Hessisches Landessozialgericht – Beschluss vom 19.07.2024 – Az.: L 4 AY 3/24 B

BESCHLUSS

In dem Beschwerdeverfahren

xxx,

Kläger und Beschwerdeführer,

Prozessbevollm.:
Rechtsanwalt Sven Adam,
Lange Geismarstraße 55, 37073 Göttingen,

gegen

Land Hessen, vertreten durch das Regierungspräsidium Gießen
– Erstaufnahmeeinrichtung des Landes Hessen -,
Lilienthalstraße 2, 35394 Gießen,

Beklagte und Beschwerdegegnerin,

hat der 4. Senat des Hessischen Landessozialgerichts in Darmstadt am 19. Juli 2024 durch die Richterin am Landessozialgericht xxx als Vorsitzende, die Richterin am Landessozialgericht xxx und die Richterin am Landessozialgericht xxx beschlossen:

Auf die Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Sozialgerichts Gießen vom 23. Januar 2024 aufgehoben und dem Kläger Prozesskostenhilfe für das Verfahren vor dem Sozialgericht Gießen mit dem Aktenzeichen S 18 AY 83/22 unter Beiordnung von Rechtsanwalt Sven Adam, Lange Geismarstraße 55, 37073 Göttingen, bewilligt.

Kosten für das Beschwerdeverfahren sind nicht zu erstatten.

GRÜNDE

Die Beschwerde des Klägers mit dem sinngemäßen Antrag,
den Beschluss des Sozialgerichts Gießen vom 23. Januar 2024 aufzuheben und ihm Prozesskostenhilfe für das Verfahren vor dem Sozialgericht Gießen mit dem Aktenzeichen S 18 AY 83/22 unter Beiordnung von Rechtsanwalt Sven Adam, Lange Geismarstraße 55, 37073 Göttingen, zu bewilligen,
ist zulässig und begründet.

Der Kläger hat Anspruch auf die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das erstinstanzliche Verfahren.

Nach § 73a Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) i.V.m. § 114 Zivilprozessordnung (ZPO) ist einem Beteiligten, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf seinen Antrag Prozesskostenhilfe zu gewähren, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.

Der Maßstab für die insoweit geforderten Erfolgsaussichten ist im Licht der grundrechtlich garantierten Rechtsschutzgleichheit zu bestimmen. Sie folgt aus dem Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) i.V.m. dem Rechtsstaatsgrundsatz aus Art. 20 Abs. 3 GG. Gefordert ist hiernach eine Angleichung der Rechtsschutzmöglichkeiten eines Unbemittelten mit denen eines Bemittelten, der seine Erfolgsaussichten unter Berücksichtigung des Kostenrisikos vernünftig abwägt. Eine hinreichende Erfolgsaussicht in diesem Sinne besteht, wenn das Gericht den Rechtsstandpunkt des Antragstellers aufgrund der Sachverhaltsschilderung und der vorliegenden Unterlagen zumindest für vertretbar hält und in tatsächlicher Hinsicht von der Erforderlichkeit und der Möglichkeit der Beweisführung überzeugt ist, also eine nicht fernliegende Möglichkeit besteht, das Rechtsschutzziel durch Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes jedenfalls unter Zuhilfenahme aller verfahrensrechtlich vorgesehenen Rechtsbehelfe durchzusetzen (BVerfGE 81, 347 <357>; ständige Rechtsprechung, vgl. insoweit auch: BVerfG, Beschlüsse vom 16. April 2019, 1 BvR 2111/17; vom 4. September 2017, 1 BvR 2443/16 und vom 14. Februar 2017, 1 BvR 2507/16 – juris – bei Fragen einer Beweisaufnahme). Hält das Gericht die Einholung eines Sachverständigengutachtens oder eine andere Beweiserhebung von Amts wegen für notwendig, so kann in der Regel die Erfolgsaussicht auch nicht verneint werden (Schmidt in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, Kommentar, 14. Auflage 2023, § 73a Rdnr. 7a). Prozesskostenhilfe darf der unbemittelten Partei von Verfassungswegen insbesondere auch dann nicht versagt werden, wenn die Entscheidung in der Hauptsache von der Beantwortung einer schwierigen, bislang ungeklärten Rechtsfrage abhängt (BVerfG, Beschluss vom 12. Februar 2020, 1 BvR 1246/19).

Streitgegenstand des Hauptsacheverfahrens ist der Bescheid des Beklagten vom 14. Juni 2022 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 13. September 2022, mit dem der Beklagte die Gewährung von höheren Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) im Zeitraum vom 6. März 2021 bis 6. September 2021 im Wege des Zugunstenverfahrens nach § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – ablehnte. Mit Antrag vom 8. Juni 2022 hatte der Kläger die Änderung des Bescheids vom 4. März 2021 beantragt und einen Anspruch auf verfassungsgemäße Leistungen nach dem AsylbLG unter Zugrundelegung der Regelbedarfsstufe 1 geltend gemacht. Zur Begründung seiner Ablehnung führte der Beklagte aus, die Voraussetzungen einer Anspruchseinschränkung nach § 1a Abs. 3 Satz 1 AsylbLG lägen vor, der Bescheid vom 4. März 2021, mit dem ihm nur eingeschränkte Leistungen nach § 1a Abs. 3 AsylbLG zur Deckung des Bedarfs an Ernährung, Unterkunft, Heizung, Körper- und Gesundheitspflege als Sachleistung gewährt wurden, sei rechtmäßig. Gegen den Kläger habe eine aufenthaltsbeendende Maßnahme am 17. Februar 2021 aus vom Kläger zu vertretenen Gründen nicht vollzogen werden können, da der Kläger sich trotz Nachtzeitverfügung nicht in der Erstaufnahmeeinrichtung aufgehalten habe und weiterhin ein PCR-Test nicht habe durchgeführt werden können. Seit dem 11. Februar 2021 sei sein Aufenthalt unbekannt. Der Kläger habe keinen Anspruch auf höhere Leistungen nach dem AsylbLG; ihm würden entsprechend §§ 3, 3a Abs. 1 Nr. 2b, Abs. 2 Nr. 2b AsylbLG Leistungen nach der Regelbedarfsstufe 2b gewährt. Die Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes obliege dem Bundesverfassungsgericht. Bis dahin sei § 3a Abs. 1 Nr. 2 lit. b, Abs. 2 Nr. 2 lit b AsylbLG geltendes Recht und daher anzuwenden. Er habe keinen Anspruch auf Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG. Er sei erstmalig am 21. Juli 2020 in die Bundesrepublik Deutschland eingereist. Im streitgegenständlichen Zeitraum habe noch kein 18-monatiger Aufenthalt ohne wesentliche Unterbrechung im Bundesgebiet vorgelegen, wodurch keine Umstellung auf Leistungen gemäß § 2 Abs. 1 AsylbLG zu erfolgen habe.

Die hiergegen fristgerecht erhobene Klage bietet hinreichende Aussichten auf Erfolg. Der Beklagte ist bei der Berechnung der Leistungskürzung nach § 1a Abs. 3 AsylbLG von einer mit hinreichender Gewissheit verfassungswidrig bestimmten Sonderbedarfsstufe ausgegangen.

Das Bundesverfassungsgericht hat mit dem am 23. November 2022 veröffentlichten Beschluss vom 19. Oktober 2022 (1 BvL 3/21) entschieden, dass die Sonderbedarfsstufe für eine in einer Sammelunterkunft untergebrachte alleinstehende erwachsene Person nach der Parallelvorschrift des § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG mit dem Grundgesetz (Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG) unvereinbar ist (Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums). Die Annahme des Gesetzgebers, den Leistungsberechtigten sei es möglich und zumutbar, in den Unterkünften eröffnete Möglichkeiten zu gemeinsamem Wirtschaften zu nutzen, sowie die Berücksichtigung von dadurch erzielbaren Einsparungen bei der Bemessung des existenznotwendigen Bedarfs (vgl. BT-Drs. 19/10052, S. 24 f.), sei zwar im Ausgangspunkt verfassungsrechtlich nach dem Nachranggrundsatz nicht zu beanstanden. Diese Obliegenheit gemeinsamen Wirtschaftens sei aber nur dann verhältnismäßig im engeren Sinne, wenn hinreichend gesichert ist, dass in den Sammelunterkünften auch tatsächlich die Voraussetzungen dafür vorliegen, diese erfüllt werden und so Einsparungen in entsprechender Höhe erzielt werden können. Dafür haben sich bei einem gemeinsamen Aufenthalt in einer Gemeinschaftsunterkunft (§ 53 AsylG) oder Aufnahmeeinrichtung (§ 44 AsylG) keine Anhaltspunkte ergeben (vgl. BVerfG, Beschluss vom 19. Oktober 2022 – 1 BvL 3/21 – juris Rn. 74 ff.). Aus dieser Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ergeben sich hinreichende Anhaltspunkte für die Verfassungswidrigkeit des vorliegend für die Bemessung der streitgegenständlichen Leistungen maßgeblichen Norm des § 3a Abs. 1 Nr. 2 lit. b AsylbLG bzw. § 3a Abs. 2 Nr. 2 lit. b AsylbLG (Senatsbeschluss vom 20. Dezember 2022 – L 4 AY 28/22 B ER –, juris Rn. 39; vgl. hierzu Frerichs in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 4. Aufl., § 3a AsylbLG [Stand: 1. Mai 2024], Rn. 53: „ohne Zweifel“).

Die Beschränkung der Fortgeltungsgeltungsanordnung unter Anwendung der Regelbedarfsstufe 1 durch das Bundesverfassungsgericht auf nicht bestandskräftige Bescheide (BVerfG, Beschluss vom 19. Oktober 2022 – 1 BvL 3/21 – juris Rn. 98) steht den Erfolgsaussichten der Klage auf Änderung der Bescheide nach § 44 SGB X nicht entgegen, denn diese Begrenzung im Ausspruch des Bundesverfassungsgerichts betrifft wiederum nur die Parallelvorschrift des § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG. Unabhängig davon bestehen hinreichende Erfolgsaussichten am Maßstab von § 44 SGB X bereits deshalb, weil schon vor der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nach weit verbreiteter Ansicht eine verfassungskonforme Auslegung von § 3a Abs. 1 Nr. 2 lit. b AsylbLG bzw. § 3a Abs. 2 Nr. 2 lit. b AsylbLG notwendig und möglich gewesen ist (zum damaligen Meinungsstand vgl. Senatsbeschluss vom 13. April 2021 – L 4 AY 3/21 B ER –, juris Rn. 51).

Keiner Entscheidung bedarf es insoweit daher, ob die Leistungskürzung nach § 1a Abs. 3 AsylbLG dem Grunde nach rechtmäßig war oder ob der Kläger Anspruch auf Leistungen nach § 2 AsylbLG hat. Die Annahme einer hinreichenden Erfolgsaussicht ist im sozialgerichtlichen Verfahren nämlich auch dann gerechtfertigt, wenn nur von einem Teilerfolg des geltend gemachten Anspruchs auszugehen ist (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 3. August 2007 – L 7 B 232/05 AS –, Rn. 3, juris).

Ausweislich der Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse ist der Kläger weiterhin nicht in der Lage die Kosten der Prozessführung selbst aufzubringen.

Die Kostengrundentscheidung beruht auf § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG i. V. m. § 127 Abs. 4 ZPO.

Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.


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