BESCHLUSS
In dem Rechtsstreit
1. xxx,
Antragsteller,
2. xxx,
Antragstellerin,
Prozessbevollm.:
Rechtsanwalt Sven Adam,
Lange-Geismar-Straße 55, 37073 Göttingen,
gegen
Landkreis Fulda,
vertreten durch den Kreisausschuss,
5300 Zentraler Fachbereichsservice,
Robert-Kircher-Straße 24, 36037 Fulda,
Antragsgegner,
hat die 7. Kammer des Sozialgerichts Fulda am 28. November 2024 durch den Richter am Sozialgericht xxx beschlossen:
- Die aufschiebende Wirkung des am 20.10.2024 erhobenen Widerspruchs gegen den Bescheid vom 10.10.2024 wird angeordnet.
- Der Antragsgegner hat den Antragstellern die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.
- Den Antragstellern wird unter Beiordnung von Herrn Rechtsanwalt Adam in Göttingen Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung für den ersten Rechtszug mit Wirkung ab 12.11.2024 bewilligt. Die Beiordnung erfolgt zu den Bedingungen eines im Bezirk des Prozessgerichts niedergelassenen Rechtsanwalts.
GRÜNDE
Mit dem vorliegenden Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes begehren die Antragsteller die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihres am 20.10.2024 erhobenen Widerspruchs gegen den Bescheid vom 10.10.2024. Dieser Antrag ist gemäß § 86b Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft und auch im Übrigen zulässig. Der Bescheid des Antragsgegners vom 10.10.2024, mit welchem der Erstbescheid vom 27.08.2024 hinsichtlich der Leistungshöhe zum 31.10.2024 zurückgenommen und die monatlichen Leistungen ab 01.11.2024 gemäß § 1a Abs. 4 S. 2 AsylbLG neu festgesetzt wurden, stellt einen Verwaltungsakt dar, mit dem eine Leistung nach dem AsylbLG teilweise entzogen wurde und gegen den Widerspruch und Anfechtungsklage gemäß § 11 Abs. 4 Nr. 1 AsylbLG keine aufschiebende Wirkung haben.
Der Antrag ist daneben auch begründet.
Nach § 86b Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Entscheidungserheblich für die Frage, ob ein Antrag nach § 86b Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGG Erfolg hat, ist, ob im Rahmen einer offenen Interessenabwägung einem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehbarkeit des Verwaltungsaktes Vorrang gegenüber schützenswerten Interessen des Adressaten einzuräumen ist. Sind Widerspruch oder Klage in der Hauptsache offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist in den Fällen des § 86a Abs. 2 Nr. 2 – 4 SGG der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ohne weitere Interessenabwägung grundsätzlich abzulehnen, weil der gesetzlich angeordneten sofortigen Vollziehbarkeit des Verwaltungsaktes kein schützenswertes Interesse des Bescheidadressaten entgegenstehen kann. Sind dagegen Widerspruch und Klage in der Hauptsache offensichtlich zulässig und begründet, ist dem Antrag stattzugeben, weil dann kein öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehbarkeit besteht. Sind die Erfolgsaussichten nicht abschätzbar, bleibt eine allgemeine Interessenabwägung, wobei der Grad der Erfolgsaussichten im Hauptsacheverfahren zu berücksichtigen ist. Es gilt der Grundsatz: Je größer die Erfolgsaussichten sind, umso geringer sind die Anforderungen an das Aussetzungsinteresse des Antragstellers. Umgekehrt sind die Anforderungen an die Erfolgsaussichten umso geringer, je schwerer die Verwaltungsmaßnahme wirkt. Gegenüberzustellen sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die Eilentscheidung nicht erginge, die Klage aber später Erfolg hätte, und die Nachteile, die entstünden, wenn die begehrte Eilentscheidung erlassen würde, der Klage aber der Erfolg zu versagen wäre. Dabei darf in die Abwägung einfließen, dass der Gesetzgeber für den Regelfall die sofortige Vollziehung vorgesehen hat, solange das Rechtsschutzinteresse des Antragstellers unter Beachtung seiner Rechte aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG berücksichtigt bleibt, insbesondere mit einer sofortigen Vollziehung keine schwere, unzumutbare Härte für ihn verbunden ist. (Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, Sozialgerichtsgesetz, 14. Auflage 2023, § 86b, Rn. 12 f, 12c, 2a).
Hieran gemessen war dem Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid vom 10.10.2024 zu entsprechen, weil sich dieser als offensichtlich rechtswidrig erweist.
Mit dem angefochtenen Bescheid vom 10.10.2024 nahm der Antragsgegner den Erstbescheid vom 27.08.2024 hinsichtlich der Leistungshöhe zum 31.10.2024 zurück und setzte die den Antragstellern gewährten Leistungen ab 01.11.2024 neu fest. Der Antragsgegner führt in dem angefochtenen Bescheid zwar nicht aus, auf welche Ermächtigungsgrundlage er seine Entscheidung stützt. Angesichts des Umstandes, dass der Antragsgegner davon ausgeht, dass die Antragsteller von Anfang an nur Anspruch auf Leistungen gemäß § 1a Abs. 4 S. 2 AsylbLG hatten und der Antragsgegner zudem seine Entscheidung vom 10.10.2024 als „Rücknahme“ bezeichnet hat, kann als Ermächtigungsgrundlage allein § 45 SGB X, welcher gemäß § 9 Abs. 4 Nr. 1 AsylbLG entsprechend anzuwenden ist, in Betracht kommen.
Bei § 45 SGB X handelt es sich um eine Ermessensnorm. Ist einem Leistungsträger Ermessen eingeräumt, so bedeutet dies nicht, dass die Entscheidung über die Rechtsfolge in seinem freien Belieben stünde. § 39 Abs. 1 S. 1 SGB I regelt für den Fall, dass die Leistungsträger ermächtigt sind, bei der Entscheidung über Sozialleistungen nach ihrem Ermessen zu handeln, ihr Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten haben. Auf pflichtgemäße Ausübung des Ermessens besteht gemäß § 39 Abs. 1 S. 2 SGB I ein Anspruch. Die Ermessensentscheidung des Antragsgegners ist gerichtlich nur auf sogenannte Ermessensfehler überprüfbar. Insbesondere darf das Gericht bei der Ermessensüberprüfung nicht sein eigenes Ermessen an die Stelle des Verwaltungsermessens setzen. Bei der Überprüfung der eigentlichen Ermessensentscheidung findet nur eine Rechtskontrolle, keine Zweckmäßigkeitsüberprüfung statt (Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, Sozialgerichtsgesetz,14. Auflage 2023, § 54, Rn. 28).
Im Rahmen der grundsätzlich in Betracht kommenden Ermessensfehler wird es als Ermessensüberschreitung bezeichnet, wenn eine Rechtsfolge gesetzt wird, die die gesetzliche Regelung so überhaupt nicht vorsieht. Von Ermessensnichtgebrauch oder Ermessensunterschreitung spricht man, wenn die Verwaltung – gleich aus welchen Gründen – überhaupt keine Ermessenserwägungen anstellt und so handelt, als ob sie eine gebundene Entscheidung zu treffen hätte. Eine Ermessensunterschreitung kann auch dann vorliegen, wenn die Notwendigkeit von Ermessenserwägungen zwar erkannt wird und auch zulässige, aber unzureichende Ermessenserwägungen angestellt werden. Ermessensmissbrauch oder Ermessensfehlgebrauch schließlich liegt vor, wenn die Verwaltung entgegen § 39 Abs. 1 SGB I gerade nicht ihr Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung ausübt. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn sachfremde Erwägungen angestellt werden (vgl. zum Ganzen: Groth in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB I, 4. Aufl., § 39 SGB I (Stand: 15.06.2024), Rn. 35 ff.). Die Gründe, die der Ermessensentscheidung zugrunde gelegen haben, muss die Beklagte in dem Bescheid darlegen. Ist die Ermessensausübung fehlerhaft, ist der Verwaltungsakt gemäß § 54 Abs. 2 S. 2 SGG schon deshalb rechtswidrig.
Hieran gemessen ist festzustellen, dass der Bescheid vom 10.10.2024 an einem Ermessensnichtgebrauch leidet. Das Gericht kann nicht erkennen, dass dem Antragsgegner bei Erlass des Bescheides vom 10.10.2024 überhaupt bewusst war, dass die Rücknahmeentscheidung auf § 45 SGB X zu stützen und dementsprechend eine Ermessensentscheidung zu treffen war. In der Begründung des Bescheides wird die Ermächtigungsgrundlage für die getroffene Entscheidung nicht genannt, sondern es werden lediglich die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 1a Abs. 4 S. 2 in Verbindung mit Abs. 1 AsylbLG dargelegt und geprüft. Da dementsprechend Ausführungen zu den Voraussetzungen der Ermächtigungsgrundlage für die Rücknahmeentscheidung insgesamt und folglich auch im Hinblick auf die zu treffenden Ermessenserwägungen fehlen, ist die Entscheidung nach alledem offensichtlich ermessensfehlerhaft und dementsprechend materiell rechtswidrig. Dem Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes war folglich zu entsprechen und die aufschiebende Wirkung des am 20.10.2024 erhobenen Widerspruchs gegen den Bescheid vom 10.10.2024 anzuordnen.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Den Antragstellern war Prozesskostenhilfe zu bewilligen, da diese nach den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung auch nicht ratenweise aufbringen können. Das Begehren bietet im Übrigen hinreichende Aussicht auf Erfolg und erscheint auch nicht mutwillig §§ 73a Sozialgerichtsgesetz (SGG), 114 Zivilprozessordnung (ZPO). Eine anwaltliche Vertretung ist erforderlich §§ 73a Sozialgerichtsgesetz (SGG), 121 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO).
Aus § 121 Abs. 3 ZPO ergibt sich, dass ein nicht in dem Bezirk des Prozessgerichts niedergelassener Rechtsanwalt grundsätzlich nur beigeordnet werden kann, wenn dadurch weitere Kosten nicht entstehen. Da besondere Umstände, welche ausnahmsweise für die Beiordnung eines auswärtigen Anwalts sprechen, nicht ersichtlich sind, kann eine Beiordnung des auswärtigen Anwalts vorliegend nur zu den Bedingungen eines im Gerichtsbezirk niedergelassenen Rechtsanwalts erfolgen (B. Schmidt in: Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, Sozialgerichtsgesetz, 14. Auflage 2023, § 73a, Rn. 9c m.w.N.).
Es folgt die Rechtsmittelbelehrung.