Tacheles Rechtsprechungsticker KW 33/2024

1. Entscheidungen der Landessozialgerichte zum Bürgergeld (SGB II)

1.1 – LSG, NRW, Urt. v. 11.01.2024 – L 19 AS 1849/21 – Revision anhängig beim BSG – B 4 AS 8/24 R –

Bulgarischer Bürger hat kein Anspruch auf ALG 2 bei Unterbrechung des gewöhnlichen Aufenthalts im Bundesgebiet

Orientierungssatz Detlef Brock
1. Eine dreimonatige Inhaftierung im Heimatland stellt für einen bulgarischen Staatsangehörigen eine wesentliche Unterbrechung des gewöhnlichen Aufenthalts im Bundesgebiet dar mit der Folge, dass die Fünfjahresfrist gemäß § 7 Absatz 1 Satz 4 Halbsatz 1 SGB II nach der Haftentlassung wieder neu beginnt.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

Anmerkung Redakteur:
Auch für die Prüfung des Anspruchs auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II stellt sich die Frage des fortbestehenden Daueraufenthalts als Rückausnahme (§ 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II) zum Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II.

Der Gesetzgeber wollte einen Gleichlauf der Leistungsausschlusstatbestände zwischen dem SGB II und dem SGB XII erreichen (BT-Drs. 18/10211 S. 2, 11, 15), sodass es naheliegt, auch die Frage, ob eine leistungsschädliche Unterbrechung des Daueraufenthalts vorliegt, im SGB XII und im SGB II nach einheitlichen Kriterien zu beantworten (so ausdrücklich LSG NRW, Beschluss v. 27.05.2024 – L 9 SO 91/24 B -).

Hinweis: Claudius Voigt von der GGUA gab dazu folgendes bekannt:
Bundessozialgericht zum SGB-II-Anspruch nach fünfjährigem gewöhnlichen Aufenthalt:

Keine durchgehende Wohnsitzanmeldung erforderlich, auch Gefängnisaufenthalt zählt mit
„Ein Gefängnisaufenthalt unterbricht nicht die Fünfjahresfrist. Denn auch während der Haft kann der gewöhnliche Aufenthalt in Deutschland bestehen. Das BSG stellt dies im konkreten Fall zwar für eine nur ganz kurze Haft von drei Tagen fest. Aber es verweist in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf eine andere Entscheidung des BSG, in der es um die Frage des gewöhnlichen Aufenthalts bei Gefängnisaufenthalt ging (BSG, Urteil vom 29.5.1991 – 4 RA 38/90).“

Quelle: harald-thome.de

Hinweis:
Nachzulesen in BSG, B 4 AS 8/22 R -, Rz. 31
In diesem aktuellen Fall sprechen wir aber von 3-monatiger Haft im Heimatland, ob dies noch eine – unwesentliche kurze Unterbrechung des gewöhnlichen Aufenthalts darstellt, wird das BSG erneut beantworten müssen.

Kommentar von Harald Thomé dazu:
Diese Entscheidung ist max. restriktivste Auslegung. Im vorliegenden Fall handelt es sich nicht um eine freiwillige Wohnsitzaufgabe des bisherigen gewöhnlichen Aufenthalts im Inland, sondern um eine von außen kommende hoheitliche Maßnahme, die im Regelfall gegen den Willen des Betreffenden erfolgt. § 30 Abs. 3 S. 2 SGB I bestimmt: „Den gewöhnlichen Aufenthalt hat jemand dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt“, eine vorübergehende unter sechsmonatige Inhaftierung stellt gewiss keine Aufgabe des bisherigen Aufenthalts da.  Auch die Gerichte sind darangehalten, sicherzustellen, dass soziale Rechte möglichst weitgehend verwirklicht werden, so § 2 Abs. 2 SGB I. Die Entscheidung des 219. Senats des LSG NRW setzt diese Maßgabe gewiss nicht um. Erfreulich ist, dass Revision eingelegt wurde und es bleibt zu hoffen, dass das BSG eine andere Position entwickelt.

1.2 – LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 10.07.2024 – L 2 AS 2146/22 – Revision zugelassen

Zur Frage, ob von der typisierenden Annahme des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 4 Satz 1 Var. 2 und Var. 4 SGB II Ausnahmen aufgrund von Besonderheiten des Einzelfalls, die zur Inanspruchnahme einer ausländischen Altersversorgung führen, zugelassen werden können.

Bürgergeld: Kein Leistungsausschluss gem. § 7 Abs. 4 SGB II vom Bürgergeld für türkischen Staatsangehörigen

Orientierungssatz Detlef Brock
Der vorgesehene Ausschluss von Alg II für Rentner greift ausnahmsweise dann nicht, wenn der erwerbsfähige Betroffene aus politischen Gründen eine Rente beantragen musste in seinem Heimatland, er aber die deutsche gesetzliche Altersgrenze für den Bezug von Grundsicherungsleistungen nach dem SGB 2 noch nicht erreicht hat.
Sinn und Zweck der Regelung ist es, die erwerbsbiografische Situation der Leistungsempfänger leistungsrechtlich nachzuvollziehen, nicht aber diese zu steuern und Leistungsempfänger vom Erwerbsleben fernzuhalten.

Die erwerbsbiographische Lebensphase des Antragstellers war zum Zeitpunkt des Rentenbeginns im Alter von 45 Jahren mitnichten abgeschlossen (BSG Urteil vom 07.12.2017 – B 14 AS 7/17 R -).

Dies wird auch dadurch deutlich, dass der Kläger wieder in Vollzeit arbeitet.

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

1.3 – LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss v. 09.07.2024 – L 4 AS 167/24 B ER –

Einstweiliger Rechtsschutz auf darlehensweise Übernahme von Mietschulden

Orientierungssatz Verein Tacheles e. V.
Keine Übernahme der Mietschulden bei unangemessenen Kosten der Unterkunft (2-köpfige Familie bewohnt Reihenhaus)

Orientierungssatz Detlef Brock – Redakteur Tacheles e. V.
1. Anordnungsanspruch wurde im Zeitpunkt der Entscheidung des Senats nicht glaubhaft gemacht, denn zumutbare Selbsthilfemöglichkeiten wurden nicht ausgeschöpft, wie das Suchen nach Alternativwohnraum und der Nachweis des Nicht – Vorhandenseins nach Ersatzwohnraum wurde nicht erbracht.

2. Das Reihenhaus war von Anfang an unangemessen groß und unangemessen teuer für eine 2-köpfige Bedarfsgemeinschaft.

3. Eine dauerhafte Sicherung der Unterkunft für die Zukunft war nicht möglich, weil die Mutter über keinerlei Einkommen verfügte, nur Bürgergeld und Mehrbedarfszuschlag für Alleinerziehung.

4. Grundsätzlich ist ihnen ein Umzug im gesamten Vergleichsraum zuzumuten.

5. Grundsätzlich hat ein 8 – jähriges Kind kein Anspruch auf ein eigenes Zimmer, denn Je nach Zuschnitt ist es auch in einer Zweiraumwohnung möglich, jedem der beiden Bewohner einen eigenen Rückzugsbereich einzuräumen.

6. Alleinerziehende mit 8 – jährigem Kind benötigt keine Dreiraumwohnung.

7. Bei Umzug ist ein Schulwechsel für einen 8-Jährigen – grundsätzlich – zumutbar (vgl. LSG BB L 31 AS 627/23 B ER).

Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de

2. Entscheidungen der Sozialgerichte zum Bürgergeld (SGB II)

2.1 – SG Marburg, Urt. v. 09.07.2024 – S 8 AS 68/22 –

Leitsätze www.sozialgerichtsbarkeit.de
1. Die Fiktion des § 41a Abs. 5 SGB II tritt ein, wenn binnen eines Jahres nicht wirksam über die abschließende Leistungsfestsetzung entschieden ist. Voraussetzung für eine wirksame abschließende Entscheidung ist nach § 39 Abs. 1 SGB X auch, dass diese Entscheidung der leistungsberechtigten Person gegenüber bekanntgegeben wurde.

2. Da es sich bei der öffentlichen Zustellung nach § 10 VwZG um eine ultima-ratio-Vorschrift handelt, muss die Behörde zunächst alle anderen zumutbaren Möglichkeiten ergreifen, um den Aufenthaltsort der Adressatin des Verwaltungsaktes zu ermitteln.

3. Entscheidungen der Sozialgerichte zur Sozialhilfe (SGB XII)

3.1 – SG Dresden, Urt. v. 14.05.2024 – S 21 SO 162/22 –

Sozialhilfe: Unangemessene, behinderungsbedingte Kosten der Unterkunft sind als Eingliederungshilfe zur sozialen Teilhabe zu übernehmen (Redakteur)

Leitsätze www.sozialgerichtsbarkeit.de
1. Nach dem SGB IX nachrangige Leistungen für Wohnraum können parallel zu vorrangig zu gewährenden Leistungen als Kosten der Unterkunft nach dem SGB XII zu erbringen sein.

2. Nach dem SGB XII als unangemessen hoch geltende Kosten der Unterkunft, die einen behinderungsbedingten Ursprung haben, können nach dem Recht der Eingliederungshilfe als Leistungen für Wohnraum zur Sozialen Teilhabe in Betracht kommen (unechte Fachleistung).

3. Dies kann selbst dann der Fall sein, wenn der Leistungsberechtigte keine Assistenzleistungen im Sinne des § 77 Abs. 2 SGB IX in Anspruch nimmt.

Bemerkung
Kosten der Unterkunft als unechte Fachleistung, Leistungen für Wohnraum, Eingliederungshilfe, Soziale Teilhabe

4. Entscheidungen zum Asylrecht und AsylbLG

4.1 – SG Chemnitz, Beschluss vom 28.06.2024 – S 3 AY 16/24 ER –

SG Chemnitz: Kirchenasyl verdrängt nicht den AsylbLG-Anspruch- RA Volker Gerloff

Die Inanspruchnahme von Kirchenasyl führt nicht zu einer anderweitigen Bedarfsdeckung im Sinne des § 8 AsylbLG (Nachranggrundsatz), wenn die Leistungsgewährung lediglich im Wege der Nothilfe auf Grund des Ausbleibens der Leistungen des Sozialhilfeträgers erfolgt (SG Chemnitz, Beschluss vom 28.06.2024 – S 3 AY 16/24 ER).

Ähnlich hatte auch schon das Bayerische LSG entschieden (BayLSG, Beschluss vom 11.11.2016 – L 8 AY 28/16 B ER).

4.2 – Sozialgericht Dresden – Beschluss vom 26.07.2024 – Az.: S 20 AY 9/24

Normen: § 88 SGG – Schlagworte: Kostenlast nach Untätigkeitsklage, Sozialgericht Dresden

weiter bei RA Sven Adam

5. Verschiedenes zum Bürgergeld, zur Sozialhilfe, zum Asylrecht, Kinderzuschlag, Wohngeldrecht und anderen Gesetzesbücher

5.1 – Berliner Bürgergeld-Empfänger zahlen bei Wohnkosten am meisten drauf

Zurzeit überfluten Deutschlands Jobcenter die Bezieher von Leistungen nach dem SGB II/ SGB XII mit Kostensenkungsaufforderungen

Berliner Bürgergeld-Empfänger zahlen bei Wohnkosten am meisten drauf

Berliner Bürgergeld-Empfänger müssen im bundesweiten Vergleich am meisten zuzahlen, um ihre Wohnkosten zu finanzieren – knapp 160 Euro im Monat.

Das geht aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linken im Bundestag hervor, wie die Nachrichtenagentur DPA am Sonntag meldet.

Aber auch in anderen großen Städten drückt man das Existenzminimum von Leistungsempfängern! In Mecklenburg – Vorpommern, Sachsen und weiteren Bundesländern

https://taz.de und https://www.n-tv.de

Anmerkung:
Die Bedarfe für Unterkunft und Heizung gehören zum Existenzminimum nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Wird dieses unterschritten, ist der Gesetzesgeber gefragt.

Ihr müsst Euch alle endlich wehren, denn angemessener Wohnraum ist in Deutschland ja kaum noch vorhanden.

Lesetipp: Redakteur
Wohnraum, der nach den Vorgaben des sozialen Wohnungsbaus und des WoGG angemessen ist, kann jedenfalls in angespannten Wohnungsmärkten nicht grundsicherungsrechtlich unangemessen sein, so dass viele Kostensenkungsaufforderungen der Jobcenter rechtswidrig sind (LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 17.01.2024 – L 32 AS 1179/23 B ER –).

weiter hier: www.gegen-hartz.de

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Verfasser des Rechtsprechungstickers: Redakteur von Tacheles Detlef Brock
Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker