1. Entscheidungen der Landessozialgerichte zum Bürgergeld (SGB II)
1.1 – LSG BB, Urt. v. 21.03.2024 – L 4 AS 1070/20 –
Leitsätze www.sozialgerichtsbarkeit.de
Eine nicht erwerbstätige EU-Ausländerin kann ein zum Bezug von Grundsicherungsleistungen berechtigtes Aufenthaltsrecht zur Wahrung der familiären Verhältnisse haben, wenn sie in Deutschland mit ihrem dreijährigen Kind und dessen über ein eigenes Aufenthaltsrecht als Arbeitnehmer verfügenden Vater zusammenlebt.
Rechtstipp
LSG BB, Urt. v. 01.06.2023 – L 32 AS 2002/19 –
Unter Berücksichtigung der Wertungen aus Art 6 Abs 1 GG und Art 8 Abs 1 EMRK (juris: MRK) hat der polnische Großvater eines minderjährigen Deutschen ein Recht auf Aufenthalt im Bundesgebiet zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte gemäß § 28 Abs 4 AufenthG (juris: AufenthG 2004) iVm § 36 Abs 2 S 1 AufenthG.
Er ist damit nicht wegen § 7 Abs 1 S 2 SGB II von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende ausgeschlossen.
1.2 – LSG NSB, Urteil vom 20. Juni 2024 – L 11 AS 117/24 – Revision zugelassen
Die Verbüßung eines Jugendarrestes nach § 16 Jugendgerichtsgesetz (JGG) unterfällt dem Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 4 S. 2 SGB II. Für eine erwerbszentrierte Definition des Begriffs der Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung (§ 7 Abs. 4 S. 2 SGB II) ist im Hinblick auf die hierauf nicht anwendbare Rückausnahme nach § 7 Abs. 4 S. 3 Nr. 2 SGB II kein Raum.
Volltext jetzt hier: voris.wolterskluwer-online.de
1.3 – LSG NRW, Urt. v. 26.07.2023 – L 12 AS 68/22 – BSG, Beschluss v. 28.06.2024 – B 4 AS 92/23 B –
Keine Gewährung von Einstiegsgeld nach § 16b SGB II für einen Kiosk, wenn die Gewährung von Einstiegsgeld nicht erforderlich im Sinne von § 16b Abs. 1 S. 1 SGB II ist. Denn die Gewährung von Einstiegsgeld kommt nicht in Betracht, wenn die Beschäftigung bei Antragstellung bereits ausgeübt wird (Tacheles e. V.)
Hinzu kommt, dass der Antragsteller in den ersten 24 Monaten seiner selbstständigen Tätigkeit bei prognostischer Betrachtungsweise keinerlei Privatentnahmen zur Bestreitung seines Lebensunterhaltes aus dem Betrieb seines Kiosks entnehmen können würde, und somit eine Überwindung der Hilfebedürftigkeit durch den Betrieb des Brunnenkiosks nicht angenommen werden kann (Tacheles e. V.).
1. Wird eine Beschäftigung bereits ausgeübt, kann die bezweckte Motivationshilfe für eine Beschäftigungsaufnahme nicht mehr erreicht werden. Eine solche ist auch dann nicht erforderlich, wenn ein Arbeitsloser auch ohne die Förderung bereits fest entschlossen ist, die angebotene Beschäftigung zu beginnen (vgl. LSG Sachsen-Anhalt Urteil vom 04.10.2012, L 5 AS 157/10).
2. Sinn und Zweck von § 16b SGB II ist es, einen Anreiz für die Aufnahme und Fortführung einer abhängigen oder selbstständigen Tätigkeit zu schaffen, nicht jedoch die dauerhafte Fortführung einer solchen Tätigkeit zu subventionieren (LSG Niedersachsen Bremen Urteil vom 25.05.2011, L 13 AS 178/10; LSG NRW Urteil vom 06.06.2013, L 7 AS 1884/12).
Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de
1.4 – LSG Schleswig-Holstein, Beschluss v. 22.08.2024 – L 6 AS 46/24 B ER –
Bürgergeld: Unwirksame Mieterhöhung – muss das Jobcenter – in tatsächlicher Höhe übernehmen
Auch unwirksame Mietzinsvereinbarungen sind als tatsächliche Aufwendungen der Unterkunft vom Jobcenter zu übernehmen, wenn sie tatsächlich vom Hilfebedürftigem gezahlt werden (Orientierungssatz Detlef Brock)
Denn Bedarfe für die Unterkunft und Heizung in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen werden anerkannt, soweit diese angemessen sind.
Nach dieser Regelung sind als Mietzinsen die tatsächlichen Aufwendungen des Hilfebedürftigen berücksichtigungsfähig, soweit sie auf der Grundlage einer mit dem Vermieter getroffenen Vereinbarung beruhen und vom erwerbsfähigen Hilfebedürftigen tatsächlich gezahlt werden.
Dabei werden die tatsächlichen Aufwendungen nicht dadurch begrenzt, dass die fragliche Vereinbarung, die zur Mietzinserhöhung geführt hat, möglicherweise zivilrechtlich unwirksam ist (vgl. bei einer Vereinbarung zu einer Staffelmiete BGS, Urteil vom 22. September 2009 – B 4 AS 8/09 R –).
Allerdings sind Aufwendungen für Unterkunftskosten, die auf einer zivilrechtlich unwirksamen Grundlage beruhen, nicht dauerhaft aus öffentlichen Mitteln zu bestreiten.
Hält das Jobcenter eine Vereinbarung über Unterkunftskosten für unwirksam, kann es das Kostensenkungsverfahren nach § 22 Abs. 1 Satz 3 SGB II betreiben, denn eine auf Grund einer unwirksamen Vereinbarung getätigte Zahlung ist nicht angemessen im Sinne des § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II.
§ 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II enthält insoweit keine Beschränkung der zu übernehmenden tatsächlichen Unterkunftskosten auf solche Kosten, die bereits bei Eintritt der Hilfebedürftigkeit nach dem SGB II zu zahlen waren.
Denn auch eine analoge Anwendung des § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB II zu Lasten des erwerbsfähigen Hilfebedürftigen ist in Fällen einer Mieterhöhung ohne Umzug nicht zulässig (BSG, Urteil vom 23. August 2012 – B 4 AS 32/12 R -).
Quelle: www.sozialgerichtsbarkeit.de
Rechtstipp:
vgl. dazu SG Dortmund, Urteil vom 14. August 2017 – S 60 AS 1326/14 –
Notwendige Kostensenkungsaufforderung des Jobcenters bei einer unwirksamen zivilrechtlichen Vereinbarung
Die Kostensenkungsaufforderung muss den Hilfebedürftigen in den Fällen einer zivilrechtlich unwirksamen Mietzinsvereinbarung in die Lage versetzen, seine Rechte gegenüber dem Vermieter durchzusetzen.
Die Kostensenkungsaufforderung darf sich in diesem Fall ausnahmsweise nicht darauf beschränken, dem Hilfebedürftigen lediglich den nach Auffassung des Jobcenters angemessenen Mietzins und die Folgen mangelnder Kostensenkung vor Augen zu führen.
Ein Jobcenter hat hier seinen Rechtsstandpunkt dem Leistungsempfänger gegenüber in der Weise darzulegen, dass die hilfebedürftige Person zur Durchsetzung ihrer Rechte gegenüber dem Vermieter befähigt wird.
Bis zu diesen wichtigen Erläuterungen sind für Leistungsbezieher Maßnahmen der Kostensenkung regelmäßig subjektiv unmöglich.
2. Entscheidungen der Landessozialgerichte zum Arbeitsförderungsrecht (SGB III)
2.1 – LSG Mecklenburg-Vorpommern, Urt. v. 26.06.2024 – L 2 AL 9/19 –
Verkürzung der Sperrzeit wegen besonderer Härte (§ 159 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 Buchstabe b SGB III), weil eine zwölfwöchige Sperrfrist nach den Gesamtumständen unverhältnismäßig ist.
Eine Sperrzeit beim ALG 1 ist aufgrund einer besonderen Härte auf 6 Wochen zu verkürzen bei ei einer (beabsichtigten) Wiederaufnahme der Beschäftigung während der laufenden Sperrfrist (Orientierungssatz Detlef Brock)
1. Eine Sperrzeit beim ALG 1 ist wegen besonderer Härte auf 6 Wochen zu verkürzen bei einer (beabsichtigten) Wiederaufnahme der Beschäftigung während der laufenden Sperrfrist.
2. Dies ist dann der Fall, wenn wie hier die Kündigung des Arbeitgebers befristet war und es sich um einen ” verdeckten ” Aufhebungsvertrag gehandelt hat, was als bedingtes Wiedereinstellungsangebot auszulegen ist.
3. Mit dem im weiteren Verlauf stattdessen erfolgten rechtswidrigen Behördenhandeln – hier dem Unterlassen der Rückgabe der Fahrerlaubnis – musste nicht gerechnet werden.
4. Dem Regelungsgefüge ist nicht zu entnehmen, dass der Gesetzgeber die Verkürzung einer Sperrzeit im Sinne einer bewussten Nichtregelung für die hiesige Konstellation ausschließen wollte.
Zumal er mit § 159 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 Buchstabe b SGB III gerade eine auf Unverhältnismäßigkeitsaspekten basierende Härtefallregelung vorgesehen hat, der die hiesige Konstellation zugänglich ist (Orientierungssatz Detlef Brock).
3. Entscheidungen der Sozialgerichte zur Sozialhilfe (SGB XII)
3.1 – SG Halle, Beschluss v. 11.04.2024 – S 7 SO 9/24 ER –
Leitsatz
Pflegebedürftige Menschen haben einen Anspruch auf Bewilligung von Leistungen der Hilfe zur Pflege für ein Arbeitgeber-Assistenz-Modell und auf Teilhabeleistungen für Assistenzleistungen, auch im Rahmen eines Persönlichen Budgets (§ 64f Abs. 3 SGB XII, § 113 Abs. 2 Nr. 2 SGB IX).
Der Anspruch auf diese Leistungen ist nicht davon abhängig, dass die pflegebedürftige bzw. behinderte Person selbst in vollem Umfang alle Arbeitgeberfunktionen ausüben kann, wenn die erforderliche Unterstützung durch andere erfolgt.
Pflegebedürftige Menschen im Rentenalter sind nicht von Leistungen der Eingliederungshilfe ausgeschlossen.
Die zuständige Behörde ist verpflichtet, die Antragsteller bei der Umsetzung zu beraten und zu unterstützen (§ 64f Abs. 2 SGB XII und § 113 Abs. 1 Satz 2 SGB IX sowie § 29 Abs. 2 Satz 6 SGB IX).
Wenn Menschen weiter in der eigenen Häuslichkeit leben möchten, ist die Suche eines Platzes in einer stationären Einrichtung keine geeignete Unterstützungsmaßnahme.
Der Kostenvergleich nach § 104 Abs. 2 Satz 2 SGB IX bezieht sich nur auf vergleichbare Leistungen. Leistungen zur Unterstützung des selbstbestimmten Lebens in der eigenen Wohnung und Leistungen für eine stationäre Einrichtung sind nicht vergleichbar im Sinn dieser Regelung.
Quelle: www.landesrecht.sachsen-anhalt.de
3.2 – SG Berlin, Urt. v. 14.06.2024 – S 70 SO 1726/19 –
Leitsätze www.sozialgerichtsbarkeit.de
Zum Nachweis der finanziellen Hilfebedürftigkeit des Patienten im Spannungsfeld zwischen materieller Beweislast des Krankenhauses und Amtsermittlungspflicht des Sozialhilfeträgers (bzw. des Gerichts)
Orientierungssatz Redakteur
Die Nichterweislichkeit der anspruchsbegründenden Tatsachen des § 25 SGB XII geht grundsätzlich zu Lasten des Nothelfers, hier also der Klägerin.
Der materiellen Beweislast der Klägerin steht die Amtsermittlungspflicht des Beklagten gegenüber.
Verschafft der Nothelfer dem Sozialhilfeträger also die Kenntnis vom Eilfall, obliegt diesem – nicht anders als im Falle der Vermittlung der Kenntnis durch den Hilfebedürftigen selbst – die weitere Sachverhaltsaufklärung von Amts wegen nach § 20 SGB X, auch wenn der Nothelfer die materielle Beweislast dafür trägt, dass der geltend gemachte Anspruch besteht (BSG, Urteil vom 18. November 2014 – B 8 SO 9/13 R).
4. Entscheidungen der Sozialgerichte zum Bürgergeld
4.1 – SG Berlin, Urt. vom 15.05.2024 – S 142 AS 12605/18 –
Alle (zwei) Jahre wieder- Aktualisierungspflicht der AV Wohnen….
Ein Beitrag von RA Kay Füßlein, Berlin
Nach einigem Hin und Her gibt es seit Mai 2024 einen neuen Mietspiegel in Berlin.
Dies hat nach den §§ 22 a SGB II eine Aktualisierungspflicht der Jobcenter (bzw. des Senats) zur Folge, die nach § 22 SGB II angemessenen Mieten neu zu bestimmen.
Dies ist bis heute (traditionell) nicht der Fall.
Zwar ist die AV Wohnen kein schlüssiges Konzept in Sinne der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes; dieser Umstand mangelnder Anpassung macht die AV Wohnen Berlin aber sozusagen noch „rechtswidriger“.
Die Rechtsfolge hat das SG Berlin bereits mit Urteil vom 15. Mai 2019 festgestellt, als das gleiche Spiel beim Mietspiegel 2017 gespielt worden war: es ist jeweils auf den aktuell erschienenen Mietspiegel abzustellen.
Dann wäre die AV Wohnen nur noch rechtswidrig, da die Verfügbarkeitsprüfung fehlt…..
Zum Urteil: www.ra-fuesslein.de
5. Verschiedenes zum Bürgergeld, zur Sozialhilfe, zum Asylrecht, Kinderzuschlag, Wohngeldrecht und anderen Gesetzesbücher
5.1 – SG Kiel, Urteil vom 25.04.2024 – S 15 SB 130/20 –
Merkzeichen G auch ohne mobilitätsbezogenen GdB von 50 –
Ein Beitrag von RA Helge Hildebrandt, Kiel,
Das Merkzeichen G, welches bei einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr zuerkannt wird und neben Vergünstigungen bei der Nutzung des ÖPNV auch zu einem Mehrbedarfsanspruch von 17 % beim Bürgergeld (§ 23 Nr. 4 SGB II) und der Altersgrundsicherung (§ 30 Abs. 1 SGB XII) führt, setzt bereits nach dem klaren Wortlaut der Versorgungsmedizin-Verordnung (Teil D 1.) keine mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung mit einem GdB von 50 voraus.
weiter zur Quelle RA Helge Hildebrandt
Verfasser des Rechtsprechungstickers: Redakteur von Tacheles Detlef Brock
Quelle: Tacheles-Rechtsprechungsticker