Sozialgericht Kassel – Urteil vom 03.06.2024 – Az.: S 11 AY 85/23

URTEIL

In dem Rechtsstreit

xxx,

Kläger,

Prozessbevollm.:
Rechtsanwalt Sven Adam
Lange-Geismar-Straße 55, 37073 Göttingen,

gegen

Stadt Kassel,
vertreten durch den Magistrat,
Rechtsamt,
Rathaus, 34117 Kassel,

Beklagte,

hat die 11. Kammer des Sozialgerichts Kassel auf die mündliche Verhandlung vom 3. Juni 2024 durch den Vorsitzenden, Richter xxx, sowie die ehrenamtlichen Richter Herr xxx und Frau xxx, für Recht erkannt:

Die Beklagte wird unter Aufhebung des Widerspruchsbescheides vom 27.11.2023 verurteilt, dem Kläger unter Feststellung der Notwendigkeit der Hinzuziehung eines Rechtsanwalts die notwendigen Aufwendungen für das Widerspruchsverfahren gegen den Bescheid des Beklagten vom 16.10.2023 zu erstatten.

Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers.

Die Berufung wird nicht zugelassen.

TATBESTAND

Der Kläger begehrt die Erstattung von Kosten eines durchgeführten Vorverfahrens nach den Vorschriften des Zehnten Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB X).

Der 199x in Guinea geborene Kläger besitzt die guineische Staatsangehörigkeit. Er reiste am 10.01.2019 erstmalig in die Bundesrepublik Deutschland ein und stand sodann bei der Beklagten im Bezug von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG). Mit der Beklagten stritt der Kläger vor dem Sozialgericht Kassel (Az. S 12 AY 95/21) über die Höhe von Leistungen nach dem AsylbLG im Zeitraum 01.09.2019 bis 03.10.2019. Das Verfahren endete vor dem Hintergrund bundesverfassungsgerichtlicher Rechtsprechung (Az. 1 BvL 3/21) mit einem prozessualen Anerkenntnis der Beklagten vom 10.03.2023: Die Beklagte erkannte die Differenz von Regelbedarfsstufe 2 zu 1 für den streitbefangenen Zeitraum dem Grunde nach an.

In Reaktion hierauf beantragte der Prozessbevollmächtigte des Klägers mit Schreiben vom 14.03.2023 bei der Beklagten die Verzinsung der Nachzahlung für den Zeitraum 01.09.2019 bis 03.10.2019. Mit Schreiben vom 16.10.2023 nahm die Beklagte hierzu Stellung und teilte wörtlich mit:

„…hiermit nehmen wir Bezug auf Ihr Schreiben vom 14.03.2023. Darin beantragen Sie Prozesszinsen im Rahmen des Leistungszeitraums 01.09.2019 bis 03.10.2019.
Mit der Klageschrift vom 07.11.2021 zum Az. S 12 AY 95/21 wurden Ihrerseits keine Prozesszinsen verfolgt oder im laufenden Klageverfahren geltend gemacht. Nach Beendigung des Verfahrens bzw. außerhalb dessen werden keine Prozesszinsen gewährt.
Ihr Antrag wird aus o.g. Gründen abgelehnt.“

Eine Rechtsbehelfsbelehrung enthielt das Schreiben nicht. Auch trug es keine Bezeichnung wie „Bescheid“ o.ä.

Gegen dieses Schreiben erhob der Kläger, vertreten durch seinen Prozessbevollmächtigten, am 17.10.2023 Widerspruch. Zur Begründung verwies er auf die Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 25.10.2018 zum Az. B 7 AY 2/18 R.

Mit Schreiben vom 15.11.2023 teilte die Beklagte entgegen ihrer zunächst anderslautenden Äußerung vom 16.10.2023 mit, die Auszahlung von Prozesszinsen für den Zeitraum 01.09.2019 bis 03.10.2019 in Höhe von 9,84 € nunmehr veranlasst zu haben.

Mit Schreiben vom 16.11.2023 führte der Klägerbevollmächtigte sodann aus, das Schreiben der Beklagten vom 15.11.2023 stelle eine vollständige Abhilfe im Widerspruchsverfahren dar, enthalte jedoch keine Kostenentscheidung. Er beantragte daher, die Kostenentscheidung zu treffen und über die Frage der Notwendigkeit seiner Hinzuziehung zu entscheiden.

Mit Widerspruchsbescheid vom 27.11.2023 wies das Regierungspräsidium Kassel den Widerspruch vom 17.10.2023 gegen das Schreiben der Beklagten vom 16.10.2023 als unzulässig zurück. Auch wurde entschieden, dass Aufwendungen Verfahrensbeteiligter nicht zu erstatten seien. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass es hier bereits an einem Verwaltungsakt, konkret dem notwendigen Merkmal einer Regelung gefehlt habe, sodass ein Widerspruch nicht statthaft gewesen sei. Die Beklagte habe ausdrücklich nicht in der Sache entschieden und habe richtigerweise das Fehlen einer hierfür erforderlichen Verwaltungsaktbefugnis erkannt. Die Entscheidung über den prozessualen Nebenanspruch auf Prozesszinsen nach § 291 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) müsse durch das Sozialgericht getroffen werden oder hätte vom Anerkenntnis im zu Grunde liegenden Verfahren mitumfasst sein müssen. Auch deute das Fehlen einer Rechtsbehelfsbelehrung unter dem Schreiben der Beklagten vom 16.10.2023 darauf hin, dass diese keine endgültige Entscheidung habe treffen wollen. Zudem könne das Begehren grundsätzlich mit einer Leistungsklage verfolgt werden.

Am 07.12.2023 erhob der Kläger Klage und führte zur Begründung aus, bei der Ablehnung der Verzinsung der Nachzahlung handele es sich um einen rechtswidrigen und widerspruchsfähigen Verwaltungsakt, gegen den Widerspruch erhoben wurde. Dieser sei mithin nicht unzulässig gewesen, durch die sodann erfolgte Verzinsung sei diesem zudem abgeholfen worden. Der Beklagte habe somit auch die notwendigen Auslagen zu tragen.

Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Widerspruchsbescheides vom 27.11.2023 zu verurteilen, dem Kläger unter Feststellung der Notwendigkeit der Hinzuziehung eines Rechtsanwalts die notwendigen Aufwendungen für das Widerspruchsverfahren gegen den Bescheid des Beklagten vom 16.10.2023 zu erstatten.

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Die Beklagte hat im Klageverfahren ergänzend vorgetragen, entsprechend der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts vom 25.10.2018 zum Az. B 7 AY 2/18 R sei „selbstständiger Rechtsgrund“ der Prozesszinsen allein die Rechtshängigkeit der Forderung, weshalb es hierfür keiner Regelung im Sinne des § 31 Satz 1 SGB X bedurft habe. Der bloße Zahlungsanspruch unterliege allgemeinem Schuldrecht und sei vom Beklagten vor Inverzugsetzung erfüllt worden.

Wegen des Weiteren Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen.

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE

Streitigkeiten um Kosten eines Widerspruchsverfahrens folgen der Rechtswegzuständigkeit in der Sache. In Angelegenheiten des AsylbLG entscheiden auch insoweit die Sozialgerichte, § 51 Abs. 1 Nr. 6 SGG (Flint in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl., § 51 SGG (Stand: 16.05.2024), Rn. 345).

Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 4 i.V.m. § 130 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz, SGG) zulässig und begründet.

Die Kostenentscheidung im Widerspruchsbescheid vom 27.11.2023 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.

Rechtsgrundlage für die Erstattung von Kosten im Vorverfahren ist 80 Abs. 1 Satz 1 Hessisches Verwaltungsverfahrensgesetz (HVwVfG), denn das AsylbLG gilt nicht als besonderer Teil des SGB (vgl. § 68 Erstes Buch Sozialgesetzbuch – SGB I), mit der Folge, dass die Verwaltungsverfahrensgesetze der Länder auf das Verwaltungsverfahren nach dem AsylbLG Anwendung finden, sofern § 9 Abs. 3 AsylbLG nicht ausdrücklich eine entsprechende Anwendung bestimmter Vorschriften des SGB X vorsieht. Einen Verweis auf § 63 SGB X enthält § 9 Abs. 3 AsylbLG jedoch nicht (vgl. LSG Nordrhein-Westfahlen, Beschluss vom 01.04.2014 – L 20 AY 70/13 B, juris, Rn. 20, m.w.N.; SG Kassel, Urteil vom 28. Februar 2023 – S 12 AY 20/21 –, juris Rn. 23).

Nach § 80 Abs. 1 Satz 1 HVwVfG hat der Rechtsträger, dessen Behörde den angefochtenen Verwaltungsakt erlassen hat, demjenigen, der Widerspruch erhoben hat, die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen zu erstatten, soweit der Widerspruch erfolgreich ist. Die Vorschrift entspricht vom Wortlaut des § 63 Abs. 1 Satz 1 SGB X.

Zwischen den Beteiligten ist bereits streitig, ob die Beklagte einen Verwaltungsakt erlassen hat. Ein Verwaltungsakt im Sinne von § 35 Satz 1 HVwVfG bzw. § 31 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) ist jede Verfügung, Entscheidung oder andere hoheitliche Maßnahme, die eine Behörde zur Regelung eines Einzelfalles auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts trifft und die auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtet ist. Ein solcher Verwaltungsakt liegt hier mit dem Schreiben der Beklagten vom 16.10.2023 zur Überzeugung des Gerichts vor.

Dabei richtet sich die Auslegung eines Schreibens als Verwaltungsakt nach den für Willenserklärungen (§§ 137, 157 Bürgerliches Gesetzbuch – BGB) maßgebenden Auslegungsgrundsätzen. Maßgeblich ist in Anwendung dieser Grundsätze der objektive Sinngehalt der Erklärung, d.h. wie der Empfänger die Erklärung bei verständiger Würdigung nach den Umständen des Einzelfalles objektiv verstehen musste (Mutschler in: BeckOGK, 15.8.2023, SGB X, § 31, Rn. 32 m.w.N.). Nach diesen Grundsätzen stellt sich das Schreiben des Beklagten vom 16.10.2023 als Verwaltungsakt dar, wofür der sehr deutliche Wortlaut spricht, der eine Regelung/Feststellung dahingehend beinhaltet, dass ein Anspruch des Klägers auf Prozesszinsen nicht bestehe. Auch die Wortwahl, dass der „Antrag aus o.g. Gründen abgelehnt“ werde, impliziert nach allgemeinem Sprachverständnis, dass ein Anspruch des Klägers auf Verzinsung unter keinem erdenklichen Gesichtspunkt bestehe und ist als Formulierung für einen Verwaltungsakt geradezu typisch. Die Wortwahl erweckt im Übrigen aus der Sicht eines objektiven Empfängers den Eindruck einer endgültigen Entscheidung. Hieran ändert sich auch nichts dadurch, dass der Kläger anwaltlich vertreten war. Auch ein Volljurist konnte die Entscheidung der Beklagten dahingehend verstehen, dass es ihr endgültiger erklärter Wille war, keine Prozesszinsen zu zahlen, obschon solche dem Kläger ausweislich der sozialgerichtlichen Rechtsprechung (BSG, Urteil vom 25. Oktober 2018 – B 7 AY 2/18 R –, SozR 4- 1200 § 44 Nr 8, SozR 4-7610 § 291 Nr 5) zustanden. Nicht zuletzt gehen verbliebene Unklarheiten zu Lasten der Beklagten, denn sie allein hat es in der Hand, den Erklärungsgehalt unmissverständlich zum Ausdruck zu bringen (vgl. BVerwG, Urteil vom 5. November 2009 – 4 C 3/09 –, BVerwGE 135, 209-218 = juris Rn. 21).

Es ist auch nicht erheblich, dass der Begründung hier kein Verfügungssatz in der Art einer Entscheidungsformel vorangestellt war; ein Verfügungssatz kann auch räumlich in der Begründung des Verwaltungsakts enthalten sein (Mutschler, a.a.O, Rn. 33). Auch dass der Beklagten gegebenenfalls das Erklärungsbewusstsein fehlte, ist für die Frage des Vorliegens eines Verwaltungsaktes, deren Beantwortung sich, wie bereits ausgeführt, nach dem objektiven Empfängerhorizont richtet, unerheblich. Gegen den materiell- rechtlichen Verwaltungsaktcharakter kann auch nicht etwa angeführt werden, dass eine Rechtsbehelfsbelehrung hier fehlte, da das Fehlen einer Regelungsabsicht seitens der Behörde nicht von vornherein entgegensteht und im Übrigen nur dazu führt, dass die Frist zur Widerspruchserhebung sich von einem Monat auf ein Jahr verlängert.

Am Vorliegen eines Verwaltungsakts ändert sich schließlich nichts dadurch, dass der Beklagten nach Auffassung des Gerichts eine Verwaltungsaktbefugnis fehlte. Denn selbständiger Rechtsgrund der mit dem Antrag des Klägers vom 14.03.2023 begehrten Prozesszinsen ist nach bundessozialgerichtlicher Rechtsprechung allein die Rechtshängigkeit einer Forderung (vgl. BSG, Urteil vom 25. Oktober 2018 – B 7 AY 2/18 R –, SozR 4-1200 § 44 Nr 8, SozR 4-7610 § 291 Nr 5 = juris Rn. 23). Es bedarf dementsprechend keines Umsetzungsaktes der Behörde in der Form eines Verwaltungsaktes, sondern diese hat als Schuldnerin von Amts wegen einer Verzinsung der Nachzahlung vorzunehmen. Der Beklagten wird an dieser Stelle nahegelegt, einer Verzinsung der Nachzahlungen künftig zeitnah von Amts wegen nachzukommen, um weitere Verwaltungs- und Klageverfahren zu vermeiden, und auf die erfolgte Auszahlung formlos hinzuweisen.

Vor dem dargelegten Hintergrund hat der Beklagte dem Kläger die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung bzw. Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen zu erstatten. Hierzu zählen auch die Gebühren und Auslagen des im Vorverfahren bevollmächtigten Rechtsanwalts des Klägers. Bei der Beurteilung, ob die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten notwendig ist, ist eine weite Auslegung geboten, weil der Gesetzgeber davon ausgeht, dass das Sozialrecht eine Spezialmaterie ist, die nicht nur der rechtsunkundigen Partei, sondern selbst ausgebildeten Juristen Schwierigkeiten bereitet (Feddern in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 3. Aufl., § 63 SGB X (Stand: 23.04.2024), Rn. 65). Dementsprechend war auch vorliegend die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten notwendig § 80 Abs. 1 Satz 1 HVwVfg. Dies äußert sich nicht zuletzt darin, dass die Verwaltungsaktqualität des Schreibens des Beklagten vom 16.10.2023 nicht ohne Weiteres ersichtlich war.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Berufung bedurfte der Zulassung durch das Sozialgericht, da der Wert des Beschwerdegegenstandes 750,00 € nicht übersteigt (§ 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG), es sich nicht um einen Erstattungsstreit nach § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG handelt, und wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr nicht im Streit sind (§ 144 Abs. 1 Satz 2 SGG). Gründe für eine Zulassung der Berufung im Sinne von § 144 Abs. 2 SGG liegen jedoch nicht vor.

Es folgt die Rechtsmittelbelehrung.


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