben.

3. Der durch § 1 Abs 1 und 5 BlindGeldG ND i.V.m. § 109 SGB XII landesgesetzlich bewirkte Ausschluss von Ansprüchen nach dem BlindGeldG ND für blinde Menschen in niedersächsischen stationären Einrichtungen, die vor Aufnahme in die Einrichtung ihren gewöhnlichen Aufenthalt nicht in Niedersachsen hatten, verstößt weder gegen Art 11 Abs. 1 GG noch gegen Art. 3 Abs. 3 GG und insbesondere nicht gegen Art 3 Abs 1 GG.

Wichtiger Hinweis:
Nicht veröffentlichte Urteile (gekennzeichnet durch n. v.), Anmerkungen bzw. Urteilsbesprechungen von Rechtsanwälten, welche wir von Gerichten, Rechtsanwälten oder Privatkunden erhalten, dürfen zitiert werden, aber nur mit Quellhinweis Verein Tacheles, alles andere stellt eine Urheberrechtsverletzung dar.
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Verfasser des Rechtsprechungstickers: Redakteur von Tacheles Detlef Brock
Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker