BESCHLUSS
L 10 SF 23/24 EK AS
In dem Rechtsstreit
xxx,
– Kläger –
Prozessbevollmächtigter:
Rechtsanwalt Sven Adam,
Lange Geismarstraße 55, 37073 Göttingen
gegen
Land Niedersachsen, vertreten durch die Generalstaatsanwaltschaft Celle,
Schloßplatz 2,
29221 Celle
– Beklagter –
hat der 10. Senat des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen am 22. August 2024 in Celle durch den Vorsitzenden Richter am Landessozialgericht xxx, die Richterin am Landessozialgericht xxx und die Richterin am Landessozialgericht xxx beschlossen:
Dem Kläger wird für die Durchführung des Klageverfahrens Prozesskostenhilfe ab Antragstellung bewilligt und Rechtsanwalt Sven Adam, Lange Geismarstraße 55, 37073 Göttingen, beigeordnet. Ratenzahlung wird nicht angeordnet.
Der Beschluss ist für die Verfahrensbeteiligten unanfechtbar.
GRÜNDE
Der 1962 geborene Kläger, der im laufenden Bezug von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) steht und im Hauptsacheverfahren um Entschädigung für die überlange Dauer des beim Sozialgericht (SG) Hildesheim geführten Verfahrens zum AZ S 36 AS 1541/19 streitet, hat in Anwendung von § 73a Sozialgerichtsgesetz in Verbindung mit 114 Zivilprozessordnung (ZPO) Anspruch auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für die Durchführung des Klageverfahrens.
Gemäß § 73a Abs. 1 SGG in Verbindung mit § 114 ZPO kann Prozesskostenhilfe bewilligt werden, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg hat. Hinreichend in diesem Sinne sind die Erfolgsaussichten der Rechtsverfolgung nicht erst, wenn bei der notwendigerweise prognostischen Beurteilung der Möglichkeit des Erfolgs ein späteres Obsiegen bereits wahrscheinlicher erscheint als ein Unterliegen. Vielmehr genügt es für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe, wenn die Rechtsverfolgung auf der Grundlage eines vorläufig vertretbaren, diskussionswürdigen Rechtsstandpunkts schlüssig begründbar ist und in tatsächlicher Hinsicht die gute Möglichkeit der Beweisführung besteht (B. Schmidt in Meyer-Ladewig u.a., SGG, 14. Aufl., RdNr. 7a zu § 73a). Schon aus verfassungsrechtlichen Gründen ist bei der Beurteilung der Erfolgsaussichten eine nicht zu strenge Prüfung geboten. Art. 3 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3 und Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz gebieten eine weitgehende Gleichstellung von bemittelten und unbemittelten Personen hinsichtlich ihrer jeweiligen Möglichkeiten, effektiven Rechtsschutz in Anspruch nehmen zu können (Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung, vgl. etwa Beschluss vom 24. März 2011, Az.: 1 BvR 2493/10, ZfSH/SGB 2011,475f; Beschluss vom 26. April 1988, Az.: 1 BvL 84/86, BVerfGE 78, 104; vgl. dazu auch Gaier, NJW 2013, 2871 ff.; Schweigler, SGb 2017, 314 ff.). Dabei würde insbesondere die Rechtsweggarantie des Artikel 19 Abs. 4 GG gegenüber hoheitlichem Handeln von Sozialleistungsträgern verfehlt, wenn die erst als Ergebnis eines gerichtlichen Verfahrens zu erwartende Klärung rechtlich und tatsächlich entscheidungserheblicher Zweifel im Sinne einer allzu vergröbernden Entscheidungsprognose in das Prozesskostenhilfe-Bewilligungsverfahren vorverlagert würde. Prozesskostenhilfe darf deshalb unter dem Gesichtspunkt der nicht hinreichenden Erfolgsaussicht nur verweigert werden, wenn ein Erfolg in der Hauptsache, wenn schon nicht auszuschließen, so doch wenigstens gänzlich fernliegend ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 07. April 2000, Az.: 1 BvR 81/00, NJW 2000, 1936 ff. zur Prozesskostenhilfe-Bewilligung bei offenen Rechtsfragen).
Der Klage sind nach der im Prozesskostenhilfeverfahren nur möglichen vorläufigen Prüfung hinreichende Erfolgsaussichten im vorgenannten Sinne beizumessen. Dem Antragsteller steht voraussichtlich Entschädigung in noch zu bestimmender Höhe gemäß § 198 GVG wegen unangemessener Dauer des Ausgangsverfahrens S 36 AS 1541/219 zu.
Nach § 198 Abs. 1 GVG wird angemessen entschädigt, wer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet (Satz 1). Die Angemessenheit der Verfahrensdauer richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens und nach dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter (Satz 2).
Die Angemessenheitsprüfung erfolgt in drei Schritten (vgl. Bundessozialgericht <BSG>, Urteil vom 3. September 2014, B 10 ÜG 12/13 R, veröffentlich in juris, Rn. 29 ff.):
Ausgangspunkt und erster Schritt der Angemessenheitsprüfung bildet die Feststellung der in § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG definierten Gesamtdauer des Gerichtsverfahrens von der Einleitung des Verfahrens in erster Instanz bis zur Zustellung der endgültigen rechtskräftigen Entscheidung (vgl. BSG, Urteil vom 12. Februar 2015, B 10 ÜG 7/14 R, veröffentlicht in juris, Rn. 26).
In einem zweiten Schritt ist – monatsgenau – der Ablauf des Verfahrens an den von § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG genannten Kriterien zu messen. Dabei ist zu beachten, dass die Verfahrensführung des Ausgangsgerichts vom Entschädigungsgericht nicht auf ihre Richtigkeit, sondern nur auf ihre Vertretbarkeit zu überprüfen ist (BGH, Urteil vom 12. Februar 2015, III ZR 141/14, veröffentlicht in juris, Rn. 26; Urteil vom 13. März 2014, III ZR 91/13, veröffentlicht in juris, Rn. 34; ähnlich BSG Urteil vom 3. September 2014, B 10 ÜG 2/13 R, veröffentlicht in juris, Rn. 43). Beruht die Verfahrensdauer auf vertretbarer aktiver Verfahrensgestaltung (z.B. Zeit für Einholung von Auskünften, Zeugenaussagen, Sachverständigengutachten, Beiziehung von Akten) so macht dies die Verfahrensdauer in der Regel nicht unangemessen.
Auf dieser Grundlage ergibt erst die wertende Gesamtbetrachtung und Abwägung aller Einzelfallumstände in einem dritten Schritt, ob die Verfahrensdauer die äußerste Grenze des Angemessenen deutlich überschritten und deshalb das Recht auf Rechtschutz in angemessener Zeit verletzt hat. Dabei billigt das BSG und ihm folgend der Senat in ständiger Rechtsprechung den Ausgangsgerichten eine Vorbereitungs- und Bedenkzeit von bis zu 12 Monaten je Instanz zu, die für sich genommen noch nicht zu einer unangemessenen Verfahrensdauer führt, so dass insoweit „inaktive Zeiten“ unschädlich sind (dazu näher: BSG, Urteil vom 3. September 2014, B 10 ÜG 2/13 R, veröffentlicht in juris, Rn. 43 ff.). Aus dem Anspruch auf Rechtsschutz in angemessener Zeit folgt nämlich kein Recht auf sofortige Befassung des Gerichts mit jedem Rechtsschutzbegehren und dessen unverzügliche Erledigung. Bereits aus nachvollziehbaren Gründen der öffentlichen Personalwirtschaft ist es gerichtsorganisatorisch mitunter unvermeidbar, Richtern oder Spruchkörpern einen relativ großen Bestand an Verfahren zuzuweisen. Eine gleichzeitige inhaltlich tiefgehende Bearbeitung sämtlicher Verfahren, die bei einem Gericht anhängig oder einem Spruchkörper bzw. Richter zugewiesen sind, ist insoweit schon aus tatsächlichen Gründen nicht möglich und wird auch von Art. 20 Abs. 3 GG bzw. Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK nicht verlangt. Je nach Bedeutung und Zeitabhängigkeit des Rechtsschutzziels und abhängig von der Schwierigkeit des Rechtsstreits sowie vom Verhalten des Rechtsschutzsuchenden sind ihm gewisse Wartezeiten zuzumuten. Grundsätzlich muss dabei jedem Gericht eine ausreichende Vorbereitungs- und Bearbeitungszeit zur Verfügung stehen. Ebenso sind Gerichte – unter Beachtung des Gebots effektiven Rechtsschutzes – berechtigt, einzelne (ältere und jüngere) Verfahren aus Gründen eines sachlichen, rechtlichen, persönlichen oder organisatorischen Zusammenhangs zu bestimmten Gruppen zusammenzufassen oder die Entscheidung einer bestimmten Sach- oder Rechtsfrage als dringlicher anzusehen als die Entscheidung anderer Fragen, auch wenn eine solche zeitliche “Bevorzugung” einzelner Verfahren jeweils zu einer längeren Dauer anderer Verfahren führt (vgl. BSG, Urteil vom 3. September 2014, B 10 ÜG 2/13 R, zitiert nach Juris Rn. 44). Eine Verfahrensdauer von bis zu zwölf Monaten je Instanz ist damit regelmäßig als angemessen anzusehen, selbst wenn sie nicht durch konkrete Verfahrensförderungsschritte begründet und gerechtfertigt werden kann. Diese Zeitspanne muss und wird in der Regel nicht vollständig direkt im Anschluss an die Erhebung der Klage bzw. die Einlegung der Berufung liegen, in der das Gericht normalerweise für einen Schriftsatzwechsel sorgt und Entscheidungsunterlagen beizieht. Die Vorbereitungs- und Bedenkzeit kann vielmehr auch am Ende der jeweiligen Instanz liegen und in mehrere, insgesamt zwölf Monate nicht übersteigende Abschnitte unterteilt sein.
Bei Zugrundelegung der vorstehenden Grundsätze weist das Ausgangsverfahren eine unangemessene Verfahrensdauer auf, wovon die Beteiligten auch übereinstimmend -bei lediglich geringen Differenzen in der Berechnung des Zeitraums – ausgehen.
Die Gesamtverfahrensdauer des Ausgangsverfahrens erstreckte sich von der Klageerhebung im November 2019 bis zur Zustellung des Urteils vom 23. November 2023 am 27. Januar 2024. Insgesamt dauerte das Klageverfahren somit 51 Monate. Dieser Verfahrenszeitraum ist auch nur teilweise mit sachlich gerechtfertigten Verfahrenshandlungen besetzt gewesen, was ebenfalls zwischen den Beteiligten unumstritten ist.
Zu berücksichtigen ist insoweit, dass die kleinste relevante Zeiteinheit stets der Monat (BSG, Urteile vom 3. September 2014, B 10 ÜG 12/13 R, Rn. 29, B 10 ÜG 9/13 R, Rn. 25, B 10 ÜG 2/13, Rn. 24, jeweils zitiert nach juris) i. S. des Kalendermonats ist (BSG, Urteil vom 12. Februar 2015, B 10 ÜG 11/13 R, 2. Leitsatz und Rn. 34).
Die Begründung des beklagten Landes, warum dem Kläger in Anwendung von § 198 Abs. 2 in Verbindung mit Abs. 4 GVG dennoch lediglich ein Anspruch auf die Feststellung der Überlänge zustehen soll, vermag nicht zu überzeugen.
Zunächst handelt es sich bei dem vom Kläger geltend gemachten Anspruch, welcher ihm ja letztlich auch vom SG zugesprochen worden ist, unzweifelhaft um einen solchen grundsicherungsrechtlicher Art im Sinne des SGB II – nämlich um einen Teil der Kosten der Unterkunft (KdU). Der Kläger hat – auch dies war zwischen den Parteien des Ausgangsverfahrens unstreitig – mit eigenen Mitteln die auf die von ihm bewohnten Grundstück befindliche Hütte, die er als Aufbewahrungsort nutzt, repariert. Die KdU waren auch vom zuständigen Leistungsträger als angemessen anerkannt worden. Vor diesem Hintergrund kommt auch einer hier strittigen Summe von 211,51 €, die vom Kläger verauslagt worden wäre, eine nicht geringe Bedeutung bei. Dass es sich hier um einen grundsicherungsrechtlichen Bedarf handelt, ist weder vom beklagten Jobcenter noch vom SG bezweifelt worden. Vor diesem Hintergrund zwischen mehr oder minder dringenden Unterkunftsbedarfen zu differenzieren, wie dies das beklagte Land zu wollen scheint, findet jedenfalls im Gesetz soweit ersichtlich keine Stütze. Zudem war die streitige Summe bereits vom Kläger verauslagt worden – fehlte also in seinem grundsicherungsrechtlichen also existenzsichernden „Budget“. Dies scheint das beklagte Land zu verkennen.
Die Frage, ob die Pauschale des § 198 Abs. 2 Satz 3 GVG möglicherweise zu vermindern sein wird, wird im Klageverfahren zu prüfen sein. Selbst wenn die Pauschale aber zu vermindern wäre, so verbliebe es dennoch bei einem Anspruch auf Entschädigung. Bei der Prüfung der Frage, ob und inwieweit die Pauschale zu vermindern wäre, würde aber erneut der Umstand zu berücksichtigen sein, dass es sich hier um einen grundsicherungsrechtlichen Anspruch gehandelt hat. Insoweit wird zu prüfen sein, ob gerade bei Grundsicherungsempfängern die Belastung mit der Unsicherheit über den Ausgang des Verfahrens, die ja durch die Regelungen des § 198 GVG als immaterieller Schaden entschädigt werden soll, eine besonders hohe Belastung im Sinne eines immateriellen Schadens in den Blick zu nehmen ist.
Den Hinweis des beklagten Landes auf das vorgerichtliche Verhalten des Klägers hat der Senat zur Kenntnis genommen. Zu fragen wäre demgegenüber aber auch, ob das SG – angesichts des lange andauernden Klageverfahrens – nicht verpflichtet gewesen wäre, das Anliegen des Klägers von sich aus an das von ihm für zuständig gehaltene LSG weiterzuleiten.
Diese Entscheidung ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar, § 177 SGG.