Tacheles Rechtsprechungsticker KW 35/2024

1. Entscheidungen des Bundessozialgerichts zur Grundsicherung (SGB II) und zum Asylrecht

1.1 – BSG, Urt. v. 28.02.2024 – B 4 AS 22/22 R

Grundsicherung für Arbeitsuchende – Einkommensberücksichtigung – Verkaufserlös – Fondsanteile – Schonvermögen – Vermögensumschichtung

Bundessozialgericht zum Verkaufserlös aus Fondsanteilen und der Frage, ob der Erlös wie Zinsen Einkommen darstellt oder lediglich eine Vermögensumschichtung vorliegt.

Versilbertes Vermögen dürfen die Grundsicherungsträger nicht als Einkommen berücksichtigen

Orientierungssatz Verein Tacheles e. V.
1. Der im Bewilligungszeitraum erzielte Erlös aus dem Verkauf von zum Schonvermögen zählenden Fondsanteilen ist nicht als Einkommen zu berücksichtigen, sondern es handelt es sich hierbei lediglich um eine Vermögensumschichtung.

2. Die Besteuerung von Veräußerungsgewinnen ist für die grundsicherungsrechtliche Abgrenzung von Einkommen und Vermögen unerheblich.

Volltext: www.rechtsprechung-im-internet.de

Rechtstipp:
Offen gelassen hat das BSG die Frage,

Ob es Fälle geben mag, von diesem allgemeinen grundsicherungsrechtlichen Maßstab bei der Abgrenzung von Einkommen und Vermögen abzuweichen.

Das wäre zum Beispiel der Fall, dass bei der Veräußerung von Vermögensgegenständen ein Erlös oberhalb des Verkehrswerts erzielt werden kann, der ggf als Einkommen zu berücksichtigen sei.

1.2 – BSG, Urt. v. 29.02.2024 – B 8 AY 3/23 R

Asylbewerberleistungsrecht – stationäre psychiatrische Behandlung – Leistungen bei Krankheit – sonstige Leistung zur Sicherung der Gesundheit

Zur Frage der Unerlässlichkeit sonstiger Leistungen zur Sicherung der Gesundheit (hier: einer stationären Krankenhausbehandlung) im Sinne des § 6 Absatz 1 Satz 1 Alternative 2 AsylbLG.

Über die Frage, ob die Kosten für die Behandlung in einer psychiatrischen Klinik als Krankheitskosten nach dem Asylbewerberleistungsgesetz zu erstatten sind.

BSG Urteil: Schwer psychisch kranken Asylbewerbern muss geholfen werden.

Orientierungssatz Redakteur
Kosten einer stationären psychiatrischen Behandlung für Asylbewerber bei akuter Erkrankung sind zu erstatten.

Volltext: www.rechtsprechung-im-internet.de

1.3 – BSG, Beschluss v. 03.12.2023 – B 4 AS 188/22 BH –

Leitsätze www.sozialgerichtsbarkeit.de
Durch den Übertragungsbeschluss wird der Berichterstatter zusammen mit den ehrenamtlichen Richtern (sogenannter kleiner Senat) auch für die Entscheidung über Klageänderungen, die während des Berufungsverfahrens erfolgen, zuständig.

2. Entscheidungen der Landessozialgerichte zum Bürgergeld (SGB II)

2.1 – LSG NSB, Urt. v. 27.06.2024 – L 13 AS 192/22 –

Leitsätze www.sozialgerichtsbarkeit.de
Inwieweit ein Änderungsbescheid nach dem SGB II frühere Bewilligungen unverändert lässt und damit wiederholende Verfügungen enthält, ist durch Auslegung des Bescheides zu ermitteln, wobei es maßgeblich darauf ankommt, wie der Adressat den Bescheid bei verständiger Würdigung der Umstände des Einzelfalls objektiv verstehen musste.

2.2 – LSG BW, Urt. v. 07.08.2023 – L 12 AS 688/23 –

Leitsätze www.sozialgerichtsbarkeit.de
1. Die Auslegung des Klageantrags hat sich im Hinblick auf die rechtlichen Besonderheiten einer Bedarfsgemeinschaft im Sinne des SGB II auch bei der Frage, welche Personen einer Bedarfsgemeinschaft überhaupt Klage erhoben haben, am Meistbegünstigungsprinzip zu orientieren (BSG, Urteil vom 07.11.2006, B 7b AS 8/06 R).

2. Wird trotz nicht statthafter Berufung vom SG über eine Berufung belehrt, liegt darin zwar eine fehlerhafte Rechtsmittelbelehrung, jedoch ohne dass die Möglichkeit einer Umdeutung der ausdrücklich eingelegten Berufung in eine Nichtzulassungsbeschwerde besteht; vielmehr ist das falsche Rechtsmittel (hier Berufung) als unzulässig zu verwerfen (BSG, Urteil vom 04.07.2018, B 3 KR 14/17 R)

2.3 – LSG Schleswig-Holstein, Urt. v. 16.01.2024 – L 12 SF 16/21 EK – Revision zugelassen

Zur Frage, ob die Erhebung einer auf die bloße Feststellung der Überlänge eines Gerichtsverfahrens beschränkten Entschädigungsklage nach § 198 GVG zulässig ist oder nicht.

Leitsätze www.sozialgerichtsbarkeit.de
1. Eine auf Feststellung der unangemessen langen Dauer eines gerichtlichen Verfahrens beschränkte Entschädigungsklage nach § 198 GVG ist zulässig. Weder für die Zulässigkeit einer solchen isolierten Feststellungsklage, noch für den materiellen Feststellunganspruch ist die Anbringung einer Verzögerungsrüge während des Laufs des Ausgangsverfahrens eine Voraussetzung.

2. Im Falle eines Vielklägers, der bei dem Ausgangsgericht innerhalb eines Zeitraumes von zwei Jahren nahezu dreißig Hauptsache- und Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes anbringt, ist dem Ausgangsgericht mit Blick auf diese Verfahren eine erhöhte Vorbereitungs- und Bedenkzeit zuzubilligen.

2.4 – LSG NSB, Beschluss v. 22.08.2024 – L 10 SF 23/24 EK AS –

Gewährung von Prozesskostenhilfe, denn dem Antragsteller steht voraussichtlich Entschädigung in noch zu bestimmender Höhe gemäß § 198 GVG wegen unangemessener Dauer des Ausgangsverfahrens S 36 AS 1541/219 zu.

„Die Frage, ob die Pauschale des § 198 Abs. 2 Satz 3 GVG möglicherweise zu vermindern sein wird, wird im Klageverfahren zu prüfen sein.

Selbst wenn die Pauschale aber zu vermindern wäre, so verbliebe es dennoch bei einem Anspruch auf Entschädigung.

Bei der Prüfung der Frage, ob und inwieweit die Pauschale zu vermindern wäre, würde aber erneut der Umstand zu berücksichtigen sein, dass es sich hier um einen grundsicherungsrechtlichen Anspruch gehandelt hat.

Insoweit wird zu prüfen sein, ob gerade bei Grundsicherungsempfängern die Belastung mit der Unsicherheit über den Ausgang des Verfahrens, die ja durch die Regelungen des § 198 GVG als immaterieller Schaden entschädigt werden soll, eine besonders hohe Belastung im Sinne eines immateriellen Schadens in den Blick zu nehmen ist.

Denn vor diesem Hintergrund zwischen mehr oder minder dringenden Unterkunftsbedarfen zu differenzieren, wie dies das beklagte Land zu wollen scheint, findet jedenfalls im Gesetz soweit ersichtlich keine Stütze. „

Quelle: RA Sven Adam

2.5 – LSG NSB, Urteil vom 20. Juni 2024 – L 11 AS 117/24 – Revision zugelassen

Kein Bürgergeld bei Jugendarrest ab dem 1. Tag

Das Gesetz sieht einen Leistungsausschluss für Personen vor, die sich in einer „Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung“ aufhielten. Hiervon würde alle Freiheitsentziehungen in allen Rechtsbereichen erfasst.

Auch ein Jugendarrest habe unterbringenden Charakter und sei daher eine Freiheitsentziehung.

Zwar sei der Arrest aufgrund der Besonderheiten des Jugendstrafrechts in der Vollstreckung variabel und könne jederzeit geändert werden.

Gleichwohl stelle die aktuelle Gesetzesfassung nur auf die Freiheitsentziehung als solche ab, nicht aber auf ihre Rechtsgrundlage.

Der Gesetzgeber habe klarstellen wollen, dass Personen im Freiheitsentzug generell keinen Anspruch auf Grundsicherungsleistungen hätten.

Quelle: landessozialgericht.niedersachsen.de

Rechtstipp:
ebenso Sächsisches LSG, Beschluss v. 08.08.2022 – L 6 AS 431/21 NZB –

a.A. LSG Thüringen, Urt. v. 30.06.2022 – L 7 AS 747/20 – Revision zugelassen, Sozialgericht Braunschweig, Urt. vom 02.03.2023 – S 18 AS 649/19 – u. LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 24. September 2014 – L 4 AS 318/13 –

Die Verbüßung eines Jugendarrestes nach § 16 JGG unterfällt nicht dem Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 4 S. 2 SGB II.

2.6 – LSG Bayern, Urt. v. 13.05.2024 – L 7 AS 2/22 –

Leitsätze www.sozialgerichtsbarkeit.de
1. Die Höhe des Regelbedarfs war im Jahr 2021 insgesamt verfassungsgemäß.
2. Ein Anspruch auf Mehrbedarf wegen der Maskenpflicht bestand 2021 nicht.

3. Entscheidungen der Sozialgerichte zum Bürgergeld (SGB II)

3.1 – keine

4. Entscheidungen der Landessozialgerichte zur Sozialhilfe (SGB XII)

4.1 – LSG BW, Beschluss v. 29.07.2024 – L 2 SO 2041/24 –

Sozialhilfe: Keine Übernahme des nicht behinderungsbedingt anfallenden Eigenanteils für eine Urlaubsreise – aber

1. § 113 SGB IX beschreibt die zu erbringenden Leistungen zur sozialen Teilhabe als nicht abschließend („insbesondere“)

2. Auch ein behinderungsbedingter Mehrbedarf für die Teilnahme an einer Urlaubsreise kann von dieser Norm erfasst sein.

3. Es werden aber keine Kosten erfasst, die in keinen Zusammenhang mit der Behinderung des Antragstellers stehen, wie für Reise, Verpflegung, Unterkunft etc.

4. Kosten für den eigenen Urlaub sind grundsätzlich nicht als Leistung der Eingliederungshilfe zu übernehmen (Orientierungssatz Detlef Brock).

Rechtstipp:
Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft umfassen im Rahmen selbstbestimmter Freizeitgestaltung auch die notwendigen behinderungsbedingten Mehrkosten für eine angemessene Urlaubsreise (BSG, Urt. v. 19.05.2022 – B 8 SO 13/20 R –).

DAS BSG bestätigt Kostenübernahme einer – Begleitperson – während einer Urlaubsreise.

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Verfasser des Rechtsprechungstickers: Redakteur von Tacheles Detlef Brock
Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker