Sozialgericht Hildesheim – Urteil vom 27.08.2024 – Az.: S 27 AY 165/21

URTEIL

S 27 AY 165/21

In dem Rechtsstreit

xxx,

– Klägerin –

Prozessbevollmächtigter:
Rechtsanwalt Sven Adam,
Lange Geismarstraße 55, 37073 Göttingen

gegen

Landkreis Göttingen,
vertreten durch den Landrat,
Reinhäuser Landstraße 4, 37083 Göttingen

– Beklagter –

hat die 27. Kammer des Sozialgerichts Hildesheim auf die mündliche Verhandlung vom 27. August 2024 durch die Richterin am Sozialgericht xxx sowie die ehrenamtliche Richterin xxx und den ehrenamtlichen Richter xxx für Recht erkannt:

Der Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides vom 23. November 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. Dezember 2021 in Gestalt sämtlicher Änderungsbescheide verurteilt, der Klägerin im Zeitraum Dezember 2021 bis einschließlich Mai 2022 Leistungen nach § 2 AsylbLG zu gewähren und nachzuzahlen.

Der Beklagte hat der Klägerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

TATBESTAND

Streitig ist der Anspruch auf sogenannte Analogleistungen nach § 2 AsylbLG im Zeitraum Dezember 2021 bis einschließlich Mai 2022.

Die am xxx 1998 in Luhansk, Ukraine geborene Klägerin befand sich im streitbefangenen Zeitraum im örtlichen und sachlichen Zuständigkeitsbereich des Beklagten. Sie reiste zusammen mit ihrer Mutter am 28. Mai 2015 erstmalig in das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ein. Zuvor hatte sie einige Monate zusammen mit ihrer Mutter bei Freunden der Mutter in Moskau verbracht, nachdem sie die Ukraine verlassen hatten. Da die Mutter angab, über einen sowjetischen Pass verfügt zu haben und ein Daueraufenthaltsrecht für sich und ihre Tochter in der Ukraine gehabt zu haben, wurde bei der Klägerin bei Einreise die russische Staatsangehörigkeit vermerkt. Im laufenden Asylverfahren gab die Mutter der Klägerin an, dass diese über keine Staatsangehörigkeit verfüge. Als Volkszugehörigkeit wurde armenisch vermerkt und eine armenisch-katholische Religionszugehörigkeit. Der Asylantrag der Klägerin ist seit dem 12. Juni 2019 rechtskräftig abgelehnt.

Mit Schreiben vom 13. August 2019 forderte der Beklagte die Klägerin auf Pass bzw. Passersatzpapiere vorzulegen. Die Aufforderung wiederholte er mit Schriftsatz vom 27. Oktober 2020.

Mit Bescheid vom 23. November 2021 bewilligte der Beklagte der Klägerin im Zeitraum Dezember 2021 bis einschließlich Mai 2022 Leistungen nach dem AsylbLG unter Berücksichtigung einer Kürzung nach § 1a Abs. 3 AsylbLG. Die Klägerin komme ihren Mitwirkungspflichten nicht nach. Sie habe keinen Nationalpass vorgelegt oder die Beantragung durch eine entsprechende Bescheinigung des Konsulates oder der Botschaft nachgewiesen. Sie habe daher die Dauer ihres Aufenthaltes rechtsmissbräuchlich verlängert. Hiergegen erhob die Klägerin am 7. Dezember 2021 Widerspruch. Der Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 16. Dezember 2021 zurück.

Hiergegen hat die Klägerin mit Schriftsatz vom 21. Dezember 2021, beim Sozialgericht Hildesheim am 23. Dezember 2021 eingegangen, Klage erhoben. Sie ist der Auffassung, ihren Mitwirkungspflichten vollends nachgekommen zu sein. Sie habe keinerlei Möglichkeiten einen Nationalpass zu beantragen, weil sie über keinerlei Dokumente verfüge, die ihre Identität nachweisen könnten. Sie könne auch entsprechende Dokumente nicht beibringen. Die Geburtsurkunde, die sie gehabt habe, sei bei Einreise in die Bundesrepublik Deutschland durch Schleuser abgenommen worden. Weitere Dokumente habe sie nicht. Sie könne nicht über Verwandte entsprechende Dokumente erhalten. Zu ihrem Vater bestehe seit vielen Jahren kein Kontakt mehr. Sie habe bei den Botschaften der Russischen Föderation, der Ukraine, des Iran und von Aserbaidschan vorgesprochen. Sie habe von keinem dieser Staaten eine Bestätigung erhalten, dass sie eine Staatsangehörige sei. Vielmehr habe man sie aufgrund der fehlenden Ausweispapiere stets ergebnislos weggeschickt. Sie habe sich über einen Vertrauensanwalt um die Ausstellung einer Geburtsurkunde in der Ukraine bemüht. Dies sei erfolglos verblieben. Sie habe die Aussage erhalten, dass über ihre Geburt keinerlei Unterlagen vorlägen. Sie habe damit keinerlei Möglichkeit einen Identitätsnachweis zu führen und damit einen Nationalpass oder Passersatzpapiere zu erhalten. Ihre Möglichkeiten seien ausgeschöpft. Sie habe alle Angaben stets wahrheitsgemäß gemacht. Sie habe nie über ihre Identität getäuscht. Sie habe nie über einen Personalausweis oder ähnliche Ausweisdokumente verfügt.

Die Klägerin beantragt,
den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 23. November 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. Dezember 2021 zu verurteilen, der Klägerin im Zeitraum Dezember 2021 bis einschließlich Mai 2022 Leistungen nach § 2 AsylbLG zu gewähren und nachzuzahlen.

Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Er ist der Auffassung, die Klägerin sei ihren Mitwirkungspflichten nicht genügend nachgekommen. Er verweist dabei einerseits auf die Entscheidungen des Verwaltungsgerichtes Göttingen, des Oberverwaltungsgerichtes Lüneburg sowie des Landessozialgerichtes Niedersachsen-Bremen. Diese Gerichte hätten festgestellt, dass die Klägerin ihren Bemühungen nicht nachgekommen sei. Es sei nicht glaubhaft, dass die Klägerin nie über Ausweisdokumente verfügt habe. Sie habe sich seit ihrer Geburt bis ins Jahr 2015 in der Ukraine aufgehalten und habe nach den Angaben ihrer Mutter dort über ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht verfügt. Sie sei dort zur Schule gegangen und habe dort normal gelebt. Dies bedeute, dass sie zumindest in der Vergangenheit über Ausweisdokumente habe verfügen müssen. Sie sei aus der Ukraine in die Russische Föderation eingereist und habe mehrere Monate in Moskau verweilt. Auch hierfür hätte sie Ausweispapiere haben müssen.

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE

Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage gemäß § 54 Abs. 1 und 4 SGG zulässig und begründet. Der angefochtene Verwaltungsakt ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, soweit ihr nicht im streitbefangenen Zeitraum Analogleistungen gewährt worden sind.

Nach § 2 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG sind abweichend von den §§ 3 und 4 sowie 6-7 das SGB XII und Teil 2 SGB IX auf diejenigen Leistungsberechtigten entsprechend anzuwenden, die sich seit 36 Monaten ohne wesentliche Unterbrechung im Bundesgebiet aufhalten und die Dauer des Aufenthaltes nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben.

Die Kammer kann im vorliegenden Fall offenlassen, ob § 2 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG in der bis zum 26. Februar 2024 geltenden Fassung oder in der aktuell geltenden Fassung anzuwenden ist, weil die Klägerin im streitbefangenen Zeitraum seit mindestens 36 Monaten ohne wesentliche Unterbrechung im Bundesgebiet aufhältig gewesen ist und die Dauer des Aufenthaltes nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst hat.

Der Begriff des Rechtsmissbrauches enthält eine objektive (den Missbrauchstatbestand) und eine subjektive Komponente (das Verschulden). Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass niemand sich auf eine Rechtsposition berufen darf, die er selbst treuwidrig herbeigeführt hat. In objektiver Hinsicht setzt der Rechtsmissbrauch ein unredliches von der Rechtsordnung missbilligtes Verhalten voraus. Der Ausländer soll danach von Analogleistungen ausgeschlossen sein, wenn die von § 2 AsylbLG vorgesehene Vergünstigung anderenfalls auf gesetzwidrige oder sittenwidrige Weise erworben wäre. Dabei genügt angesichts des Sanktionscharakters des § 2 AsylbLG nicht schon jedes irgendwie zu missbilligende Verhalten. Art, Ausmaß und Folgen der Pflichtverletzung wiegen für den Ausländer so schwer, dass auch der Pflichtverletzung im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ein erhebliches Gewicht zukommen muss. Daher führt nur ein Verhalten, das unter jeweiliger Berücksichtigung des Einzelfalles, der besonderen Situation eines Ausländers in der Bundesrepublik Deutschland und der besonderen Eigenheiten des AsylbLG unentschuldbar ist (Sozialwidrigkeit), zum Ausschluss von Analogleistungen (BSG, Urteil vom 17. Juni 2008, B 8/9b AY 1/07 R, Rn. 32 f, zitiert nach juris).

Gemessen an diesem Maßstab kann der Klägerin ein solches von der Rechtsordnung missbilligtes, sozialwidriges Verhalten nicht zum Vorwurf gemacht werden.

Die Klägerin hat sich zur Überzeugung der Kammer und unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Einzelfalles ausreichend um eine Klärung ihrer Staatsangehörigkeit und Beschaffung eines Nationalpasses bemüht. Die Kammer stellt zunächst fest, dass die Klägerin nicht über ihre Identität in dem Sinne getäuscht hat, dass sie falsche Angaben zu Namen, Geburtsdatum oder Geburtsort gemacht hat. Die Klägerin hat durchgängig dieselben Angaben zu Ihrer Person gemacht. Die Kammer ist der Überzeugung, dass zumindest die Klägerin davon ausgeht, dass es sich dabei um wahrheitsgemäße Angaben handelt.

Die Kammer ist in Kenntnis der bisher ergangenen Rechtsprechung und nach Auswertung der Argumente der Überzeugung, dass die Klägerin dennoch alles ihr zumutbare getan hat, um Ausweispapiere zu erhalten. Die Ausländerbehörde hat zuletzt in den Schreiben aus den Jahren 2019 und 2020 keine konkreten Bemühungen aufgezeigt, die die Klägerin verfolgen könnte, um für den Beklagten ausreichende Identitätspapiere zu beschaffen. Es wird stets allgemein auf die Notwendigkeit der Beschaffung eines Passes hingewiesen. Dass die Klägerin zuvor über Papiere verfügen muss, die eine Ausstellung eines Nationalpasses möglich erscheinen lassen, wird nicht berücksichtigt. Diesbezüglich werden keine entsprechenden konkreten Aufforderungen an die Klägerin formuliert. Bezüglich der Beschaffung von Papieren, die ihre Identität nachweisen, sieht die Kammer keinerlei zumutbare Mitwirkungshandlung für die Klägerin mehr. Die Klägerin hat sich über einen Vertrauensanwalt an Standesämter in der Ukraine gewandt. Hier hat sie die Auskunft erhalten, dass über ihre Geburt keinerlei Unterlagen bestünden und daher eine Geburtsurkunde nicht ausgestellt werden könne. Die Angaben beinhalteten jedes Mal auch die Prüfung im zentralen Standesamtsregister der Ukraine. Die Kammer hält es auch nicht für unglaubhaft, dass die Klägerin bislang nicht über Ausweispapiere verfügte bzw. aktuell nicht über Ausweispapiere verfügt. Dem Beklagten ist zuzustimmen, wenn er davon ausgeht, dass eine Registrierung in der Ukraine wohl erfolgt sein müsste, weil die Klägerin und ihre Mutter über Daueraufenthalte für die Ukraine verfügten. Ob und inwieweit in den neunziger Jahren begründete Unterlagen archiviert worden sind, dürfte zweifelhaft sein. Wenn schon die Geburt der Klägerin der Ukraine nicht vermerkt wurde, so ist unwahrscheinlich, dass ein Daueraufenthalt für sie in den Akten vermerkt worden ist. Die Kammer ist ebenfalls der Überzeugung, dass für einen Grenzübertritt von der Ukraine in die Russische Föderation im Jahre 2015 nicht zwingend Papiere erforderlich gewesen sind. Aufgrund der Situation in der Ostukraine vor allem in der Region Luhansk und Donetzk dürften strikte Grenzkontrollen unwahrscheinlich gewesen sein. Die Kammer ist ferner der Überzeugung, dass, soweit eine Person ohne Ausweispapiere in ein Land einreist, sich in diesem auch ohne Passpapiere einige Zeit aufhalten kann. Auch unter Berücksichtigung der politischen Ordnung der Russischen Föderation ist ein solcher Sachverhalt für die Kammer denkbar und nicht ausgeschlossen. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass die Klägerin mit ihrer Mutter ohne Ausweispapiere in die Bundesrepublik Deutschland eingereist ist. Wenn die Reise von Moskau in die Bundesrepublik Deutschland und damit auch die Durchreise durch mehrere Staaten der Europäischen Union möglich ist, so ist der Grenzübergang in einem politisch schwierigen Gebiet, dessen staatliche Zugehörigkeit umstritten ist, nicht undenkbar.

Die Kammer ist ferner der Überzeugung, dass die Mitwirkungshandlungen bereits im streitbefangenen Zeitraum ausgeschöpft gewesen sind bzw. keine Aussicht auf Erfolg gehabt haben. Unter Berücksichtigung der Kampfhandlungen in Luhansk und den angrenzenden Regionen, der politisch schwierigen Lage und der zum damaligen Zeitpunkt angestrebten und dann durchgeführten Annexion durch die russische Föderation hält es die Kammer für ausgeschlossen, dass die Klägerin auch im Jahre 2020 verwertbare Angaben zu einer Geburtsurkunde oder gar die Geburtsurkunde selbst hätte erhalten können.

Lediglich ergänzend weist die Kammer darauf hin, dass sie ebenfalls der Überzeugung ist, dass das Verhalten der Klägerin nicht im Sinne der Verlängerung des Aufenthaltes vorwerfbar ist. Die Kammer ist der Überzeugung, dass die Klägerin nicht weiß an welche Stellen sie sich konkret zuwenden hat, um die vom Beklagten verlangten Identitätspapiere zu erhalten. Dass sich die Klägerin mittlerweile an die Botschaft des Iran und des Aserbaidschan gewandt hat, verdeutlicht dies. Die Kammer ist der Überzeugung, dass die Klägerin dies nicht getan hat, um Mitwirkungshandlungen vorzutäuschen, sondern dass sie schlicht nicht weiß an welche Stelle sie sich noch zuwenden hat.

Insgesamt hat die Klägerin damit einen Anspruch auf Analogleistungen. Damit ist auch die Kürzung der Leistungen nach § 1a Abs. 3 AsylbLG rechtswidrig gewesen. Aus dem Rechtsanspruch auf die Gewährung der Leistung folgt der Anspruch auf Auszahlung.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG und orientiert sich am Ausgang des Verfahrens.

Es folgt die Rechtsmittelbelehrung.