Sozialgericht Darmstadt – Beschluss vom 30.01.2025 – Az.: S 16 AY 67/23

BESCHLUSS

In dem Rechtsstreit

1. xxx,

Kläger,

2. xxx,

Klägerin,

Prozessbevollm.: zu 1-2:
Rechtsanwalt Sven Adam
Lange-Geismar-Straße 55, 37073 Göttingen,

gegen

Land Hessen,
vertreten durch das Regierungspräsidium Darmstadt,
Luisenplatz 2, 64283 Darmstadt,

Beklagter,

hat die 16. Kammer des Sozialgerichts Darmstadt am 30. Januar 2025 durch die Vorsitzende, Richterin am Sozialgericht xxx, beschlossen:

Der Beklagte hat dem Kläger die notwendig entstandenen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

GRÜNDE

Gemäß § 193 Abs. 1 S. 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) analog entscheidet das Gericht auf Antrag durch Beschluss, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben, wenn das Verfahren anders als durch Urteil beendet wird. Vorliegend wurde das Verfahren durch Erklärung des Prozessbevollmächtigten der Kläger vom 01.11.2023 beendet und ein entsprechender Kostenantrag gestellt.

Die Kostengrundentscheidung richtet sich unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes nach billigem Ermessen des Gerichts (Rechtsgedanke des § 91a Zivilprozessordnung (ZPO) und des § 161 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO)). Grundsätzlich sind die Verfahrenskosten demjenigen aufzuerlegen, der im Verfahren unterliegt. Allerdings sind die Erfolgsaussichten sowie der tatsächliche Ausgang des Verfahrens keine alleinigen Kriterien für die Kostenentscheidung. Vielmehr hat das Gericht neben dem Ergebnis des Rechtsstreits billigerweise alle Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen. Ein möglicher Aspekt ist dabei das sog. Veranlassungsprinzip. Grundlage für die Heranziehung des sogenannten „Veranlassungsprinzips“ als Ermessensgesichtspunkt ist die Vorstellung, dass die Kosten des Gerichtsverfahrens demjenigen aufzuerlegen sind, der Anlass für den Rechtsstreit gegeben hat (vgl. HLSG, Beschl. v. 30.01.1996, Az. L 4 B 24/95, juris-Rn. 8; Beschl. v. 13.05.1996, Az. L 5 B 64/94, juris-Rn. 23; Leitherer in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Auflage 2014, § 193, Rn. 12b). Es gilt also zu prüfen, ob es sich etwa um einen von vornherein vermeidbaren oder überflüssigen Prozess gehandelt hat und wem dieses ggf. zur Last zu legen ist. Insoweit kommt es insbesondere darauf an, ob im Verlaufe des Verwaltungsverfahrens der Leistungsträger seiner Amtsermittlungspflicht und der Leistungsberechtigte seiner Mitwirkungspflicht in hinreichendem Maße nachgekommen sind.

Bleibt bei der unstreitigen Beendigung des Rechtsstreits offen, ob der Leistungsträger Anlass für den Rechtsstreit gegeben hat, der Leistungsberechtigte sich jedoch letztendlich mit seinem ursprünglichen Begehren, wenn auch in geringerer Höhe durchsetzen kann, entspricht es in Abwägung des Erfolgs- und Veranlassungsprinzips im Allgemeinen billigem Ermessen eine Kostenquotelung vorzunehmen (vgl. insb. HLSG, Beschl. v. 07.02.2003, Az. L 12 B 93/02 RJ, juris-Rn. 18; Leitherer in: a.a.O., § 193 Rn. 12 ff.).

Das Gericht hält unter Beachtung dieser Grundsätze in Ausübung seines Ermessens eine Kostenübernahme durch den Beklagten für sachgerecht.

Gegenstand des am 30.04.2023 beim Gericht erhobenen Verfahrens war der Anspruch der Kläger auf Bescheidung ihres Widerspruchs vom 17.01.2023 gegen den Bescheid des Beklagten vom 09.01.2023. Mit Schreiben vom 08.02.2023 wurde dem Prozessbevollmächtigten der Kläger mitgeteilt, dass der Widerspruch an die Widerspruchsbehörde abgegeben worden sei. Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 15.09.2023 beschieden. Die Beklagte führte aus, dass die Untätigkeitsklage hätte verhindert werden könne, wenn zunächst eine Sachstandsanfrage gestellt worden wäre. Am 12.11.2023 wurde die Klage mit Schriftsatz vom 01.11.2023 zurückgenommen.

Mit Schriftsatz vom 26.02.2024 teilte der Beklagte mit, dass die Verwaltung seit dem Beginn des Krieges in der Ukraine und des hohen Flüchtlingsaufkommens einer vorübergehenden besonderen Belastung ausgesetzt sei, die zu einer Verzögerung in der Bearbeitung von Widersprüchen geführt habe. Der Beklagte habe, ohne Aufstockung des Personals, die vielen Herausforderungen als Landesverteilstelle für ganz Hessen mit täglichen Zuweisungen zur Entlastung der EAEH sowie Direktmeldungen aus den Gebietskörperschaften zu bewältigen. Für die Bescheidung der Widersprüche im AsylbLG Bereich sei ein Sachbearbeiter für den gesamten Regierungsbezirk zuständig. Eine Personalumschichtung sei aufgrund der vielen anderen Aufgaben innerhalb des Dezernates II 25, die die hohen Flüchtlingszahlen mit sich bringen würden, nicht möglich. Für die verspätete Bescheidung habe demnach ein zureichender Grund vorgelegen.

Der Prozessbevollmächtigte der Kläger verwies auf den Beschluss des Sozialgerichts Speyer vom 28.07.2023 unter dem Aktenzeichen S 15 AY 1/23.

Mit Schriftsatz vom 6. Dezember 2024 führte der Beklagte ergänzend aus, dass die besonderen Umstände des Einzelfalls hier darin begründet liegen würden, dass dem klägerischen Vertreter diese Situation und ihre Auswirkung auf die Bearbeitung der Widersprüche nach dem Asylbewerberleistungsgesetz bewusst gewesen sein mussten. Da er verschiedene Personen in einer Vielzahl von Verfahren gegenüber dem Beklagten vertrete, müsse ihm auch bewusst sein, dass es in diesem Bereich nur einen zuständigen Sachbearbeiter für den Regierungsbezirk gebe und dass eine zeitnahe Aufgabenerledigung zwischenzeitlich kaum mehr möglich war. Ihm dürfte deshalb auch bewusst gewesen sein, dass der zuständige Sachbearbeiter sich im Wege organisatorischer Maßnahmen bemühe, zumindest auf Nachfrage eines Widerspruchsführers zu prüfen, ob eine vorrangige Bearbeitung möglich sei. Aufgrund der vielen vom klägerischen Vertreter betreuten Verfahren erscheine es zumutbar, hier vor Einreichung einer Untätigkeitsklage eine kurze Sachstandsanfrage zu stellen.

Eine Untätigkeitsklage ist gemäß § 88 Abs. 1 S. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig, wenn (1) ein Antrag auf Vornahme eines Verwaltungsaktes vorliegt, (2) hierüber noch nicht entschieden worden ist und (3) seit Einlegung des Widerspruchs drei Monate verstrichen sind (sog Sperrfrist). Liegt ein zureichender Grund dafür vor, dass der beantragte Verwaltungsakt noch nicht erlassen ist, so setzt das Gericht das Verfahren bis zum Ablauf einer von ihm bestimmten Frist aus, die verlängert werden kann (Satz 2).

Die Voraussetzungen des Satzes 1 waren vorliegend erfüllt. Es lag auch kein zureichender Grund für eine abweichende Sachbehandlung nach Satz 2 vor. Zwar können kurzfristig auftretende personelle Engpässe durch vorübergehende Mehrarbeit nach Gesetzesänderungen oder einer Neuregelung von Zuständigkeiten einen zureichenden Grund darstellen. Dies ergibt sich aber nicht aus dem Vortrag des Beklagten. Keinen zureichenden Grund stellen Verzögerungen aufgrund dauerhafter Organisationsmängel dar, da es sich um Umstände handelt, die nicht im Einklang mit der Rechtsordnung stehen und nicht zulasten des Widerspruchsführers gehen dürfen. Die Verwaltung ist grundsätzlich verpflichtet, ihre Geschäftsabläufe mit der zugewiesenen personellen Ausstattung so zu organisieren, dass die gesetzlichen Vorgaben – und somit auch die gesetzliche Regelbearbeitungsfrist des § 88 – eingehalten wird (BeckOGK/Diehm, 1.11.2024, SGG § 88 Rn. 55-58, beck-online). Hierbei ist zu berücksichtigen, dass dem Beklagten die Überlastung des alleinigen Sachbearbeiters für eine gestiegene Anzahl an Widerspruchsverfahren bekannt ist. Der geltend gemachte Ukrainekrieg begann im Februar 2022 und kann schwerlich nach einem Jahr als kurzfristig zu berücksichtigender Umstand gewertet werden. Die fehlenden Möglichkeiten für eine Personalumschichtung bei dem Beklagten kann jedoch keine Auswirkungen auf die gesetzlichen Rechte der Kläger haben. Insbesondere statuiert sich heraus kein weiteres „ungeschriebenes“ Tatbestandsmerkmal, wonach der Antragsteller oder Widerspruchsführer zunächst eine Sachstandsanfrage stellen muss, bevor er Untätigkeitsklage erheben kann. Hierbei ist auch zu berücksichtigen, dass dem Prozessbevollmächtigten der Kläger mit dem Schreiben vom 08.02.2023 die Abgabe an die zuständige Widerspruchsbehörde mitgeteilt wurde. Hiermit wurde deutlich gemacht, dass der Widerspruch für entscheidungsreif angesehen wurde.

Vorliegend ist nicht ersichtlich, aus welchen Gründen die Einhaltung der Sperrfrist nicht möglich gewesen sein sollte. Diese Verzögerung muss sich der Beklagte anlasten lassen, sodass die Kostenauferlegung vorliegend sachgerecht ist.

Die Beschwerde gegen diesen Beschluss ist ausgeschlossen, § 172 Abs. 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG).


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